Im Winter nur mit Bierhandschuh

24. September 2022. Während der Pandemie hat das Theater Regensburg bei Anna Jelena Schulte ein Stück bestellt. Herausgekommen ist mit "Zukunftsmusik" ein spartensprengendes "Schauspiel über Regensburger Wahrheiten", dessen viele Fäden Antje Thoms in ihrer Uraufführung zusammenhält.

Von Wolfgang Johannes Karl

24. September 2022. Nein, zufrieden kann ein Theaterkritiker nicht sein mit diesem Stück – zufrieden will "Zukunftsmusik" einen aber auch gar nicht zurücklassen. Wie ein Orakelspruch steckt Anne Jelena Schultes Text voller Wahrheit, sagt dem Theaterbesucher aber gleichzeitig, dass er sein Hirnkästchen schon gefälligst selbst anstrengen soll.

Aus der Zukunft in die Tristesse

Ein Komponist aus der Zukunft (Thomas Mehlhorn) reist zurück in den dritten Pandemiewinter, da er für ein historisches Museum eine Komposition über diese "trostloseste" aller Zeiten schreiben soll. Eine Auftragsarbeit, die eine Parallele zur Arbeitsweise der Autorin zieht: Sie ist selbst in einer arg trostlosen Lockdownphase aus Berlin nach Regensburg gekommen, um hier mit Menschen über deren Zukunftsvisionen zu sprechen und daraus eben dieses Theaterstück als Auftragsarbeit zu formen. Das Resultat: ein knallbuntes Assoziationsfeuerwerk, ein forderndes Lehrstück, eine absurde Komödie.

Zukunftsmusik 01 805 Pawel Sosnowski uMichael Haake, Guido Wachter, Silke Heise © Pawel Sosnowski

Da in Regensburg Bier sehr oft eine Rolle in Gesprächen spielt, gibt Schulte ihrem Protagonisten einen Beutel lokales Bier in die Hand und den Bierhandschuh. Bierhandschuh? Das ist ein gestrickter Flaschenhalter an der Handflächeninnenseite eines Handschuhs, in den man sein Bier stecken und mit Menschen auf Distanz, aber gemeinsam im Freien trinken kann. Perfekt für den nächsten Pandemiewinter.

In der Choral-Disco

Der Zeitreisende schaut nun mit einem "Peep-Eye", einer anderen Zukunftsgerätschaft, durch den Bierhandschuh wie durch ein Kaleidoskop in die Köpfe anderer Menschen: einer älteren Person, eines Erwachsenen und eines Kindes. Er bringt sie dazu, Zukunftsvisionen zu entwickeln, die dann die Akte des Stückes bilden, das ihn zu seiner Komposition animieren soll. Die Musik hört das Publikum durch die drei Sänger Constantin Brandscherdt, Marian Wagner und Michael Weigert unter der Leitung des tatsächlichen Komponisten Arno Waschk.

Der hat sich der Regensburger Tradition angenommen und Versatzstücke des Textes in dreistimmige Choräle verwandelt, die als Kirchenmusik durch die Regensburger Domspatzen ja auf eine über 1000-jährige Tradition zurückblicken. So ergibt sich an einer Stelle das Bild einer Diskokugel, deren Strahlen durch die dicke Luft des Saales eine Kathedrale aus Licht über Bühne und Zuschauerraum erschaffen. Majestätisch dreht sich die Kugel über einem menschenleeren Dancefloor, begleitet nur von erhabenem Choralgesang.

Ein Rasierwasser namens Resistance

Die Zukunftsvisionen verstören mitunter. Ein Schützenmeister (Gerhard Hermann) stolpert in einer über eine vermeintliche Leiche und bittet seine Freunde (einen Jäger: Michael Haake, einen Kürschner: Michael Heuberger und eine Geigenbauerin: Franziska Sörensen), mit ihm die Leiche zu verstecken, damit "die Rachsüchtigen in der Stadt nicht Jägern und Schützen, den Legalen die Waffen wegnehmen". Denn schließlich seien für die Morde ja die "Illegalen" – gemeint sind Waffen – verantwortlich. Folgender Dialog entspinnt sich zwischen den älteren Herrschaften, die miteinander den leblosen Körper im Wald spazierentragen: "Warum ist jetzt die Leiche im Wald auf einmal so schwer?“ "Resistance!" "Was?" "Ja, so heißt mein Rasierwasser, ich weiß auch nicht, warum mir das jetzt gerade einfällt. Wahrscheinlich, weil Resistance so schwer ist."

