Vermisst

10. Oktober 2022. Material, das schmerzlich gut in die aktuelle Zeit passt. Oliver Frljić inszeniert den ikonischen Stoff der Theatergeschichte und verpasst dabei die Chance, die geteilte Realität mit auf die Bühne zu holen – im Gegensatz zu den Schauspielerinnen des Hauses.

Von Christian Rakow

"Mutter Courage" am Maxim Gorki Theater Berlin in der Regie von Oliver Frljić © Ute Langkafel MAIFOTO

10. Oktober 2022. An diesem Wochenende, an dem die Kertsch-Brücke zur Halbinsel Krim in Flammen aufging, an dem der Eisenbahnverkehr in Norddeutschland durch Sabotage großflächig lahmgelegt wurde, an dem die AfD in Berlin rund 10.000 Demonstranten mobilisierte, um den antidemokratischen Schulterschluss mit Putins Russland zu proben, an dem der Krieg so nah gerückt ist, wie seit 77 Jahren nicht mehr. Da ist Bertolt Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" eigentlich das Stück der Stunde.

Eine Ikone

Die "Courage" ist ja ein Monument des Berliner Theaters. Helene Weigel zog ihren Marketender-Wagen erst im Deutschen Theater 1949, dann bald als Kopf des neu gegründeten Berliner Ensembles auf der Drehbühne des Theaters am Schiffbauerdamm; Weigel in den Lumpenkleidern der Krämerin Anna Fierling im Dreißigjährigen Krieg ächzte und polterte und darbte vor den Augen eines zerlumpten Publikums, das seinerseits gerade dem zwölf Jahre währenden Tausendjährigen Reich entronnen war – das alles hat längst ikonischen Status. Den legendären Planwagen der Mutter Courage kann man heute vor den Toren Berlins im märkischen Buckow besichtigen, der Mitschnitt ihrer bis 1961 ganze 405-mal gespielten Inszenierung wurde jüngst während der Corona-Zeit fürs Internet-Publikum gestreamt.

Am Maxim Gorki Theater nimmt sich nun der frisch gebackene künstlerische Ko-Leiter Oliver Frljić den großen Stoff vor. In unserer Kriegswirklichkeit. Frljić ist europaweit geschätzt und gefürchtet für seine oft brachial gegenwärtigen, beinhart provozierenden Politinszenierungen, die regelmäßig für Bluthochdruck bei national-konservativen Kräften sorgen. Dass er mit Brechts "Mutter Courage" zu seinem gewohnt freien, aus Probenimprovisationen gespeisten Stil finden könnte, war vielleicht nicht anzunehmen. Man weiß schließlich um die strengen Werktreue-Auflagen, die die Brecht-Erben mit den Aufführungsrechten verbinden. Aber dass Frljić die "Courage" derart zahnlos zur Rampe schaffen würde, das war denn doch nicht zu erwarten.

Maryam Abu Khaled, Yanina Cerón, Lea Draeger, Kenda Hmeidan, Abak Safaei-Rad, ÇİĞDEM TEKE in Mutter Courage und ihre Kinder2. TEIL DER KRIEGSTRILOGIEVONBertolt BrechtIN EINER BEARBEITUNG VONDaniel RegenbergREGIEOliver FrljićMUSIKPaul DessauBÜHNEIgor PauškaKOSTÜMEKatrin WolfermannMUSIKALISCHE LEITUNGDaniel RegenbergDRAMATURGIESimon Meienreis, Johannes KirstenHungrige Spatzen: Abak Safaei-Rad, Çiğdem Teke, Yanina Cerón, Lea Draeger, Maryam Abu Khaled und Kenda Hmeidan © Ute Langkafel MAIFOTO

Sechs Spielerinnen bietet Frljić auf, um die zwölf Szenen dieser Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg im Schnelldurchlauf zu absolvieren: Anna Fierling alias Mutter Courage tingelt im Schlepptau der finnischen Truppen durch Polen und verliert beide Söhne ans Kriegsgeschehen. Sie wechselt die Fronten, sobald das Schlachtglück umschlägt. Ihre stumme Tochter wird geschändet und opfert sich im Finale in einem seltenen Akt humaner Selbstaufgabe für die Menschen der Stadt Halle. Und Mutter Courage? Sie hadert mit dem Krieg, aber findet nicht den Ausstieg, rappelt sich immer wieder auf, feilscht um Heller und Pfennig und verhökert ihre Seele an den nährenden Handel in der langen Spurrinne des Völkergemetzels.

