Stark wie hunderttausend Mäuse

16. September 2022. Wie ein Popmärchen entfaltet sich die neue Produktion von Thermoboy FK auf der Bühne. Die gewohnt lässig-tapsigen Körper zelebrieren eine utopische Gemeinschaft, fragen nach einem "female gaze" und emanzipieren sich nicht nur von Gendernormen.

Von Stephanie Drees

"Werevolves by the Sea" von Thermoboy FK © Daniel Weigel

16. September 2022. Jetzt sind sie also zu viert. Dabei hatten es sich die zwei Wesen im Haus am See doch schon gemütlich gemacht: "Fuchs", dessen (da geht's mit den Fragen schon los: Welches Pronomen brauchen wir hier eigentlich?) voluminös-wilde Kopf- und Gesichtsbehaarung eher an einen Wolf erinnert, hatte sich mit "Kätzchen" und einem ganzen Glas Smacks eingerichtet. Plötzlich entern zwei weitere Kreaturen die Szenerie. Von hinten rennen sie auf die Bühne, laufen über den angedeuteten Steg ins Ferienhaus der Fabelwesen (kurzes gedankliches Abschweifen der Rezensentin: Was wäre DAS für eine TV-Reality-Soap geworden, mit dieser Besetzung!) – und ziehen ein.

Eine Einladung

"Was haben wir hier?", fragt die Erzählerin, diese romantisch fabulierende und dann wieder trocken kommentierende Stimme aus dem Off. "Was tun sie hier in unserem Reich?" Doch es kommt zwischen den Vieren schnell zu einer freundschaftlichen, vielleicht gar zärtlichen Annäherung. Das Gepäck von "Reh" und "Iguana" wird abgestellt, das Kätzchen, ohnehin der einladend-zutrauliche Part in der Beziehungskonstellation, begrüßt die Neuen, lockt ins Anwesen. Es gibt Frühstückscerealien für alle im gemütlichen Wohnzimmer und Drinks stehen im Servierwagen bereit.

Werewolves 1 805 Daniel Weigel uEin Seehaus für Fabelwesen © Daniel Weigel

Es sei an dieser Stelle die vierköpfige Lebensgemeinschaft in "Werewolves by the sea" von Thermoboy FK nochmals in Gänze vorgestellt – schon, um etwas mehr Klarheit reinzubringen. Da wären: ein wolfsartiges Fuchswesen im Anzug und mit aufklappbarer Steampunk-Sonnenbrille. Ein Kätzchen im karierten Pyjama, anfangs hat es ein Klettergeschirr um die Taille gebunden. Iguana, eine Kreatur, die im grünen Ganzkörper-Strick-Overall einem handarbeits-begeisterten Leguan ähnelt. Und schließlich das Reh im weißen Kaftan mit Rüschen. Es trägt ein überdimensioniertes Brautkleid mit Reptilien-Rückenkamm, und eine riesige, verspiegelte Sonnenbrille bedeckt sein Gesicht.

Identitätsperformance meets Selbstironie

Wer schon mal bei einem Abend der "Thermoboys" war, weiß um ihr (selbst)-ironisches Spiel mit Männlichkeits- und Identitätsperformances. Kaleidoskopisch werden Bruchstücke aus Sein und Schein auf der Bühne zusammengesetzt, Realitätskategorien und ontologische Ordnungen aufgebrochen. Die animalischen Wesen haben es ihnen sowieso angetan, schon in ihrer Version von Camille Saint-Saëns' musikalischer Suite Karneval der Tiere war die Verkörperung des Nicht-Menschlichen ein Kommentar auf die menschliche Versessenheit nach Geschlechtergrenzen, der Einzäunung von Identität. Ein anderes Mal tänzeln die Thermoboys durch ihre Version von Jane Austens Stolz und Vorurteil und setzen sich und ihre Körper immer wieder auf poetische Art physischen Herausforderungen aus. Spielen mit sich, mit den Anderen auf der Bühne, mit den Dynamiken des Blicks. Anschauen und angeschaut werden – der Zoo der Begehrlichkeiten.

Werewolves 2 805 Daniel Weigel uAnschauen und angeschaut werden – wie sieht der "female gaze" aus? © Daniel Weigel

"Werewolves by the sea" passt gut in diese Tradition, spielt aber vor allem mit der Umkehr des berühmten "male gaze" – der männlichen, heterosexuellen Perspektive – in einen "female gaze". Denn die Stimme der (so scheint es zunächst) weiblichen Erzählerin beschreibt und kommentiert die Wesen auf der Bühne, dirigiert sie vielleicht gar. Wer spricht da? Eine mythologische Figur, eine aus dem Totenreich, eine Hexe – oder ein Tier? Vielleicht eine Spinne.

Während im einsehbaren Seehaus-Wohnzimmer die Masken und Kostümierungen nach und nach fallen und sich das Ganze in eine muntere, nonverbale Sitcom verwandelt (es wird durch den umliegenden Wald gegeistert, sie verteilen großflächig Smacks hinter dem Haus, das Kätzchen backt Waffeln, sie schwimmen im angedeuteten See und kuscheln ihre Aggressionen weg), erzählt die Stimme aus dem Off, wie sie selbst bei Wölfen und Spinnen aufgewachsen ist.

Utopisches Moment

Johanna Maxl hat den Text für diesen Abend geschrieben, durch den die Thermoboys mit gewohnt lässig-tapsiger Körpersprache wandeln – und wir, das Publikum, dürfen somnambul mitwandeln. Natürlich liegt darin, wie so oft bei der Gruppe, auch ein utopisches Moment: Die stummen Figuren werden zu Held:innen eines Popmärchens und das gemeinsame Leben emanzipiert sie nach und nach von ihrer Erzählerin. Anfangs posieren sie noch, wenn Iguana für jeden einmal das Bast-Rollo an der Front des Hauses hochzieht und den Blick auf halbnackte Körper freigibt. Im letzten Drittel übernimmt das Kätzchen mit grandioser Lip-Sync-Performance und großer Geste die Erzähler:innenposition. Es spinnt tonnenweise Seemannsgarn aus Gruselwolle über eine Person aus der Nähe des See-Idylls, die verschwunden ist – dabei war sie doch (ähnlich den Freund:innen auf der Bühne) "stark wie ein Tier, ein Bär, oder zehn Wölfe, oder ein Dutzend Oktopusse. Oder hunderttausend Mäuse".

Es klingt vielleicht abgedroschen, ist aber affirmativ gemeint: Man muss sich auf all das einlassen. Dieser Abend ist langsam, er ist verwunschen, er ist in seeblaues Licht getaucht. Und einfach sehr schön.

Werewolves by the sea
von Thermoboy FK
Text: Johanna Maxl, Bühne: Stefan Gottwill, Camia Riveros, Kostüm: Merle Richter, Musik: Felix Scheer, Simon Geuchen, Künstlerische Assistenz Marie Kraja.
Von und mit: Dennis Dieter Kopp, Felix Scheer, Jasper Tibbe, Simon Vorgrimmler, Susanne Wagner, Sprecherin: Marie Dziomber.
Premiere am 15. September 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.td.berlin

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