Geschlossene Gesellschaft

15. Oktober 2022. Die High Society will endlich die Party verlassen, schafft es aber nicht über die Schwelle: Luis Bunuels Film von 1962 hat Kultstatus. Sebastian Baumgarten macht daraus einen psychedelischen Horrortrip – mit einer besonderen dramatischen Draufgabe.

Von Martin Thomas Pesl

Sebastian Baumgartens Adaption von Luis Buñuels Kultfilm "Der Würgeengel" am Volkstheater Wien © Marcel Urlaub

15. Oktober 2022. Die Hölle, das sind die Partygäste, die sich verabschieden, aber nicht gehen. Unerhörterweise bleiben die Leute der besseren Gesellschaft, die Lucia und Edmundo nach einem Theaterbesuch zu sich eingeladen haben, über Nacht. Eine unbekannte Kraft hält sie fest, sie können nicht raus. Das ist die Prämisse des Schwarzweiß-Kultfilms "El ángel exterminador" aus dem Jahr 1962, in dem noch manch anderes Seltsame vonstattengeht.

Den Titel des Surrealisten Luis Buñuel kennt man als Wiener Theatermensch heute eher von der Verwurstung durch Elfriede Jelinek. 2012 gab es von Martin Wuttke im Burgtheater-Kasino eine umstrittene Drei-Stunden-Inszenierung. Jene von Sebastian Baumgarten im Volkstheater dauert zehn Jahre später nur halb so lang, was überraschend ist, da nach den Proben im Frühjahr noch zweieinhalb Stunden angekündigt waren, aber auch gut, denn länger hätte man es in der Partyhölle auch schwer ausgehalten.

Von Anfang an seekrank

Tobias Rehbergers Bühnenbild macht von Anfang an seekrank. Das ist als Kompliment zu verstehen. Dem deutschen Installationskünstler, der 2009 mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig ausgezeichnet wurde, ist eine faszinierende, durchaus einleuchtende Übersetzung des Stoffs gelungen, aus flimmernden Streifen, psychedelischen Spiralen, flackernden Videos, einem hell erleuchteten weißen Piano, auf dem man aber nie jemanden spielen sieht, und Spiegeln über dem Raum, die, statt Klarheit über dessen Geometrie zu verschaffen, alles irgendwie nur noch mehr verwirren.

Wuergeengel 4 MarcelUrlaub uFlimmernde Streifen, psychedelische Spiralen: Dem Installationskünstler Tobias Rehbergers ist mit seinem Bühnenbild eine einleuchtende Übersetzung des Stoffes gelungen © Marcel Urlaub

In den Kostümen (Christina Schmitt) wuchern die Muster aus dem Bühnenbild teilweise weiter. Wenn Evi Kehrstephan als Gastgeberin Lucia auf der Bank sitzt, sieht es aus, als besäße sie keinen Unterleib. Auffällig außerdem: mysteriöse weiße Hände an verschiedenen Körperstellen der hauptsächlich schwarzen Gewandung. Packt hier der biblische Würgeengel – der in Film wie Stück so gut wie gar nicht vorkommt – zu?

Quälend langsam bewegt sich die Drehbühne, wenn nicht gerade angetrieben durch Licht und Ton alle durcheinandergewirbelt werden, wie auf hoher See eben. Das Ensemble spielt dabei tapfer und vortrefflich zusammen, bekommt aber kaum Möglichkeiten zur einzelnen Profilierung. Man erlebt die Gesellschaft bei Tisch, labernd und sich wichtig nehmend, wie Dinnergesellschaften es eben tun. Der Philosoph Raul (Claudio Gatzke) erklärt, wie das Weltall entstand, und die Künstlerin Juana (Friederike Tiefenbacher) referiert über Yoko Onos "Film No. 4" (witziges Männer-Bashing zum Close-up eines Hinterns).

KIs, die den Turing-Test versemmeln

Es regiert eine überspannte Künstlichkeit. Die geht freilich auf Kosten der subversiven Kraft von Buñuels Surrealismus, bei dem auf den ersten Blick alles erst mal völlig normal aussieht. Wenn die Betroffenen auftreten wie künstliche Intelligenzen, die den Turing-Test versemmeln, macht das ihnen Zustoßende weniger stark Eindruck.

