Das grausame Panorama des Krieges

3. Oktober 2022. Welche Erkenntnisse lassen sich heute aus dem Werk des Dissidenten Wassili Grossman gewinnen, das - in den 1950er Jahren verfasst - erst in den 1980ern, in Westeuropa, erscheinen konnte? Armin Petras hat den Tausendseiter über den Zweiten Weltkrieg, die Sowjetunion und den Stalinismus für die heutige Bühne bearbeitet.

Von Andreas Schnell

"Leben und Schicksal" in der Regie von Armin Petras am Theater Bremen © Jörg Landsberg

3. Oktober 2022. Es donnert gewaltig am Goetheplatz – sehr oft, sehr laut. Das Theater Bremen gibt auf seiner Website gar eine Triggerwarnung aus: "Die Inszenierung enthält Darstellungen von Krieg und Gewalt." Kein Wunder, kreist doch dieser Abend um die Schlacht um Stalingrad, bei der mehr als 700.000 Menschen ums Leben kamen. Zugleich markierte diese Schlacht den Wendepunkt des Kriegs zwischen Hitlers Deutschland und der Sowjetunion.

Tausend Seiten Krieg und Stalinismus 

Wassili Grossman – in Berdytschiw, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, aufgewachsen – war als Kriegsreporter nicht zuletzt für seine Berichte aus Stalingrad berühmt. Sein Roman "Leben und Schicksal" setzt sich auf rund 1000 Seiten mit dem Krieg und dem Stalinismus auseinander, mit den Gulags und Konzentrationslagern, mit dem Antisemitismus auf beiden Seiten, mit Pogromen und Säuberungen. 1959 fertiggestellt, wurde das Werk erst 1980, lange nach Grossmans Tod 1964, in Westeuropa veröffentlicht. In die historischen Geschehnisse bettet Grossman eine ganze Reihe individueller Schicksale, in denen sich die Konflikte der Zeit spiegeln, die sich nicht in der ewigen binären Logik des Kriegs erschöpfen.

Leben1 Jörg Landsberg uKonflikte der Zeit, die sich nicht in der ewigen binären Logik des Krieges erschöpfen: Susanne Schrader, Balaraj Yogarajan, Robert Kuchenbuch, Alexander Swoboda, Karin Enzler auf Peta Schickarts Bühne © Jörg Landsberg

Aus den vielen Erzählsträngen des Romans hat Armin Petras eine immerhin noch dreieinhalbstündige Bühnenfassung destilliert, in deren Mittelpunkt Grossmans literarisches Alter ego steht: der ganz seiner Wissenschaft lebende Physiker Viktor Strum (Alexander Swoboda), der wegen seiner kriegswichtigen Forschungen seinen wissenschaftlichen Stolz ebenso wie sein Jüdischsein überlebt. Genosse Stalin selbst ist es, der in einem der schönsten Momente dieses Abends per Telefon seine Wertschätzung mitteilt – was Petras in eine drollige Liebesszene münden lässt, an der wohl auch Loriot seine Freude gehabt hätte. "Ich habe Sehnsucht nach dir", bricht es es aus ihm heraus, bevor er sich hochmotiviert, aber hilflos an seine Frau Ljudmila (Fania Sorel) wirft, die, mit ihm auf der Auslegeware gelandet, die Leidenschaft des Physikers in physische Leidenschaft zu wenden hat. 

Planspiele in den Kommandozentralen

Ansonsten geht es eher düster zu. Vor, auf und unter einem Pfahlbau mit brutalistischer Fassade, auf der immer wieder Kriegsbilder flackern, entfaltet sich das grausame Panorama des Kriegs, von den heroischen Partisan:innen im legendären Haus 6/1 in Stalingrad bis zu den Planspielen in den Kommandozentralen.

Leben2 Jörg Landsberg uTief dringt der Krieg in die Körper ein: Balaraj Yogarajan, Timos Papadopoulos (hinten), Robert Kuchenbuch, Ferdinand Lehmann in Armin Petras' Inszenierung © Jörg Landsberg

Das ist immer dann schön, wenn das Ensemble die psychologischen Tiefen auslotet, die unter der Last des Krieges hervorbrechen. Tief dringt er in die Körper ein, wenn Viktors Frau Ljudmila (Fania Sorel) immer wieder strauchelt, einknickt, taumelt; er zerreißt die Menschen, wie Ljudmilas Schwester Genia Schaposchnikowa (Karin Enzler), die den glühenden Kommunisten Krymov wegen seiner Gefühllosigkeit verließ und mit Major Nowikow (beide von Robert Kuchenbuch gespielt) ein Verhältnis anfängt, um schließlich doch zu dem derweil inhaftierten Krymov zurückzukehren.

Theaterblut und Lärm

Musikalisch gerahmt, akzentuiert und hinterlegt wird "Leben und Schicksal" immerhin sehr schön von Miles Perkin (Kontrabass und Gesang) und Johannes Haase (Violine) mit russischer Folklore sowie Arrangements von Werken von Schostakowitsch, Arvo Pärt und Strawinsky.

