Theater aus der Zeitmaschine

8. Oktober 2022. Blick in den Elfenbeinturm: Drinnen tobt die Liebe durchs Wohlstandsidyll, draußen die Cholera, die den Mob gegen die Eliten aufstachelt. Mateja Koležnik erzählt mit Maxim Gorki von der Stimmungslage vor Revolutionen. In einer Theatersprache, die man selten findet.

Von Martin Krumbholz

Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" in der Regie von Mateja Koležnik in Bochum © Matthias Horn

8. Oktober 2022. Das wunderschöne, liebevolle, detailgerechte, eine verwinkelte Zimmerflucht darstellende, möbel-, türen- und fensterreiche, mit dem Wort "realistisch" nur unzureichend beschriebene Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt zeigt bereits unmissverständlich an, wohin an diesem Bochumer Theaterabend der Hase läuft: Da wird nicht ein alter Schinken aus der Zeit der russischen Revolution gegen den Strich gebürstet oder besserwisserisch ins Hier und Heute gezerrt – jedenfalls nicht ganz. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik bleibt sozusagen auf halber Strecke stehen: Sie begnügt sich damit, Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" in die frühen Sechzigerjahre zu ziehen, ebenfalls, wenn man so will, eine (winzige) Epoche vor einer (winzigen) Revolution. Das Kostümbild schwelgt entsprechend in unansehnlichen Braun- und Rotbraunfacetten.

Besetzungscoups

Von Crossgender- oder Doppelbesetzungen will Koležnik nichts wissen. Das personenreiche Stück ist konsequent durchbesetzt, und wenn der Autor sich den Luxus erlaubt, das Dienstmädchen nach drei Akten durch ein anderes Dienstmädchen zu ersetzen (was ihn ja nur einen Federstrich kostet), dann bietet die Regisseurin eine weitere Schauspielerin auf, und zwar als Look-alike der ersten, was schon ziemlich lustig ist. Apropos Besetzungscoup: Wenn man so sagt, Besetzungen seien oft die halbe Miete, muss man schlicht feststellen, dass in Bochum die halbe Arbeit am grünen Besetzungstisch gemacht wurde (Dramaturgie: Angela Obst). Das Casting ist so perfekt, dass geradezu jede einzelne Rolle noch einen Tick besser, dynamischer oder raffinierter besetzt ist, als man es sich beim Lesen vorstellt. Und das kriegt natürlich nicht jedes Theater hin.

Des Professors einzige Liebe: Protoplasma

Aber worum geht es überhaupt in diesen "Kindern der Sonne"? Das kinderlose Ehepaar Protassow hat sich in einem recht bequemen Leben eingerichtet: Pawel widmet sich seinen chemikalischen Experimenten und stänkert das Haus voll, Jelena geht mit dem (in sie verliebten) Künstler Wagin spazieren. Pawels Schwester Lisa, die an nervösen Anfällen leidet, mag den Tierarzt Tschepurnoi, und er mag sie, aber zusammenkommen können sie nicht. Tschepurnois Schwester Melanija, eine reiche Witwe, will sich den Chemiker kaufen, schließlich vernachlässigt der seine Frau, aber das klappt schon deshalb nicht, weil Pawel gar nicht kapiert, dass die Witwe scharf auf ihn ist: Er interessiert sich nun mal nur für Protoplasma. Draußen tobt die Cholera, und am Schluss wird der Mob, der glaubt, die Epidemie sei eine Erfindung der Gebildeten, Protassows Haus capitolsartig stürmen.

Kinder3 Matthias Horn uEin Hauch von Rock'n'Roll: Victor IJdens und Dominik Dos-Reis © Matthias Horn

Gorki, der "Bittere", behandelt das sogenannte Volk also nicht besonders nett. Im Original setzt ein Handwerker die erregte Menge einfach mit einer Holzlatte schachmatt, das lässt Koležnik weg. Gorki geht mit seinen Figuren ja ein wenig robuster um als sein Zeitgenosse, Freund und Rivale Tschechow, aber er nimmt sie nicht weniger scharf unter die Lupe.