Surreal gibt sich zudem so manches, was – eine inhärente Schwäche dieser Buñuel-Huldigung – am Theater schlicht als szenische Lösung durchgehen könnte: Statt sich zu schminken, bemalen die Damen etwa mit Edding eine Spiegelwand. Statt direkt aus den Gläsern zu trinken, wird die Flüssigkeit in die Luft geschleudert und mit dem Mund aufgefangen. Das Motiv der unerklärlichen Wiederholungen aus dem Film übernimmt Baumgarten unter Nutzung der zusätzlichen Möglichkeit, den Text im zweiten Durchlauf anderen Spieler:innen zuzuteilen. Handwerklich ist das alles total sauber umgesetzt. Nur bleibt, wer sich nicht mit dem Originalfilm oder seinem Schöpfer beschäftigt hat, außen vor.

Wuergeengel 3 MarcelUrlaub uAusdrücklich überspannte Künstllichkeit: Das Wiener Volkstheater-Ensemble spielt tapfer und vortrefflich zusammen, bekommt aber kaum Möglichkeiten zur Einzelprofilierung © Marcel Urlaub

Als Draufgabe lässt Baumgarten immer wieder den Vorhang fallen und vor diesem Buñuels einziges Theaterstück exakt spielen. Es hat zehn Seiten, trägt den Titel "Hamlet" und entstand 1926 durch "automatisches Schreiben", ergibt also keinerlei Sinn. Das überdrehte Kasperlspiel bietet dem Auge eine gewisse Erholung vom Rehberger'schen Horrortrip. Die Konzentration steigert es nicht gerade.

Verwandlung zum Pelztier

So kann das Publikum die Erleichterung der Gefangenen nachvollziehen, als diese nach Tagen, Wochen oder Monaten – der mittlerweile auf sehr tänzerische Weise gestorbene Francisco (Nick Romeo Reimann) hat sich mit zunehmender Verwesung in ein Pelztier verwandelt, das Max Ernsts surrealistischem Gemälde "Der Hausengel" gleicht – plötzlich draufkommen, wie sie sich aus ihrer Misere befreien können: indem sie ihre Handlungen und Sätze vom ersten Abend exakt wiederholen. Das tun sie, und prompt stehen sie vorne an der Rampe. Geht doch. "Es ist von uns genommen."  – "Wir können nach Hause gehen."

 

Der Würgeengel – El ángel exterminador
nach dem Film von Luis Buñuel
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühnenbild: Tobias Rehberger, Mitarbeit Bühnenbild: David Berens, Mitarbeit Bühne: Patrick Loibl, Kostüm: Christina Schmitt, Musik: Robert Lippok, Video: Philipp Haupt, Licht: Paul Grilj, Ton: Giorgio Mazzi, Dramaturgie: Henning Nass, Matthias Seier
Mit: Andreas Beck, Elias Eilinghoff, Claudio Gatzke, Frank Genser, Evi Kehrstephan, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Julia Franz Richter, Uwe Rohbeck, Friederike Tiefenbacher
Premiere am 14. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Buñuels Film glich der Verlustanzeige einer von Institutionen gekappten Menschlichkeit, die vom Volkstheater erarbeitete Version dagegen einer dramaturgischen Selbstaufgabe", resümiert Stephan Hilpold im Standard (17.10.2022) den Abend. Baumgartens Inszenierung sei ein technisch aufgemotzter, aber inhaltlich schrecklich abgespeckter Höllenritt, in dem jedes Regiemätzchen Platz finde. Zwar fielen auch hier die guten Bürger übereinander her, "im Psychorausch dieses um sich selbst drehenden Theaterbreis ist das aber schon einerlei".

Als "bang und tretmuehlenartig dahindelirierende Gesellschaftsgroteske" empfand Andrey Arnold die Inszenierung und schreibt in Die Presse (16.10.2022) : Was Bunuels Wuergeengel so wirkungsvoll mache, sei die Subtilitaet seiner Verfremdungseffekte. "Baumgarten beginnt hingegen im Modus fratzenhafter Hysterie – und bleibt bis zum pointierten Schluss dabei." Die im Einzelnen durchaus eindringlichen Schauspielleistungen verschwoemmen zu einem mimischen weissen Rauschen.

An Tobias Rehbergers Buehne koenne man sich nicht sattsehen, schreibt Thomas Trenkler im Kurier (16.10.2022). "Das ist gut so. Andernfalls wuerde man sich sehr leicht langweilen." Denn die Inszenierung sei voellig unverstaendlich. Aber neben der "grandiosen Buehne" lobt der Rezensent noch das "packende Sounddesign".

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