Trotz aller Ratgeber Lehr'

15. Oktober 2022. Weg mit der Moral, hinaus aufs offene Meer! Aus Sebastian Brants spätmittelalterlicher Satirensammlung gestalten Marthe Meinhold und Marius Schötz bei ihrem Basler Debüt ein heiteres Singspiel. Eine Kindertheater-Sause für Erwachsene. Doch: Ganz ohne ein "Erkenne Dich selbst" läuft auch bei den Narren und Närrinnen von heute wenig.

Von Claude Bühler

"Das Narrenschiff" in der Regie von Marthe Meinhold & Marius Schötz am Theater Basel © Lucia Hunziker

15. Oktober 2022. Das Publikum des 15. Jahrhunderts war hart im Nehmen. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Satire Das Narrenschiff 1494 von Basel aus zu einem europäischen Erfolg, zum ersten literarischen Bestseller wurde. Spitz und derb geisselt der humanistische Rechtsgelehrte Sebastian Brant in über 100 Narren-Typologien die Sünden und Laster seiner Mitmenschen. Er prangert nicht nur Wollust, Geldgier, Geltungssucht an, sondern auch die Schwäche, sich über andere zu stellen, in blödsinnigen Haltungen zu verharren, sich zu isolieren oder Fake-News zu verbreiten. Der Narr ist bei ihm nicht nur närrisch, sondern zuweilen auch bösartig und schädlich. "Es lebt die Welt in finsterer Nacht", konstatiert er entmutigt. Wer wollte da – gerade auch heute – widersprechen?

Süß, aber verrückt

Weit mehr Milde lassen Marthe Meinhold und Marius Schötz bei ihrer Bühnenversion walten, die den Stoff in die Jetzt-Zeit trägt. Mit dem Ensemble entwickelten sie bei ihrem Basler Debut eine Story, die Brant nur kurz als Bild anklingen lässt: Eine Gruppe "Närr:innen, süß, aber verrückt", fährt begeistert auf hohe See, "wo man Abgründe erfährt und überwindet, um schlussendlich wieder gesellschaftsfähig zu werden". Da erhalten alle mal Gelegenheit, zu Live-Klavierbegleitung in pathetisch aufgemachten Popsongs das persönliches Leid zu klagen. Es sind eher lässliche Sünden ("Krankheiten", wie es hier heißt): Verliebtheit in die eigene Schönheit, ein sprunghaftes Beziehungsleben, Sammelwut oder der eitle Ehrgeiz des Autoren Brant, der auch mit Narrenkappe mitfährt und aus dessen Perspektive sich das Abenteuer entspinnt.

Gruppe spielen im puppenkistenhaften Bühnenbild

Das puppenkistenhafte Bühnenbild gibt viel her für Auge und Sinne: Eine romantisch hingemalte, leidenschaftlich wogende See im Hintergrund, vorne rollende Wellen mit bei Sturm aufleuchtenden LED-Konturen, dazwischen das hölzerne Schiff mit hohem Rumpf, wie man seit Jahrhunderten die Arche Noah malt – dies alles schafft die passende Szenerie für dieses Kindertheater für Erwachsene. Die Narren spielen betont "Gruppe", die außer kurzen Zänkereien nichts auseinanderbringt. In ihren hautengen, karogemusterten Kostümen und grellbunten Narrenkappen wirken sie zumeist kindlich, gleichzeitig alterslos. Die Bedeutung der Geschlechter wird mit Querbesetzungen zurückgedimmt.

Narrenschiff 2 LuciaHunziker uAuch eine lange Seefahrt kann diese Närr:innen nicht auseinanderbringen: Barbara Colceriu, Annika Meier, Julian Anatol Schneider, Jia Lim, Andrea Bettini © Lucia Hunziker

Sie erschrecken zur Gespensterstunde über die Dunkelheit, jammern über die "30 Jahre lange" Flaute, fischen besorgt Plastikmüll im Meer, und Barbara Colceriu singt hoch oben auf einer Schaukel gefühlig: "Wir, wir träumen allein, warum nicht gemeinsam? Bist Du nicht einsam?" Szenenapplaus. Die Übergänge in der Story holpern, so dass die Orientierung manchmal schwerfällt. Anders: Wie im Traum oder im Märchen wechseln abrupt die Begebenheiten. Ziellos gondeln wir mit der Arche durch den Abend, bis sie aufläuft. Aber, Happy End: Brant kommt zur Einsicht, nicht mehr besser als die andern, sondern Narr sein zu wollen. Die Botschaft der Aufführung enthüllt der Schlusschor: Die Welt ist nicht in Ordnung, sie ändert sich, wenn wir närrisch sind und uns nicht anpassen. "Hauptsache, du lässt dich nicht vereinzeln".

Auch die Verzweiflung fährt mit 

So einfach ist das? Den harten Weg zu befreiten kreativen Narren-Potentialen, der auch über Zeiten der Einsamkeit führen kann, schildert das Stück nicht. Der Aufruf im Stück, "Erkenne Dich selbst", ist gut gemeint. Und er entspricht auch Brants Ideal, der trotz der Drohung mit Höllenstrafen kein unmündiges Frömmlertum verfocht, sondern auf dem beharrlichen Weg von Vernunft und Überwindung zur Freiheit gelangen wollte. Seine Weltauffassung ist da strenger, herber und wohl auch realistischer. Sein Anliegen beinhaltet auch Verzweiflung.

Aber es wäre unfair, an dem Vergleich die Aufführung aufzuhängen. Sie bietet mit Ausnahme des etwas zäh geratenen Schlusses und des zuweilen geschwätzig geratenen Textes zwei witzige, vergnügliche Theaterstunden. Das Ensemble bewältigt mit Leichtigkeit komplexe Song-Arrangements und spielt mit Enthusiasmus und Präzision seine Stärken aus. Gerade die Ziellosigkeit der Fahrt ohne Längen zu füllen und doch fühlbar werden zu lassen, ist wohl das große Kunststück der Inszenierung. Sie besticht mit Liebe zum Detail. Und mit völliger Transparenz: Sie ist nie Illusions-Show sondern zeigt alles von A bis Z als offenes Spiel, indem etwa auch Bühnenarbeiter auftreten, um das Schiff zu wenden.

Und Brant würde vielleicht heute auch milder und humorvoller schreiben, notiert er doch selbst, dass trotz aller "guter Ratgeber Lehr" und Bücher wie den seinigen "niemand bessert sich davon".

 

Das Narrenschiff
Von Marthe Meinhold, Marius Schötz und Ensemble nach Sebastian Brant
Regie: Marthe Meinhold und Marius Schötz, Bühne und Kostüm: Florian Kehl, Komposition: Marius Schötz, Licht: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Anja Dirks, Live-Musik: Jia Lim.
Mit Andrea Bettini, Barbara Colceriu, Jia Lim, Annika Meier, Julian Anatol Schneider.
Uraufführung am 14. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Marthe Meinhold und Marius Schötz übertragen die spätmittelalterliche Moral-Satire in die Gegenwart, lassen aber sehr viel Milde walten. Die Weltauffassung von Brandt war da strenger und härter", so Fabienne Nägeli von SRF2 Kultur (18.10.2022). "Außer dem teils etwas gar banalen und klamaukigen Text bietet die Inszenierung Witz und Unterhaltung und ein tolles Bühnenbild." Das Holzschiff verleihe dem liebevoll gemachten Stück etwas kindlich Verspieltes.

 

 

Kommentar schreiben