Die Gorki-Spielerinnen wechseln die Rollen mit jeder neuen Szene durch, eine jede darf mal die Courage, jede auch die Kinder und weitere Nebenfiguren verkörpern. Mag sein, man wollte mit der fluiden Besetzung andeuten, dass der Krieg ohnehin kein individuelles Schicksal kennt, dass sich vielmehr alles im Gleichtakt der Kriegstrommeln einebnet. Aber eigentlich schaut es doch eher nach der Besetzungspolitik von Schauspielschul-Inzenierungen aus: Prominenter Auftritt für alle, faire Chancen.

Historische Ausnahme

Prägnante Szenen oder gar Figuren schälen sich in dem Ringelreihen nicht heraus, Text rauscht gehetzt und darob zumeist schwer verständlich vorbei, konventionellste Gesten zuckern das Geschehen, mitunter rutscht das Ganze in bedenkliche Tiefen, wenn die Schändung der Tochter von Mutter Courage mit einem Catwalk der Kriegsversehrten (Krücken schwenkend) angearbeitet wird. Dazu schafft man immer wieder Kisten und Leichensäcke herbei und ein paar Männerkörper hängen auf der Bühne von Igor Pauška wie am Galgen vom Schnürboden herab.

Auf die Nennung der Akteurinnen wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Sie haben ihre Qualitäten in zahlreichen anderen Inszenierungen am Gorki bewiesen. Bezeichnenderweise kommt der eindrücklichste Beitrag als historische Tonbandaufnahme: Da ertönt am Ende das Wiegenlied der Courage für ihre tote Tochter Kattrin ("Eia popeia, was raschelt im Stroh…"), bevor sich die geschlagene Heldin ein letztes Mal aufrafft: "Ich muß wieder in'n Handel kommen." Und man sieht sie für Momente vor dem inneren Auge vorbeiziehen, diese "Hyäne des Schlachtfelds", die in all ihrer Tragik für so viele Krämerseelen steht, auch für die Businessmen unserer Tage, die im Angesicht des russischen Imperialismus lieber völkerrechtliche Werte über Bord werfen würden als die schönen, schnöden Geschäfte mit Moskau zu kappen.

Einbruch des Realen

Und dann gibt es noch einen Moment, in dem man merkt, was mit diesem Gorki-Ensemble am heutigen Abend eigentlich möglich gewesen wäre: Da reißen die Spielerinnen beim Schlussapplaus ein Transparent hoch und skandieren: "Jin, Jiyan, Azadi!" ("Frau, Leben, Freiheit!"). Als Gruß an die Frauen im Iran, die gerade gegen ihre Unterdrückung aufstehen. Ein mitreißender Augenblick. Ein Versprechen. Was wäre das für eine Inszenierung geworden, wenn diese Aktualität hätte einbrechen dürfen! Ein Stück, ob mit oder ohne Brecht, für unsere Zeit.

 

Mutter Courage und ihre Kinder
von Bertolt Brecht
mit Musik von Paul Dessau in einer Bearbeitung von Daniel Regenberg
Regie: Oliver Frljić, Bühne: Igor Pauška, Kostüme: Katrin Wolfermann, Musikalische Leitung: Daniel Regenberg, Dramaturgie: Simon Meienreis, Johannes Kirsten.
Mit: Maryam Abu Khaled, Yanina Cerón, Lea Draeger, Kenda Hmeidan, Abak Safaei-Rad, Çiğdem Teke.
Premiere am 9. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Man muss schon fest im Brecht-Sattel sitzen, um die Handlung zu verstehen", findet Barbara Behrendt im rbb (10.10.2022): "Bei so vielen Rollenwechseln und den starken Text-Kürzungen verliert man rasch den Überblick, wohin die Courage-Kinder verschwinden, wer lebt, wer stirbt und wer sich opfert." Regisseur Oliver Frljić sei keiner für die "Zwischentöne", es gäbe bei ihm nur "Schwarz, Weiß und die grellsten Farben". Doch diesmal passe genau das zu Brechts Lehrstück, das selbst "auch nicht eben subtil" daherkomme. Zumal man den Schauspieler:innen sowieso "an den Lippen" hänge, "weil Brechts Worte klingen wie der Kommentar zur kriegserschütterten Gegenwart".

