Wenn Trolle trauern

17. September 2022. Eine Reise an die Grenzen verspricht Christopher Rüpings Adaption des Films von Ali Abbasi "Border". An die Grenzen von Stadt und Land, von Kultur und Natur, von Mensch und Fabelwesen. Eine bezwingend spielerische Unternehmung.

Von Valeria Heintges

"Borders", inszeniert von Christopher Rüping am Schauspielhaus Zürich © Orpheas Emirzas

17. September 2022. Zu Beginn ist da dieses kleine Unbehagen. Maja Beckmann spielt Maja Beckmann, die sich verabschiedet. Nach drei Jahren in Zürich geht sie jetzt nach Hamburg. Denn sie sei, sagt sie, nie richtig in Zürich angekommen.

Da sitzen wir nun – vollgepackt die große Tribüne in der Schiffbau-Halle – und unten zelebriert Maja Beckmann ganz allein ihren Abschiedsabend. Doch irgendwann hakt man. Was erzählt sie da? Sie sei in "Homo Faber" zu sehen gewesen? Aber den gab es doch gar nicht – ihr letztes Stück war Wilhelm Tell. Und ob wir uns erinnern würden, wie sie in Früchte des Zorns mit dickem Schwangerschaftsbauch gespielt habe? Aber sie war doch gar nicht schwanger. Oder narrt die Erinnerung?

Tina, das Fabelwesen

Und dann, nach langen, ungeheuer herzlich und sympathisch zelebrierten Reden und einem ausgiebig betanzten "Time to say good-bye", lädt Maja ihre Nachbarin und Freundin Tina zu sich ein. Sie wohnten beide ganz am Rande der Stadt Zürich, schon fast im Wald. Tina sitzt im Publikum und muss mit hinauf auf diese Bühne, die riesige, hölzerne, leere Fläche, die Peter Baur in die Halle gebaut hat. Während Maja Beckmann redet und quatscht und babbelt, über jede peinliche Schweigepause und jedes empfindsame Zuhören hinweg, sagt Tina nur: "Ja". Oder "Nein". Oder "Ich weiß nicht". Die ganze Frau – ein einziges Unwohlsein. Sie will nicht dazu gehören, sie will einfach nur weg. Und dass wir sie unentwegt betrachten, das ist ihr, das zeigt sie mit jeder Nicht-Mimik und jeder Nicht-Gestik, ein einziges Gräuel.

Border3 805 Orpheas Emirzas Fabulieren und balancieren: Maja Beckmann © Orpheas Emirzas

Wieder ist Christopher Rüping in der Schiffbau-Halle gelandet, wieder hat er sich – wie schon in "Einfach das Ende der Welt" nach Jean-Luc Lagarce, einen Film zur Folie genommen. Dieses Mal ist es "Gräns" von Ali Abbasi, wie er im schwedischen Original hieß, oder "Border", wie der Theaterabend benannt ist. Ein komplexer, hochgradig irritierender, aber ungeheuer faszinierender Streifen über Grenzen im mehrfachen Sinne. Denn Tina, die über einen außerordentlichen Geruchssinn verfügt, arbeitet am Zoll, an der Grenze. Aber sie lebt auch an der Grenze, ist Troll, Außenseiterin und ein Zwitterwesen zwischen Frau und Mann. Und an der Grenze von Menschen- und Naturwelt, zwischen Stadt und Land, zwischen Realität und Fabelwesen.

Waldelfen, Zwerge, Kobolde

In Zürich spielt Wiebke Mollenhauer diese Tina. Sie braucht keine monströse Maske, kein falsches Gebiss wie Eva Melander im Film. Sie braucht nur einen überdimensionalen Vokuhila-Haarschnitt und einen Gesichtsausdruck, der mit stoisch nur annähernd beschrieben ist. Es ist ein unverwandter Blick, ein innerlich Gefrorensein, ein totales Sich-an-sich-Reißen, das ihre Tina auszeichnet und sie von der ganzen Welt trennt.

Die Welt, das sind in diesem Fall wir, das Publikum. Wir sitzen auf unseren Stühlen, während vor uns der Boden aufbricht, sich die Bodenplatten zu riesigen Bäumen aufbäumen (als wäre das Wort dafür erfunden worden), der Boden sein erdiges, naturhaftes Inneres nach außen kehrt. Der Herr des Waldes, der Elf, ist Benjamin Lillie. Im fliegenden, wallenden Umhang taucht er auf, von Nebel umhüllt, mit noch flusigeren Fusselhaaren bedeckt als Mollenhauers Tina. Er singt säuselnd hoch, begleitet von stampfenden Beats. Die künstliche, künstlerische Welt wird hinfort geweht. Übrig bleibt: die Welt der Trolle. Der Kobolde, Zwerge, Gnome. Der Elf macht Tina klar, dass sie kein Mensch sei, sondern ebenfalls ein Troll. Daher die Narbe am Steißbein, daher die Lust, Käfer zu essen, daher die Liebe zum Wald und der außerordentliche Geruchssinn.

