Gas-Trilogie - Staatsschauspiel Dresden
Das heiße Herz der Erde
18. September 2022. Ein aufgeladener Begriff, "Gas", die Frage nach "Fortschritt" und ein exzentrischer Autor: Sebastian Baumgarten inszeniert Georg Kaiser am Staatsschauspiel Dresden und fächert die aktuelle Relevanz des Themas auf.
Von Michael Bartsch

18. September 2022. Haben wir etwas gelernt in den vergangenen einhundert Jahren, muss man sich nach Georg Kaisers "Gas-Trilogie" am Dresdner Staatsschauspiel fragen. Die Wiederentdeckung des nach dem Ende des Ersten Weltkriegs meistgespielten deutschen Dramatikers bestärkt eher Zweifel am Kapitalismus als Basis einer alleinseligmachenden Gesellschaftsordnung. Aktuelle imperiale Implikationen müssen gar nicht explizit übersetzt werden.
Wiederentdeckung
Gas – derzeit ein aufgeladener Begriff, weit über den Energieträger hinausreichend. Ein Mythos, ein Fetisch, ein Symbol, ein politisches Druckmittel, eine Waffe. Das ist es in der, vor hundert Jahren geschriebenen "Gas-Trilogie" Georg Kaisers, im Grunde auch schon. Es steht synonym, ja metaphorisch für die Produkte des Homo Faber: erzeugt unter Ausbeutung der Natur und der abhängigen Produzenten zwecks Erzielung eines materiellen Gewinns.
Man muss nicht einen Putin am Gasventil imaginieren, um von den frappierenden Gegenwartsparallelen und der Weitsicht des Autors eingenommen zu sein. Was ist Fortschritt und was brauchen wir wirklich zum Leben? Wendet sich die pseudoreligiöse Anbetung von Technologie nicht längst in selbstvernichtender Weise gegen die Materialismusgläubigen?
Insofern ist die Wiederentdeckung Georg Kaisers durch das Dresdner Staatsschauspiel ein Gewinn an sich. 2015 kamen "Die Koralle" und die beiden "Gas"-Teile schon einmal in Göttingen auf die Bühne. Ansonsten aber gilt der einst meistgespielte und vielseitigste Autor als vergessen. Das Aufführungsverbot durch die Nazis 1933 und sein Tod kurz nach Kriegsende mögen dazu beigetragen haben.
Georg Kaiser als Brecht-Vorläufer
1878 in Magdeburg geboren, wuchs Kaiser nicht nur in Klassenkämpfe hinein, sondern auch in Reformbestrebungen der Überwindung des Radikalkapitalismus zu einem Kapitalismus "mit menschlichem Antlitz". Man denke nur an die Gartenstadt- oder Hygienebewegung. Zur "Gas"-Entstehungszeit gegen Ende des Ersten Weltkrieges dominierten expressionistische Ausdrucksformen. Dieses Sprachfeuer kommt in der Dresdner Inszenierung von Sebastian Baumgarten allerdings erst in der letzten Viertelstunde spürbar zum Tragen.
Zukunft oder Vergangenheit im Bühnenbild von Thilo Reuther © Sebastian Hoppe
Von Anfang an aber fühlt man sich an Brecht erinnert. Wenn ein selbst aus der Not, aus dem Prekariat aufgestiegener "Milliardär" schizophren zwischen eiskaltem Ausbeuter und empathischem Sozialromantiker pendelt, steht dafür exemplarisch der "Gute Mensch von Sezuan": "Es ist nicht meine Weltordnung, es ist DIE Weltordnung" erklärt er im "Gas"-Stück. Und veranstaltet einen barmherzigen "goldenen Donnerstag" für die Belegschaft.
Bei Kaiser spaltet sich ein Doppelgänger ab, später sein Sohn. Die exemplarische Vorführung kapitalistischer Grundzüge verbindet beide Dramatiker. Was Wunder, Brecht soll in Kaiser einen Vordenker seiner eigenen Ideen gesehen haben.
Der Glauben an das ewige Gas
Die Weiterungen verwirren in ihrer Komplexität etwas, was auch an der komprimierten Dresdner Fassung liegen kann. In ihrer Bildgewalt sprechen aber die Szenen für sich. Der erste "Gas"-Teil gleicht einem quasikommunistischen Experiment der Sozialutopien. Die kapitalistische Produktionsweise wird aber nicht aufgehoben, sondern durch Mitarbeiterbeteiligung, wie es neudeutsch heißt, effektiviert. In dieser Phase des Stückes dröhnen die aktuellen Bezüge geradezu, ohne konkret angesprochen zu werden. "Das Gas wird nie fehlen", begleitet der Text die Erhebung der Weltenergiebasis zur Religion.
Ein menschengemachter Glaube, aus dem folgerichtig die katastrophale Ernüchterung folgt. Eine gewaltige Explosion legt das Gaswerk lahm. An der Figur des Ingenieurs entzündet sich der Streit um die Konsequenzen. Die Leitung (die Elite, wenn man so will) schwenkt Richtung Renaturierung zurück, während die Belegschaft im ungebrochenen Technikglauben die Produktion so schnell wie möglich fortsetzen will. Wie heute beim anhaltenden Kohlestreit.
