Chor der Gerade-noch-Lebendigen

7. Oktober 2022. Amir Gudarzi nimmt mit "Wonderwomb" die Gleichzeitigkeit der Dinge ins Visier – und wurde mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatik ausgezeichnet. Im Stück steht Öl sinnbildlich für die kommerzielle Ausbeutung des Planeten. Eva Langes Uraufführung erobert sich den überwältigenden Text mit chorischer Energie. Jetzt ist der Abend bei den Kleist-Festagen in Frankfurt / Oder zu sehen.

Von Michael Laages

"Wonderwomb" von Amir Gudarzi in der Regie von Eva Lange am Hessischen Landestheater Marburg © Jan Bosch

18. September 2022. Auf den Weltuntergang ist derzeit Verlass. Theaterstück um Theaterstück fügen Autorinnen und Autoren der Apokalypse der Gegenwart Kapitel um Kapitel hinzu – und erzählen in immer wieder neuen, aber stets auch auf dasselbe hinaus laufenden Geschichten von der Zukunftslosigkeit, davon, wie gründlich und grundsätzlich die Menschheit abgewirtschaftet habe; bald wird der geschundene Planet sich irgendwie von ihr befreien. Und vermutlich wird sie niemand ernstlich vermissen. Thomas Köck formuliert das sinngemäß so im jüngst beim Kunstfestfest in Weimar und mit dem Frankfurter Schauspiel uraufgeführten Text "Solastalgia": Vielleicht könnte ja der Mensch die Natur doch noch retten, irgendwie – aber die Natur werde den Menschen auf gar keinen Fall mehr vor dem Untergang wollen. Warum auch … Schluss, aus, fertig.

Weltschmierstoff Öl

Ist bei Köck der Baum um Baum zerstörte Wald der Indikator für das absehbare Ende von allem und allen, so besinnt sich der iranischstämmige Wiener Dramatiker Amir Gudarzi auf einen anderen Stoff, an und mit dem die Menschheit final scheitern wird: auf's Öl, den lange Zeit wichtigsten fossilen Energieträger der Erde. Öl ist praktisch in allem, was uns umgibt, und die Zahl der Produkte, die mit und aus dem allgegenwärtigen Rohstoff entstehen, ist praktisch unendlich. Auch darum sortiert Gudarzi die Geschichten um den "Wonderwomb", den rätselhaft-wunderbaren Überlebens-Schoß der Welt, nicht in Szenen, sondern nach "Produkten".

Und noch ein weiteres Strukturmuster sorgt für immerhin ein bisschen Überschaubarkeit im generell extrem überwältigenden, tendenziell auch überfordernden Text. Zwei Erzählerinnen und ein Erzähler kommen von Beginn an zum Einsatz; Agathe McQueen hat sie in Glitzergold-Kostüme wie für Show-Moderationen gesteckt in der Marburger Uraufführungsinszenierung von Co-Intendantin Eva Lange. Fünf Spielerinnen und Spieler vom kleinen, fast komplett auf der Bühne agierenden Marburger Ensemble repräsentieren tätiges Leben, fünf weitere die ungezählten Opfer, die die kommerzielle Ausbeutung des Planeten bereits gefordert hat über die Jahrhunderte, eingeschlossen die Restbestände aus Jahrmillionen, deren versunkenen Seelen erst die Entstehung und Entwicklung des Weltschmierstoffs Öl zu verdanken war.

Wonderwomb1 805 JanBoschBrodelndes Leben und versunkene Seelen: das Marburger Ensemble im Kostümbild von Agatha McQueen auf der Bühne von Carolin Mittler © Jan Bosch

Die massivste strukturelle Herausforderung in Gudarzis Text aber (die bei weniger mutigen Rezipienten durchaus auch zu der skeptischen Einschätzung führen könnte, dass "Wonderwomb" eigentlich überhaupt nicht aufführbar sei, bestenfalls als Hörspiel, als Oratorium ohne festen Raum) ist das forcierte Bemühen um die Gleichzeitigkeit der Dinge, die parallel geschehen. Einfaches Beispiel: Während irgendwo im fernen Tadschikistan nach neuen Öl-Quellen gebohrt wird, bohren Ärztinnen und Ärzte eines Krankenhauses im Irak mit medizinischem Werkzeug im Körper einer Frau herum. Und wie die Patientin selbstverständlich stark blutet (und die Operation wohl nicht überlebt), so schießt auch aus der Ölquelle plötzlich nur noch Blut hervor. Patientin Erde wird auch nicht überleben – die ungezählten toten Seelen im Chor aus der Finsternis, versammelt als "schwarze Einheit" alles Gewesenen, werden die Menschheit, wie sie ist, demnächst in sich aufnehmen. Oder sich einfach einen anderen Ort suchen, falls es den geben sollte. Zu retten jedenfalls ist da niemand mehr und nichts.

