Der Trost des Erzählens

8. Oktober 2022. Hanoch Levins Stück basiert auf drei Erzählungen von Anton Tschechow, die von Tod und Sterben handeln. Intendant Knut Weber hat die deutschsprachige Erstaufführung mit eigens komponierter Musik und einem eingespielten Ensemble gekonnt ruhig inszeniert.

Von Christian Muggenthaler

"Requiem": Renate Knollmann, Chris Nonnast, Ralf Lichtenberg, Richard Putzinger, Peter Reisser © Jochen Klenk

8. Oktober 2022. Komm einmal her, Theater, und erzähl mir eine Geschichte! Das kannst du doch so gut! Und wie: Am Stadttheater Ingolstadt kommen in der deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks "Requiem" von Hanoch Levin gleich mehrere Geschichten auf die Bühne, die auf drei Erzählungen von Anton Tschechow basieren. So wird das Theater wieder einmal zur Bastion von Worten, Sätzen und Szenen, die einen mitnehmen: ganz woanders hin, wo aber so viel Fragen des Menschseins verhandelt werden, dass man dann doch wieder ganz bei sich selbst ankommt. Im Fall von "Requiem" ist es der Tod, der hier in den Lebensgeschichten einiger Menschen im alten Russland immer mehr Raum und Gewicht bekommt und sich anschmiegt als diejenige sehr finale Lebensphase, die gewisser kommt als das nächste Weihnachten.

Der Tod kommt beiläufig

Da nimmt es nicht Wunder, dass sich die gesamte Handlung um einen alten jüdischen Sargmacher dreht und seine Frau, die er Jahrzehnte lang nur geschurigelt und geprügelt hat. Er ist ergrimmt, weil in seinem kleinen Städtchen Pupka die Leute ums Verrecken nicht sterben wollen: Levin hat in seinen Text einiges an Humor eingebaut, der gar nicht mal schwarz und zynisch ist, sondern eher hell und tröstlich. Lachen und Weinen bringen Linderung, merkt man schnell. Und zwischen Lust und Trauer pendelt nun die ganze Inszenierung von Ingolstadts Intendanten Knut Weber, der die eineinhalbstündige Geschichte derart durchtaktet, dass keine Minute unbestaunt zerrinnt, kein Erzählstrang zerläuft, keine Figur nicht berührt.

Der Tod kommt erst einmal schnell und fast beiläufig: Dem Alten stirbt die Frau. Dann wird ihm das Sterben immer geläufiger. Er erinnert sich an das gemeinsame tote Kind. Ein junges Mädchen muss ihren Säugling bestatten, weil eine böse Herrschaft ihn mit heißem Wasser verbrüht hat. Ein alter Kutscher klagt um seinen gerade gestorbenen Sohn – aber niemand hört ihm zu außer seinem Pferd. Ein griesgrämiger Krankenpfleger lacht nur, wenn die Alten nicht sterben mögen; die Todesengel, die jedes Ableben begleiten, sind charmant und eher gefiederte Lockvögel; und nur zwei Huren und ihre Freier glauben, sich ein paar Batzen Leben einzuhandeln, wenn sie Lust, Hallo und Libido zum Leitstrahl ihres Lebens machen. Die werden sich schön anschauen!

Unter Feen der Erinnerung

So schwingt der Abend immer hin und her zwischen einem Leben, das immer fragiler wird, und dem Tod, der schön langsam auch zu trösten vermag und Erkenntnisse liefert wie die, wie und dass man sein Leben auch besser hätte verbringen können. Weber lässt die Geschichten souverän fließen, lässt sie zu Atem kommen auf einer Bühne (Ausstattung: Susanne Hiller), die geprägt ist von einer sich quer erhebenden Felswand und vielen Glühbirnen als Sterne, die die Nahtstelle sind zwischen zwei Welten. Kostüme und Schminke sind immer ein bisschen überzeichnet, ostentativ bildhaft, damit man beständig weiß: Hier hockt man eher in einem Märchen unter Feen der Erinnerung als in realismusballernder Tausend-Dinge-Sagen-Wollen-Dramaturgie unter der Quecksilberdusche; hier herrscht jene entspannte Ruhe des Erzählens, aus der satt und sanft Energie fließt.