Eindringlichkeit statt Exzentrik
In Szene gesetzt hat das der in Dresden gern gesehene Sebastian Baumgarten auf der Hauptbühne des Schauspielhauses. Zerrissene vieleckige Flächen formen eine Kuppel über den rund 200 Zuschauern. Die größte der drei, wohldosiert mit vielen Originalbildern eingesetzten, Videowände spielt mit dem Blick in den Zuschauerraum. Überlebensgroß erscheint anfangs auf ihr der Milliardär als Schattenriss. Auf der schmutziggrauen Spielfläche liegt Bruchgestein, sprießen später sogar Blumen paradiesischer Träume.
Gas – verheißungsvolle Technik oder todbringender Stoff? Szene mit Sarah Schmidt, Yassin Trabelsi, Thomas Eisen, Eva Hüster. © Sebastian Hoppe
Die sieben vertraut tadelsfreien Spieler bewegen sich als Gruppe viel im Bühnenraum, kommen aber auch zu beeindruckenden Monologen. Gleich zu Beginn etwa, wenn das Gas als "heißes Herz der Erde" oder die beiden Hauptsätze der Thermodynamik erklärt werden. Das Phänomen der Entropie etwa, das man auch mit fortschreitender Verschlackung übersetzen könnte, oder mit der Notwendigkeit fortgesetzter Energiezufuhr, damit Systeme nicht kollabieren.
Der Grundton der Kostümierung (Ulrike Gutbrod) wechselt mit den drei Teilen. Blau in "Gas 1" und militärisches Grün im letzten Teil, als aus dem Wohlstandsmotor Gas das vernichtende kriegerische Giftgas wird. Die Auftritte erfolgen sehr genau getimt, ja effektvoll ohne billige Affekthascherei. Georg Kaiser galt auch als ein expressiver Schreiber, oft gehetzt, ein Exzentriker sowieso. Diese Dresdner Inszenierung aber trifft genau das optimale Tempo, adäquat der Rezeptionsfähigkeit des ausgesprochen aufmerksamen Publikums bei diesem komplizierten Stoff.
Das blieb nämlich auch nahezu vollzählig eine reichliche halbe Stunde länger und lauschte der Diskussion zwischen Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) und dem Philosophen, Historiker und Politologen Moritz Rudolph. Zum Krieg und seinen Auswirkungen auf unser heutiges Wohlstandsmodell. Dulig distanzierte sich ein weiteres Mal von seinem Regierungschef Michael Kretschmer und dessen Forderung, den Krieg gegen die Ukraine "einzufrieren". "Gibt es noch ein Prinzip, das global gilt?", fragte er und bezeichnete Kretschmers Äußerungen als "naiv". Ein Brückenschlag mitten hinein in unsere politische Gegenwart an einem klug gestrickten Premierenabend.
Gas-Trilogie
von Georg Kaiser
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Dramaturgie und Diskussionsmoderation: Jörg Bochow.
Mit: Eva Hüster, Sarah Schmidt, Franziskus Claus, Thomas Eisen, Jannik Hinsch, Raiko Küster, Yassin Trabelsi und Thomas Mahn.
Premiere am 17. September 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Pathos komme nicht auf, schreibt Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (18.9.2022 | €). Doch nicht immer sei das Schauspiel spritzig und körperlich. "Aber Langweile kommt durch die surrealen Bildwelten und skurril überspitzten Szenen nicht auf." Auch bleibe der Abend nicht selbstverliebt bei sich oder liefere ein simples Schwarz-Weiß-Modell.
"Eine ganz erstaunliche Wiederentdeckung" nennt Matthias Schmidt bei MDR Kultur (20.9.2022) die Gas-Trilogie. Hundert herausfordernde, anregende Theaterminuten hat der Kritiker erlebt, "eine sehr ansehnliche Inszenierung". Baumgarten, der Spieler unter den Regisseuren, nutze formal expressionistische Mittel, ein Klavierspieler begleite das Geschehen wie im Stummfilm. Das Ensemble werfe sich förmlich hinein in die schweren Texte. "Das Spannende daran ist, dass selbst kleinste Denkanstöße schon genügen, manchmal sind es nur einzelne Worte, um unsere heutige Situation wieder zu erkennen, die einerseits komplett anders ist, aber mit den gleichen Mechanismen verbunden ist – Umweltzerstörung, Energiekrise, Krieg." Assoziative Filme dehnten Kaisers Stoff über die Zeit: es würden Pipelines gebaut, man erkenne z.B. Nord Stream 2. "Und so wird, ohne dass explizit tagesaktuelle Debatten geführt werden, das Thema eben doch verlinkt zu dem, was uns jeden Tag durch den Kopf geht."
"Effektvoll, aber ohne billige Affekthascherei" inszeniere der in Dresden gern gesehene Regisseur Sebastian Baumgarten den kompliziert geschachtelten Stoff, schreibt Michael Bartsch in der taz (22.9.2022). Sieben ausgezeichnete Spielerinnen und Spieler bewegten sich als Gruppe, kämen aber auch "zu beeindruckenden Monologen". Im Mittelteil dröhnten die aktuellen Bezüge, ohne konkret angesprochen zu werden: "'Das Gas wird nie fehlen', klingt es nach Erhebung der Energie Welt zur Religion."
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Ergänzend sei bemerkt, das Material von Kaiser wurde neben Göttingen auch an einigen weiteren deutschen Bühnen in jüngster Vergangenheit bearbeitet.
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