Seine Pointe ist zunächst einmal die: Es kommt bei all den Techtelmechteln zwischen den Handelnden zu keinerlei Ehebrüchen, ob glücklich oder nicht, beschäftigt oder müßig, alle bleiben mit ihren Frustrationen allein. Jelena (Anna Blomeier) gibt ihrem Verehrer schon mal einen Kuss, aber letztlich liebt sie den zerstreuten, weltfremden und tatsächlich nicht unsympathischen Protassow (Guy Clemens), der zum Beweis dafür, wie sehr er an Jelena denkt, trocken erklärt: "Aber ich sage dir doch, dass ich ohne dich nicht leben kann!" Komischerweise wird an dieser Stelle nicht gelacht. Absorbierter Narzissmus?

Die Zeit kennt kein Erbarmen

"Kinder der Sonne" ist eine Komödie, und das hat Mateja Koležnik mit allen Konsequenzen verstanden. Die Menschen leben mit ihren Phantasmen und Idealvorstellungen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Sie sind deswegen nicht unliebenswürdig, jedenfalls meistens nicht. Lisa (Anne Rietmeijer) tadelt den Tierarzt (Dominik Dos-Reis), weil der sich über seine Schwester mokiert, aber wie soll man sich über diese ulkige Person nicht mokieren? Jele Brückner balanciert virtuos mit der sexuellen Habgier einer Frustrierten und deren skrupelloser Schärfe, etwa beim Umgang mit dem Dienstpersonal. Als wären es zwei Personen.

Auf der Bühne herrscht ein stetiges Gewusel, Tür auf, Tür zu (was eine enorme Logistik erfordert), aber hin und wieder setzt die Regisseurin Fermaten ein, kleine Unterbrechungen: Lisa schaut lange in das verhasste Milchglas, bevor sie den Inhalt in eine Schublade kippt; Pawel fixiert plötzlich eine Buchseite und blendet den Dialog, in dem er sich eben befindet, komplett aus. Dann läuft die Zeit weiter, und man begreift: Sie wird mit diesen Leuten, diesen selbsterklärten Kindern der Sonne, kein Erbarmen haben.

Es ist eine Art von Theater, wie sie in Deutschland schon seit langem nicht mehr handelsüblich ist. Eine Zeitmaschine. Und wenn der Abend derart triumphal angenommen wird, wie es hier der Fall ist, dann scheint das zu belegen, dass sonst etwas fehlt.

Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Deutsch von Ulrike Zemme
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüm: Ana Savic-Gecan, Soundtrack: Lukas Tobiassen, Klanggestaltung: Jordi Zoet, Lichtdesign: Bernd Felder, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Guy Clemens, Anne Rietmeijer, Anna Blomeier, Victor IJdens, Dominik Dos-Reis, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Michael Lippold, Karin Moog, Alexander Wertmann, Amelie Willberg, Emily Lück.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause.

www.schauspielhausbochum.de

Kritikenrundschau

Hier erlebe man eine "von den Platzhirschen deutscher Bühnen fast verdrängte Art des Theaters", so Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (9.10.2022). Es gehe mal nicht um "verschwurbelte Paralleluniversen", hier werde sich auf die Figuren konzentriert und eine Geschichte erzählt. Die Idee der Regisseurin, den Film als Medium einzusetzen, falle an diesem Abend kaum ins Gewicht. "Das Schwerblütige aber rauscht oft zaubergleich leichtfüßig vorbei", beschreibt der Kritiker seinen Eindruck. Mit einem lakonischen "großer, warmer Beifall", schließt er seine Kritik.

Mateja Koleznik überzeuge mit ihren feinsinnigen und zeitlosen Figurenporträt, schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (12.10.2022). Die Regisseurin sei für ihre psychologisch präzisen Inszenierungen bekannt. "In Bochum gelingt ihr ein atmosphärisch feinsinnig entwickeltes Gesellschaftsstück, das nicht in Figurentableaus schwelgt, sondern jede einzelne Rolle beleuchtet, um die persönliche Dimension politischer Veränderungen spürbar zu machen." Im Vergeblichen liege immer etwas Humor, den Regisseurin Koleznik aber nur dosiert zulasse. 