Wer hier "nicht die Orientierung verliert, hat sich den Premierensekt jedenfalls redlich verdient", so Jakob Hayner in der Welt (10.10.2022). Dabei sei es grundsätzlich "keine schlechte Idee, (das Stück) jetzt wieder zu inszenieren", das Gorki-Theater "verrenne" sich aber völlig. Frljić stapele "Leichen über Leichen, nackte ausgemergelte, in Müllsäcken verpackte": "Wer bis dahin nicht wusste, dass es sich um ein Stück über den Krieg handelt und dass Krieg eine schlimme Sache mit vielen Toten ist, ist nun informiert." Der Abend rufe in Erinnerung, "dass 'Mutter Courage' das langweiligste Stück der Welt sein kann, wenn man es mit einer Predigt verwechselt".

"Die Handlung wird in Sparformat transportiert, die entsprechenden Texte werden zumeist von der Rampe mit illustrativen Gesten ins Publikum gerufen", zeigt sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (10.10.2022) enttäuscht. "Zu lernen" sei an diesem Abend, dass man sich "im Krieg an den Anblick der Toten gewöhnt und abstumpft". Darüber hinaus sei das allerdings "ein papierner Brecht", und "wohlfeiler Theaterpazifismus, der sich gedankenfaul auf die sichere Seite bringt".

"Jede ist mal die Courage, mal ihre Tochter, die stumme Kattrin und so weiter. Schuldig machen sich - soll uns das wohl sagen - alle gleichermaßen; Widerstand zu leisten, wo er etwas kostet, sind die wenigsten imstande. Sicher wahr, aber trotzdem erfährt man über Schuld vergleichsweise wenig aus dieser Inszenierung", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (11.10.2022). Die versprochene aktuelle Auseinandersetzung wirke eher wie ein Formenspiel aus dem zeitgenössischen Regiebaukasten, als wirklich etwas zu erzählen.

"Frljić kaut in seiner 'Mutter Courage'-Inszenierung auf genau zweieinhalb einigermaßen banalen Ideen herum“, schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (11.10.2022). Nur wenige Szenen beeindrucken den Kritiker, "der Rest ist Deklamations- und Parolentheater der gröberen Sorte, in dem nur Textlieferanten, aber keine Figuren, oder gar Charaktere, sichtbar werden, von so etwas Altmodischem wie innerer Anteilnahme oder einem Erschrecken angesichts des Krieges mal ganz zu schweigen".

Als missglücktes Beispiel für aktivistisches Theater diskutiert Tobi Müller die Produktion in einem längeren Essay für die Zeit (20.10.2022). Brechts Stück werde hier ""auf Dauer ganz schön unübersichtlich". Dabei dürften wohl nur die wenigsten Zuschauer:innen die Stückhandlung parat haben und mithin alle Konstellationen der Inszenierung verstehen. "So was kann sich ein Theater nur leisten, weil es bei Brecht und bei diesem Stück auf Schulklassen spekuliert. Auf junge Zuschauerinnen und Zuschauer also, die kommen müssen, egal ob sie wollen oder nicht."

Kommentare  
Mutter Courage, Berlin: Ideenlos
Hier haben sich zwei gefunden, sollte man meinen. Die Provokationslust des kroatischen Regisseurs Oliver Frljić und der widerständig-empowernde Geist des Gorki Theaters scheinen wie füreinander geschaffen. Eine vielversprechende Entscheidung, dass Frljić seit dieser Spielzeit zum künstlerischen Co-Leiter neben Shermin Langhoff aufgestiegen ist!

Aber es ist ein Rätsel, warum Frljić, der an anderen Häusern für Furore sorgte, am Gorki – vielleicht abgesehen von „Ein Bericht für eine Akademie“, das von Jonas Dasslers vollem Körpereinsatz lebte – nur mittelprächtige bis maue Inszenierungen abliefert. Das gilt leider auch für Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, das als Mittelteil von Frljićs Kriegstrilogie am vergangenen Wochenende Premiere hatte.

In Hochgeschwindigkeit pflügen sich sechs Spielerinnen des Hauses vorne an der Rampe durch eine Strichfassung des Klassikers. Auf die ansonsten leere Bühne lässt Igor Pauška unzählige Stoffpuppen als Leichen aus dem Schnürboden herunter baumeln. Mal schreiten die Frauen über einen Catwalk, mal deuten sie an, wie sie den Planwagen der Marketenderin hinter sich herziehen. Doch es bleibt bei wenigen spielerischen Ansätzen, die 90 Minuten bleiben ideenlos und wirken wie in einem Korsett erstarrt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/12/mutter-courage-und-ihre-kinder-oliver-frljic-gorki-theater-kritik/
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