Requiem 2 Jochen Klenk uRalf Lichtenberg, Angelika Ebert © Jochen Klenk

Hoch und Tief des Lebens

Damit das so kurzweilig wird, wie es ist, setzt Weber beständig wiederkehrende Elemente ein, die den Erzählstrang gliedern und rhythmisieren. Da ist vor allem die Musik (von Olivier Truan), die viel Klezmer-Anteile und Osteuropa-Swing enthält und naturgemäß schon mal für Rhythmus und den Hintergrund für anrührende Gesangspassagen sorgt. Dann gibt es immer wieder knallige Kutschfahrten, die den Alten in Verbindung mit der Huren-Freier-Gaga-Gesellschaft bringt und von einem Herrn mit knallrotem Pferdekopf gezogen wird. Stop und Go wird dabei stets in körperliche Satzzeichen auf der Bühne übersetzt – man freut sich jedes Mal darauf. Ebenso wie auf die Engel, die ihrerseits den Rhythmus des Trosts beigeben: Fluglotsen ins Jenseits.

Auch das Felswand-Bühnenbild setzt diesen Rhythmus fort, lässt beständig das Hoch und Tief des Lebens spüren. Die Schauspieler*innen an diesem Abend – sehr viele davon sind schon lang im Ensemble – beweisen, was aufeinander Eingespieltsein vermag. Ralf Lichtenberg etwa nimmt als Hauptfigur des Abends die imponierende Ruhe und Rhythmik des Abends gekonnt auf – und alle anderen mit. Allmählich kristallisiert sich hier auch heraus, was man dem Tod und all dem Leid und all der Trostlosigkeit entgegensetzen kann, das Levins und Tschechows literarische Erfindungen durchzieht wie Herbstnebel die Strickjacke: Es ist die Fähigkeit, über all dies sprechen zu können. Es ist der Trost des Erzählens. Es ist die Möglichkeit, dem allem Geschichten entgegenstellen zu können. Auch das ist eine Utopie, die im Theater zu Hause ist: reden und zuhören. Komm einmal her, Theater, und erzähl mir eine Geschichte!

Requiem
von Hanoch Levin nach drei Erzählungen von Anton Tschechow
Deutsch von Doron Hamburger und Frank Weigand
Regie: Knut Weber, Musik: Olivier Truan, Musikalische Leitung: Ariel Zuckermann und Olivier Truan, Ausstattung: Susanne Hiller, Choreografie: David Williams, Dramaturgie: Isabel Ilfrich.
Mit: Ralf Lichtenberg, Manuela Brugger, Richard Putzinger, Angelika Ebert, Sascha Römisch, Chris Nonnast, Renate Knollmann, Ulrich Kielhorn, Jan Gebauer, Peter Reisser.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater.ingolstadt.de

Kritikenrundschau

Renate Knollmann, Chris Nonnast und Peter Reisser singen mitunter "so berührend und zärtlich, dass einem ganz leicht wird ums Herz", findet Anja Witzke im Donaukurier (10.10.2022). "Präzise. Kraftvoll. Auf hohem Energielevel spielen sie alle, überzeugen durch überraschende, auch überraschend komische Rollenfindungen", betont die Kritikerin die schauspielerische Leistung des Ensembles. "Requiem" erzähle vom Menschsein, vereine das Derbe mit dem Zarten, das Sehnen mit der Verbitterung, das Schamlose mit dem Empfindsamen. "Trost spenden dann die Erinnerung, die Musik – und Theaterabende wie diese", ist sich die Autorin sicher.

 

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