Zukunftsmusik 02 805 Pawel Sosnowski uImmer der Leiche nach: Michael Haake, Franziska Sörensen, Gerhard Hermann, Michel Heuberger, Anna Kiesewetter (liegend) © Pawel Sosnowski

Dialoge wie dieser, der Bierhandschuh, das ausdrucksstarke Mienenspiel in heiligem komödiantischen Ernst, Choräle, in denen über Muschelahorn und Rosmarinöl gesungen wird, all das macht einen großartig absurden Assoziationsraum auf. Das Publikum lacht über den makabren Tanz um die eigenen Blasen, in die sich Neo-Barockmenschen, Bienenköniginverehrer und Ameisenmenschen aufsplittern. Diese wollen sich mit Ameisensäure die Schädeldecke porös ätzen, um so einen offenen Geist zu erreichen. Kinder wollen Erwachsene im Fluss taufen, damit sie klares Wasser und saubere Luft wieder zu schätzen wissen. Auf die Frage des geschundenen triefnassen Erwachsenen (Guido Wachter) nach dem Grund antwortet die Kinderpräsidentin (Anna Kiesewetter), ohne mit der Wimper zu zucken: "Wir kommen aus einer Welt, in der wir für eine Zukunft erzogen wurden, die vor unseren Augen zerstört wird." Die Erwachsenen, sie müssen in der Vision des Kindes in einer Diktatur der Zukunft erst geläutert und dann in Chorproben umerzogen werden.

So denken Kinder

All das könnte zu viel für ein Stück sein, die Produktion könnte krachend an der eigenen symbolischen Aufladung scheitern, sich in einer Art groteskem Karneval verlieren – aber dank Antje Thoms' Inszenierung fällt nichts auseinander. Die Bühne verlängert die Architektur des Antoniussaales selbst: Zuschauerraum und Bühne verbinden sich, man denkt, man sei mitten im Geschehen. Einmal trauert die Kinderschar um Kiesewetter um die eigene Zukunft, kann aber das Grundgefühl nicht in Worte fassen. Darum beginnen sie gemeinsam mit gefalteten Händen betreten zu murmeln. So denken, so sind Kinder. Schulte ist hier ganz einfühlsam im Text, was die Darsteller in quietschbunter Kindlichkeit und Spielfreude zurückgeben.

Dass kein Kleidungsstück farblich zum anderen passt, weil sich die Kinder in dieser Visionswelt ja selbst anziehen müssen, zeigt nur, mit wie viel Liebe zum Detail auch die Ausstattung um Florian Barth gearbeitet hat. So ergibt sich eine Traumreise in die Ängste und Befürchtungen der Regensburger, die voller Wahrheitsfacetten steckt – als lebendiges Wimmelbild, absurde Komödie, Abgesang auf eine sich selbst zerstörende Kultur.

Zukunftsmusik. Schauspiel über Regensburger Wahrheiten
von Anne Jelena Schulte
Regie: Antje Thoms, Ausstattung und Video: Florian Barth, Licht: Wanja Ostrower, Dramaturgie: Daniel Grünauer, Musikalische Leitung und Komposition: Arno Waschk.
Mit: Thomas Mehlhorn, Constantin Brandscherdt, Jürgen Hiermaier, Leonhard Pernpeintner, Marian Wagner, Michael Weigert, Julius Weleba, Hedy Grotz, Arno Waschk, Gerhard Hermann, Michael Haake, Michael Heuberger, Franziska Sörensen, Anna Kiesewetter, Silke Heise, Guido Wachter, Katharina Solzbacher, Enzo Brumm, Maximilian Herzogenrath, Natascha Weigang, Kathrin Berg, Joscha Eißen, Johanna Kunze, Jonas Julian Niemann, Sophie Juliana Pollack, Max Roenneberg, Lilly-Marie Vogler, Paul Wiesmann.
Premiere am 23. September 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theaterregensburg.de

Kritikenrundschau

In der Mittelbayerischen Zeitung (26.9.2022) berichtet Katharina Kellner von Monologen, die "komisch wie entlarvend" seien an diesem Abend. Die Inszenierung hinterlasse Eindruck, meint die Kritikerin – ob man sie mag mag oder nicht. "Sollte dieses Stück den Ton setzen für die Zukunftsmusik des neuen Ensembles – Uraufführungen, die auf kluge Weise die Konfliktlinien der Gegenwart sezieren und sie zugleich szenisch süffig umsetzen: Dann ja, bitte gerne mehr davon", resümiert die Rezensentin zufrieden.

Diese Inszenierung stehe auf dem Fundament eines starken Textes, meint Rezensent Wolfgang Johannes Karl in der Regensburger Zeitung (26.9.2022). Zuschauerraum und Bühne verbinden sich für den Kritiker: "Man denkt, man sei mitten im Geschehen". Die Autorin des Stückes sei "ganz einfühlsam im Text, was die Darsteller in quietschbunter Kindlichkeit und Spielfreude zurückgeben". Antje Thoms inszeniere "mit sanfter Hand". Dieser Abend ist für Karl "eine Traumreise in die Ängste und Befürchtungen der Regensburger, die voller Facetten der Wahrheit steckt". Auch ist er: "lebendiges Wimmelbild, absurde Komödie, Abgesang auf eine sich selbst zerstörende Kultur" – wenn man den Kritiker fragt.

 

Kommentare  
Zukunftsmusik, Regensburg: Musik alt oder neu?
Großartige Leistung der drei Sänger. Mich hätte allerdings interessiert, ob die Choräle musikalische Neuschöpfungen waren, oder ob hier "nur" moderne Texte in alte Original - Kompositionen montiert wurden?
Zukunftsmusik, Regensburg: Antwort
Werter Spatz vom Dach, danke der Nachfrage, und schön, dass es Ihnen gefallen hat! Die Kompositionen sind alle speziell für diese Uraufführung entstanden. Beste Grüße, Arno Waschk
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