Ein Wust aus Wörtern

Eva Lange unternimmt gar nicht erst den Versuch, Gudarzis Lamento der Gleichzeitigkeiten szenisch aufzudröseln und so zu verdeutlichen – wie auch, wenn plötzlich eine Figur aus dem Chor der Gerade-noch-Lebendigen, ehedem Polizist, vermutlich in Wien, nun als umgeschulter Sicherheitsdienstler auf einem Moskauer Flughafen gegen Ausländer hetzt. Wer wirklich Szenen destillieren wollte aus Gudarzis Text-Konvolut, würde vermutlich schnell scheitern. Immer öfter, und zum Schluss vollständig, setzt sich das Kollektiv durch, auch im chorischen Sprechen. Dann gelangen Text und Aufführung zu wirklich großer Energie.

Schwächen hat der Wust aus Wörtern natürlich auch – wie intensiv der Autor auch die Parallelitäten beschwört in der Gleichzeitigkeit von allem, etwa von Drohnen und Vögeln, so regelmäßig verrennt er sich in sprachlichen (und überwiegend völlig nutzlosen) Albernheiten; wenn er etwa selber wie mit dem Seziermesser einzelne Worte in die Bestandteile zerlegt und die Schnipsel dann neu zusammensetzt. Erkenntnisstiftend ist das nicht, erinnert eher (und wenig überzeugend) an Wort-Witzeleien nach Jelinek-Manier. Um es aber mit denen aufzunehmen, agiert Gudarzi noch nicht pointiert genug und überfordert sich selbst. Geschenkt. Langes Aufführung gelingt es ja, schnell über diese gelegentlichen Stolpersteine hinweg zu stürmen.

Marburg kämpft und erobert

Carolin Mittlers Bühne ist ein schwarzes Verließ. Rundum ist die kleine Bühne im Marburger Theater mit schwarzen Plaste-Bahnen abgehängt; werden sie gegen Ende herunter gerissen und aufeinander gehäuft, ist sehr gut zu ahnen, dass auch sie Öl-Produkte pur sind. Zentral über der Bühne hängt die Leinwand für Rebecca Riedels teilweise sehr starke Videos, die etwa aus Vogel-Perspektive Körper im Öl-Gesudel zeigen. Die Belüftung des Projektors ist allerdings laut genug, um stillere Text-Stellen komplett zu übertönen. Wie es übrigens generell ein deutlich spürbares Verständlichkeits-Gefälle gibt im höchst engagiert mit dem Text kämpfenden Marburger Ensemble – nochmal geschenkt. Dieser Text würde auch andere Bühnen bis an die eigenen Grenzen treiben, und manchmal darüber hinaus. Marburg kämpft – und erobert am Spielzeitbeginn einen Text für sich, der die Apokalypse auf schmerzhafte Weise herbeimenetekelt: hier und für's erste ins Theater.

 

Wonderwomb
von Amir Gudarzi
Uraufführung
Regie: Eva Lange, Bühne; Carolin Mittler, Kostüme: Agathe MacQueen, Video: Rebecca Riedel, Musik: Kathrin Vellrath, Dramaturgie: Christin Ihle.
Mit: Saskia Boden-Dilling, Sven Brormann, Mechthild Grabner, Lisa Grosche, Fanny Holzer, Jorien Gradenwitz, Eike Mathis Hackmann, Ben Knop, Simon Olubowale, Anna Rausch, Silvia Schwinger, Ulrike Walther, Mia Wiederstein.
Premiere am 17. September 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.hltm.de

Kritikenrundschau

Im scheinbaren Chaos sei jede Bewegung, jedes Wort, jede Aktion zur richtigen Zeit am richtigen Platz, lobt Carsten Beckmann in der Oberhessischen Presse (20.9.2022). "Die Welt mit all ihren schwärenden Wunden zu zeigen, ohne ein Theaterpublikum in kollektive Depression zu stürzen, ist ambitioniert." Aber Amir Gudarzi gelinge es.

"Statt des Wunderschoßes ('Wonderwomb') scheint das Drama eher eine Wundertüte, in die der in Wien lebende Dramatiker alles gepackt hat, was ihn umtreibt und beschäftigt", schreibt Christina Tilmann auf moz.de (7.10.2022). Die Inszenierung von Eva Lange schlage beherzt Schneisen durch die wuchernden Assoziationsräume. "Und sie führt die Hauptstränge der persönlichen Geschichten in durchaus spannender Parallelführung aufeinander zu." Der Kritikerin hält das Stück offenbar dennoch für etwas überladen.

 

 

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