Allerdings verlässt sich die Inszenierung über weite Strecken zu sehr auf Donner und Rauch, auf Theaterblut und Lärm. Worüber leider nicht viel klarer wird, was dieser Abend eigentlich sonst noch mitzuteilen hat. Die aktuellen Bilder vom Krieg sind zu gegenwärtig, als dass wir daran erinnert werden müssten, wie Staaten im Zweifelsfall bei der Verfolgung ihrer nationalen Interessen seit jeher über Leichen gehen. Vielleicht ließe sich am ehesten mitnehmen, dass im Krieg gewissermaßen kein Außen existiert, dass es in ihm unmöglich ist, nicht politisch zu sein, unmöglich auch darauf zu pochen, dass die Logik der Physik die Logik von Marx und Engels schlägt, wie Strum postuliert. Aber dafür muss man hier durchaus einiges über sich ergehen lassen.

 

Leben und Schicksal
Nach Wassili Grossman in einer Bearbeitung von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne und Zeichentrick: Peta Schickart, Kostüme: Cinzia Fossati, Musik: Miles Perkin, Live-Video: Rafael Ossami Saidy, Dramaturgie: Stefan Bläske, Licht: Norman Plathe-Narr.
Mit: Julischka Eichel, Karin Enzler, Robert Kuchenbuch, Ferdinand Lehmann, Siegfried W. Maschek, Timos Papadopoulos, Susanne Schrader, Fania Sorel, Alexander Swoboda, Maria Tomoiaga, Matti Weber, Patrick Balaraj Yogarajan. Musiker: Johannes Haase, Miles Perkin.
Premiere am 2. Oktober 2022
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Armin Petras habe aus dem Roman eine dreieinhalbstündige Collage geschnitten, "die ein ungemein packender Theaterabend ist, getragen von einem Ensemble in Bestform", schreibt Iris Hetscher im Weser Kurier (4.10.2022). Acht unterschiedliche Orte visualisieren sich auf der Bühne im Großen Haus. "Das politisch Monströse ist in der Kunst immer gut im Grotesken aufgehoben – auch ansonsten streut Petras in die überwiegend düstere Stimmung immer wieder gallig-humorige Momente ein." Fazit: "Das alles ergibt eine runde, manchmal schwer auszuhaltende Inszenierung, die lange nachwirkt."

Eine Aufführung, die auf den ersten Blick sehr aus der Zeit gefallen scheint, so Michael Laages im DLF Kultur (3.10.2022). Beim zweiten, genaueren Hinschauen werde ein mitreißendes Stück Theater draus.

Unzählige Einzelschicksale verwebe Grossmanns Roman zu einem riesigen Erzählkosmos, erstaunlicherweise funktioniere das auch auf der Bühne, so Katrin Ullmann in DLF Fazit Kultur vom Tage (2.10.2022). Wie ein Episodenfilm zur Stalin-Hiltler-Ära funktioniere der Abend, kurzweilig und klug erzählt, sogar "überraschend kurzweilig angesichts des Stoffs".

"Als roter Faden taucht immer wieder die jüdische Mutter von Victor Strum auf, die ihren Abschiedsbrief an Viktor vorträgt. Die einzelnen Episoden des Stückes handeln von Liebe und Denunziation, von Heldentum und Angst, von Ideologie und Wahrheitssuche. Und das alles unter den Bedingungen der grausamen Schlacht von Stalingrad", beschreibt es Christine Gorny auf Bremen 2 (3.10.2022). "Ziemlich real" werde der Krieg dargestellt mit Flackerlicht, Pulverdampf und ohrenbetäubende Detonationen. Fazit: Keine simple Geschichtsstunde, sondern eine überzeugende Umsetzung, die zeige, wie böse der fanatische Glaube an das vermeintlich Gute enden kann.

Technisch gelinge die Adaption des rund 1.000-seitigen Romans verblüffend gut, findet Jan-Paul Koopmann in der taz (7.10.2022) und treffe zudem auf ein erstklassiges Bremer Ensemble. "Spitzenmäßiges Theater" sei das. "Aber während auch die anderen gekonnt die Untiefen ihrer je zahlreichen Rollen ausloten, drängt sich mehr und mehr die Frage auf, was all die Mühen und all die Kunstfertigkeit nun eigentlich sollen." Ärgerlich seien die Unschärfen in Petras’ Ideologiecollage. Einmal werde Siegfried W. Maschek als linientreuer Kommunist von SS-Schurkin Karin Enzler belehrt: "Selbst wenn die Sowjets den Krieg gewännen, 'werden wir zwar untergehen, aber in ihrem Sieg weiterleben'. Was ist das nun? Zum Tanzen gebrachte Totalitarismustheorie? Ein Theater gewordenes Hufeisen? Ein fieser Foltertrick der Nazis innerhalb der Erzählung? Oder doch nur eine windschiefe Pointe?"

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