Begeister ist auch Tom Thelen in den Ruhr-Nachrichten (11.10.2022) – vom Detailreichtum, für den "das Wort realistisch fast zu klein ist". Und vom "großartigen", hervorragend besetzten Ensemble. Gespielt werde wenig in Richtung Publikum, "das wirkt fast filmisch, ist aber nicht schlimm: Niemand fällt aus der Rolle, niemals wird an der Rampe gekaspert, dafür oft hinter Wänden weitergeredet". Obwohl das an Theaterformen der Vergangenheit erinnere, gelinge "eine präsente Gesellschaftskomödie, die viele aktuelle Fragen nebenbei stellt".

 

Kommentare  
Kinder der Sonne, Bochum: Brennende Aktualität
Zunächst fühlt man sich erinnert an die legendäre Verfilmung der "Sommergäste" von Peter Stein (1976), wenn die Figuren in ihrer Hoch - Literatur - Sprache fast autistisch aneinander vorbei - reden, auch vorbei an den beunruhigenden Real - Ereignissen vor dem Grundstück des großzügig bemessenen Hauses. "Dekadenz" denkt man, denn vornehm ist das Ambiente nicht, das einen Reparaturstau oder einen bevorstehenden Umzug supperiert.

Der Zuschauer hat optisch keinen Zutritt zum tiefen Salon, die Bühne stell einen Durchgangsraum vor, eine Verkehrsfläche, einen erweiterten Flur, der unzählige beiläufige Auf - und Abgänge der Personen zeigt, meist ohne " Begegnung".

Verstärkt wird das Bedeutungslose der subjektiv bedeutsamen Selbst - Äußerungen und bruchstückhaften Dialoge dadurch, dass das Bühnengeschehen quasi vom Zuschauer entfernt wird, indem die Darsteller ganz für sich bleiben, den Zuschauer aussen vor lassen, wenig artikuliert und beiläufig sprechen, oft mit dem Rücken zum Zuschauer, hinter einem Wandvorsprung, Satzteile unhörbar bleiben, so dass der Zuschauer angestrengt - ärgerlich hin - lauscht, um das zu suchen, was er gewohnt ist, zu finden im Theater: Angesprochen, angespielt, hineingezogen, umworben zu werden.

Bis der Zuschauer durch diese Regie - Methode unmissverständlich erlebt : parlare... parlare.. parlare....
"parallel" und ohne Kontakt und in Ignoranz zu den dramatischen Ereignissen in der Welt.

An dieser Stelle wird die brennende Aktualität der großartigen Inszenierung deutlich, die unsere mediale Wirklichkeit spiegelt, die oft, abgespalten von den Tatsachen der Welt, eigene Räume mit fake - Artefakten füllt und den Realitätsbezug bedenkenlos verwirft.
Kinder der Sonne, Bochum: Konservativste TT-Einladung
Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Türen werden fast so oft geschlagen wie in einer prototypischen Boulevard-Komödie, der Ton bleibt jedoch tragikomisch. Im Zentrum dieses Klassikers von Maxim Gorki, der 1905 entstand, steht ein Bürgertum, das fast so in seine Grübeleien und Sehnsüchte eingeschlossen ist wie die Figuren seines kurz zuvor verstorbenen Landsmanns Anton Tschechow. Am weltfremdesten ist der Chemiker Protassow (Guy Clemens), der so sehr in seinem Wissenschafts-Elfenbeinturm eingesponnen ist, dass er gar nicht wahrnimmt, wie verknallt die reiche Melanija (Jele Brückner) in ihn ist.

Koležniks „Kinder der Sonne“ ist die vermutlich konservativste Position in der aktuellen tt-Auswahl: ein großes Ensemble fühlt sich in die Rollen des russischen Bürgertums und ihrer Angestellten ein. Vor detailreich nachgeahmter Kulisse erleben wir ihr vergebliches Liebeswerben und ihre Verzweiflung. Draußen tobt die Cholera, der Mob formiert sich vor dem Haus des Chemikers, der als Sündenbock herhalten soll. Anspielungen auf die jüngste Vergangenheit und die Querdenker*innen-Attacken gegen Corona-Experten wie Karl Lauterbach oder Christian Drosten macht die Bochumer Inszenierung an keiner Stelle explizit, bleibt auch hier ihrem konservativen Ansatz treu.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/20/kinder-der-sonne-schauspielhaus-bochum-kritik/
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