Orestie - Theater Münster
Leid und Streit der Atriden
1. Oktober 2022. Dass die "Orestie"-Textfassung für diesen Abend von drei Dramatiker:innen bearbeitet wurde, nämlich Sivan Ben Yishai, Miru Miroslava Svolikova und Maren Kames, ist schon ein Hingucker. Sie geben Iphigenie, Kassandra und Elektra in der Inszenierung von Elsa-Sophie Jach zusätzliche Stimmen und erweitern die Perspektive: diese Frauen wissen, wie grausam über sie verfügt wurde.
Von Kai Bremer
1. Oktober 2022. Diese "Orestie" ist die erste große Schauspiel-Premiere nach dem Wechsel der Schauspielleitung, nachdem Katharina Kost-Tolmein bereits Anfang des Jahres die Intendanz übernommen hatte. Schon die Ankündigung, dass der Abend in der Übersetzung von Peter Stein zusammen mit drei neuen Texten von Sivan Ben Yishai, Miru Miroslava Svolikova und Maren Kames gezeigt wird, legte die Latte auf Wettkampfhöhe. Die Texte der drei Autorinnen widmen sich Iphigenie, Kassandra und schließlich Elektra. Sie reflektieren ihre Bedeutung sowohl für das Familiengefüge der Atriden als auch metatheatral für die Dramaturgie der "Orestie" selbst, wodurch die patriarchalen und nicht selten auch misogynen Strukturen und Handlungsmuster der Tragödie vielfältig kenntlich werden. So heißt es schon in Iphigenies eindrucksvollem Eröffnungsmonolog von Sivan Ben Yishai: "Ich bin die, die gestorben ist, bevor die Geschichte losging / Ich bin der Zündfunke, der Firestarter."
Diese Iphigenie (Clara Kroneck) bringt ihre eigene Funktion innerhalb des tragischen Handlungsgefüges auf den Punkt, und so wird aus der braven, opferbereiten Tochter eine reflektierte und vor allem zeitgenössische Frau, die zwar ihrer Geschichte nicht zu entkommen vermag, aber zumindest zeigt, wie grausam über sie verfügt wurde. Remsi Al Khalisi, der neue Leiter der Schauspiel-Sparte in Münster und Dramaturg der Produktion, baute zudem munter Anspielungen auf Heiner Müller und Eugene O'Neill in Aischylos' Tragödie ein.
Die verschiedenen Textschichten korrespondieren mit der Bühne von Marlene Lockemann. Vom Schnürboden senken sich kreisförmige Vorhänge herab, die Orte vor und im Haus Agamemnons (Ansgar Sauren) andeuten und matrjoschka-mäßig ineinander verschachteln – und symbolisch immer wieder neue Schichten der Familiengeschichte freilegen. Überzeugend sind zudem die von Schüler:innen gespielten Erinnyen, die ungemein präzise chorisch sprechen und perfekt choreographiert sind.
Iphigenie, Kassandra, Elektra und ihre Bedeutung
Nur ist ein analytischer Zugriff auf die "Orestie" nichts Neues, auch nicht der literarisch-kommentierende Hinweis auf den Umstand, dass den Schwestern Iphigenie und Elektra noch nicht die Bedeutung zukommt, die sie im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte einnehmen. Man kann also fragen, ob der Aufwand, der für die Textgestaltung betrieben wird, überhaupt gerechtfertigt ist. Dass sich diese Frage in der Inszenierung aber nur am Rande stellt, liegt an der Inszenierung von Elsa-Sophie Jach.
Die Regisseurin lässt den Chor, den jeweils die Schauspieler:innen bilden, die gerade keine Einzelfigur verkörpern, weniger als seriösen Akteur, sondern eher als eine Versammlung von Witzfiguren auftreten. Auch sind Kassandra (Julius Janosch Schulte), Orest (Pascal Riedel) und der Wächter (Alaaeldin Dyab) vor allem dafür da, mit putzmunteren Grimassen und potz-erstaunt aufgerissenen Augen das tragische Treiben zu begleiten.
Die Kostüme von Johanna Stenzel unterstreichen diesen Effekt entschieden. So tragen Aigisth (Agnes Lampkin) und Elektra (Katharina Brenner) wuchtige rote Puffärmel, die jeder Goldoni-Inszenierung gut zu Gesicht stünden. Durchbrochen wird der Commedia-dell'arte-Eindruck lediglich von Klytaimnestra (Nadine Quittner), die Puppenköpfe über ihren Brüsten trägt, und von Iphigenie, deren Haarkranz ebenfalls Puppenköpfe bilden. Das sorgt für Eindruck – allerdings ohne dass klar wird, ob hier auf Ibsens Nora oder Chucky die Mörderpuppe angespielt wird.