Border4 805 Orpheas Emirzas Auf eine Kippe mit dem Waldelf: Benjamin Lillie und Wiebke Mollenhauer © Orpheas Emirzas

Es ist die Dualität, die das Regieteam interessiert. Der – heillose, unheilbringende – Widerspruch zwischen Mensch und Natur, zwischen Stadt und Land. Oder ist es sogar ein Antagonismus, ein kämpferisches Gegeneinander? Auch zwischen Dazugehören und Neu-Dazustoßen, zwischen Alteingesessenen und Zuzügern, zwischen Integration und Assimilation. Die Trolle können nur überleben, wenn sie tricksen; das Fremdsein, das Anderssein wird ihnen ausgetrieben. Ihre Kinder werden ihnen weggenommen und zur Adoption freigegeben. Also müssen sie sich die Kinder der Menschen holen und ihnen die eigenen unterjubeln.

Das Theater triumphiert

"Es ist ja nur ein Märchen", sagen sie gegen Ende. "Es ist ja gar nicht wahr." Und: "Dann ist ja alles gut.» Ist es das? Kläglich und verzweifelt klingt Maja Beckmanns "Aber das tut man doch nicht", als Tina sich für all die verbalen Verletzungen rächt. Da sitzt Beckmann längst unter uns, dem Publikum. Und Tina und ihr Elf ganz weit weg hinten, im Nebel, auf der anderen Seite.

Bravourös jongliert Rüping mit den Mitteln des Theaters, macht die Nachteile des einen Mediums mit den Vorteilen des anderen wett. Doch merkt man der Inszenierung an, dass sich in der letzten Probewoche Thomas Wodianka so stark verletzte, dass die Arbeit ohne ihn zu Ende geführt werden musste. Dem jedenfalls mag die Tatsache geschuldet sein, dass den Spielenden zuweilen das Gegenüber zu fehlen scheint und sich manche Szenen ein wenig in die Länge ziehen. Dennoch ein starkes Stück – und was für Schauspielerinnen!

 

Border
nach dem Film von Ali Abbasi
Inszenierung: Christopher Rüping, Bühnenbild: Peter Baur, Kostümbild: Ulf Brauner, Musik: Jonas Holle, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Maja Beckmann, Wiebke Mollenhauer, Benjamin Lillie.
Premiere am 16. September 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Border" sei "kein Abend grosser Dramatik und Ergriffenheit, aber das Stück birgt feinen Humor, atmosphärische Poesie, geistreiche Pointen und viel Raum für die schauspielerische Verve der beiden Protagonistinnen", so Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (online 17.9.2022). Die Magie des Abends lebe von Überraschungen. Zurück bleibe "ein zufriedenes Publikum".

Alexandra Kedves vom Tages-Anzeiger (18.9.2022) beobachtet an diesem Abend, wie die "Chose, lustvoll und gespickt mit Höhepunkten, in eine Lagerabend-Beliebigkeit hineindiffundiert.“ Regisseur Christopher Rüping habe seinen Akteuren "die Freiheit gegeben, die selbstreflexiven Kantengänge mal auf Zehenspitzen, mal brachial zu absolvieren. Und dank der phänomenalen Präsenz der drei fühlt man sich dabei bestens unterhalten, wenn auch nicht wirklich berührt, derweil einem das Programmheft die ethischen Ansagen dazu souffliert."

In der Süddeutschen Zeitung schreibt Egbert Tholl (18.9.2022): "Das Tolle an dieser klugen, auch mit enormem Schauwert ausgerüsteten Aufführung ist, wie Rüping die völlig freien, grandiosen Schauspielerinnen Beckmann und Mollenhauer in ihrem Tun miteinander verschleift, wie die Erzählung von einem Wesen, das seine Märchenhaftigkeit nicht ausleben darf, verwoben wird mit einem Nichtankommen im Alltag." Tholl resümiert zu diesem Abend weiter: "Vielleicht sollten wir alle mehr Trolle sein, weniger Mainstream, dann geht es auch der Natur besser. An diesem Abend ist das Publikum von dieser Idee begeistert."

Rüping und die drei Spieler:innen interesserten die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, die Risse im Alltag und in der Bühnenwirklichkeit, formuliert es Andreas Klaeui im SRF (19.9.2022). Auch "wenn das Schmuggel-Spiel zwischen Authentizität und Fiktion übers Ganze einen gewissen Etüden-Charakter nicht vollständig abzulegen vermag, zeigt es doch, was Theater kann und ist: die Erschaffung einer Welt aus dem Bühnenmoment."

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