Wenig kritische Perspektiven
Das Potential der anspruchsvollen Textcollage wird durch das clowneske Spiel und die komödienhafte Ausstattung aber nicht nur verharmlost. Vor allem wird im Verlauf des Abends immer unklarer, ob sich Jach für das tragische Moment der "Orestie" überhaupt interessiert. Die Gewaltspirale der "Orestie" wird ausgelöst, weil Agamemnon seine Tochter Iphigenie tötet. Hier durch Ben Yishais starken Text zu zeigen, dass Aischylos’ Fokus auf Agamemnons tragischen Konflikt zwischen Niederlage im Kampf gegen Troja und Tötung der eigenen Tochter eine typische männliche Sicht ist, die Iphigenie ignoriert, ist mehr als berechtigt. Aber kritische Perspektiven wie diese verpuffen fortwährend. Sie werden umgehend wieder abgeräumt, weil die Männer immer wieder auf Witzfiguren reduziert werden.
So erschließt sich im Verlauf des Abends immer weniger, warum die Frauen erst Agamemnon und dann Orest überhaupt noch zu Wort kommen lassen, da diese kaum mehr als zwei barocke Großmäuler sind. Wer gar gehofft hatte, dass die Inszenierung Agamemnons Feldzug gegen Troja, seine Ermordung Iphigenies und die Verschleppung Kassandras ins eigene Haus auf den Krieg in der Ukraine bezieht, der dürfte zumal enttäuscht nach Hause gegangen sein.
Orestie
nach Aischylos, von Sivan Ben Yishai (mit dem Übersetzer Tobias Herzberg), Miru Miroslava Svolikova und Maren Kames
Inszenierung: Elsa-Sophie Jach, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Johanna Stenzel, Musik: Julian Stetter, Dramaturgie: Remsi Al Khalisi.
Mit: Katharina Brenner, Alaaeldin Dyab, Clara Kroneck, Agnes Lampkin, Nadine Quittner, Pascal Riedel, Ansgar Sauren, Julius Janosch Schulte. Erinnyen: wechselnd Schüler:innen des Gymnasiums Paulinum, Münster
Dauer: 3 Stunde 10 Minuten, eine Pause
Premiere am 30. September 2022
www.theater-muenster.com
Kritikenrundschau
Insgesamt "sehr enttäuscht" von Elsa Sophie Jachs Inszenierung, die er als "sehr comichaft" beschreibt, zeigt sich Stefan Keim in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (30.9.22). Sähe man von einigen der aktuellen Einschübe durch die drei beauftragten Gegenwartsautorinnen einmal ab, so der Kritiker, "weiß ich überhaupt nicht, wohin das Theater damit will". Die Ironie sei oft "billig", vieles habe eine gewisse "Banalität". Keims Resümee zum Intendanzneustart in Münster: "Das Ensemble scheint talentiert zu sein, aber richtig gesehen habe ich es noch nicht."
"Zwei Auftragswerke der Autorinnen Sivan Ben Yishai und Maren Kames lenken den Blick auf diese zentralen, im eigentlichen Drama jedoch am Rande stehenden Frauen, die den Konflikt mit ihren Eltern erleiden. Hinzu kommt der Text 'Kassandras' von Miru Miroslava Svolikova, der vor der Pause die Figur der trojanischen Seherin zur Repräsentantin aller warnenden Stimmen vor Krieg und Elend macht. Dramaturgisch passt das bestens", schreibt Harald Sauerland in den Westfälischen Nachrichten (online 2.10.2022, 16.30 Uhr). Der Abend funktioniere in der ersten Hälfte deutlich besser. Regisseurin Elsa-Sophie Jach könne nach der Ermordung Klytaimnestras durch ihren Sohn Orest den ohnehin sehr theorielastigen "Eumeniden"-Teil nichts Zwingendes mehr anfügen und es erschöpfe sich der Reiz des zu Beginn so überraschende Regiezugriff.
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Eine ganze Generation von zukünftigen Frauen, die in Rosa gekleidet, noch immer vor allem dazu angehalten wird jede Bitte, Frage oder auch jeden Anspruch mit einem Service-Lächeln zu servieren. Die erleben wird, wie immer noch die gesamte Mental-Load der Lebenssituation, Partnerschaft und Kindererziehung erst an Ihren Müttern und dann an ihnen hängen bleibt.. die sich mittlerweile viel zu häufig fragt, ob es einfach leichter wäre, als Mann zu leben, weil sie nicht in die Frauenbilder unserer Gehenwart passt. Die haben sicher mehr gesehen. Und das letzte, was ich mir gestern gewünscht habe ist, dass jetzt auch noch die Erzählung vom „echten Ukraine-Krieg“ (wieder so eine Männergeschichte) da vorkommt. Bloß weil der Jäger vom Blut trieft, hat er nicht mehr Kalorien ans Feuer geschleppt, als die Sammlerin. Es wird Zeit, der Sammlerin zu lauschen und den Jäger auf den stillen Stuhl zu setzen. Die Mädchen auf der Bühne, das Ensemble, so ein Werk machen Mut. Mehr davon bitte.