Wal werden

15. Oktober 2022. Fünf nach Zwölf ist es auf der Klimakatastrophenuhr. Was kann uns noch retten? Der Themenpark "reEDOcate me!" bringt das Japan der Edo-Zeit ins Spiel, als Vorbild in Sachen Kreislaufwirtschaft und ressourcenschonender Lebensweise. Welchen Weg weist der künstlerische Parcours über das Gelände der Floating University Berlin – in die Vergangenheit oder in die Zukunft?

Von Sophie Diesselhorst

Die Floating University Berlin © Sophie Diesselhorst

15. Oktober 2022. Wie wird die Welt an meinem 80. Geburtstag aussehen? Meine beiden jugendlichen Gesprächspartnerinnen Alba und Coco sind sich einig: kaputt und ohne Tiere; und mit Meeren, in denen mehr Plastik als Wasser schwimmt. Die Menschen ernähren sich vegan oder von Insekten, aber schon lange nicht mehr, weil sie sich frei dafür entschieden haben. Die beiden 13-Jährigen sind ungebührlich vergnügt ob dieser dunklen Aussichten; haben sie die Hoffnung wirklich noch nicht aufgegeben oder sind sie schon so gut im Verdrängen wie wir Erwachsenen?

Auf die Frage nach möglichen Rettungsszenarien antwortet Alba: Macht haben die, die Geld haben; ich hoffe also, dass Elon Musk bald einen Alptraum hat und am nächsten Tag anfängt, sich der Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe zu widmen. Eine Antwort, sehr viel pragmatischer als es unser Gesprächsumfeld nahelegt.

Labor auf hölzernen Stelzen

Wir befinden uns auf dem Gelände der Floating University, einem "temporären Labor für kollektives Lernen", das raumlaborberlin seit 2018 auf dem Regenrückhaltebecken des Tempelhofer Felds in Berlin betreibt. Bretterbuden auf Stelzen, verbunden durch einen Holzsteg und nun noch ergänzt von weiteren Bauten wie zum Beispiel dem Onzen, dem Heißwasserbad nach japanischem Vorbild, das gerade neben uns eingeheizt wird.

Japan ist das Land unserer Träume in diesem "postfossilen Themenpark", genauer gesagt, das Japan der Edo-Zeit (1603-1868), in dem aus so verschiedenen Gründen wie Angst vor Kolonialisierungsbestrebungen von außen und Baumaterialknappheit, weil man zu verschwenderisch in seinen Wäldern geholzt hatte, eine Art kaiserlich verfügte Ökodiktatur herrschte, die wiederum eine kulturelle Blütezeit produzierte, aus der viele Erfindungen stammen, mit denen Japan heute noch verbunden wird, Haiku, Kabuki, Nō, Kalligraphie, Kintsugi, Sushi, Kimono.

Ehrfürchtig dem Vorbild frönen

Im Umerziehungslager "reEDOcate" soll uns nun die Kreislaufwirtschaft in Fleisch und Blut übergehen, und die ironische Distanz der beteiligten Künstler:innen und Aktivist:innen zum Konzept der Diktatur variiert über die Dauer der fünfeinhalb Stunden geführte Tour beträchtlich; mit einer dräuenden Meditation, die ins schwarze Loch der Zukunftsängste in Klimakatastrophenzeiten führt und dabei lähmend unkonkret bleibt, bereitet Christophe Meierhans der Alternativlosigkeit gleich erstmal den Boden.

Zum Glück erscheint darauf die tolle Sachiko Hara und weckt uns, die wir gerade noch auf Meierhans Geheiß 20 Minuten lang die Augen geschlossen hatten, indem sie uns einen Furztanz performen lässt, der, so Hara in Gestalt eines japanischen Wassergeists, für uns Menschen die einzige Rettung vor der Rache ihresgleichen sei. Wir furztanzen uns die Lethargie aus den Knochen und auch den ersten Verdacht, dass hier allzu ehrfürchtig einem Japan-Bild gefrönt werden wird, das später manchmal doch noch ein wenig ins Exotistische zu kippen droht, auch wenn die Edo-Zeit ganz zum Schluss von Christian Tschirner und Lynn Takeo Musiol sogar noch mit Franz von Assisis Wirken kurzgeschlossen wird, um uns den Verzicht als kosmopolitische Kulturtechnik nahe zu bringen.

Stranger Transformationsmoment

Davor wechseln sich künstlerische und eher workshopartige Performances ab. Unproduktiv überfordern Anna Kpok uns, indem sie uns unter Zeitdruck einen Erlass zu einem vorgegebenem Thema verfassen lassen. Die ständig schrillende Eieruhr macht aggressiv, was sich in autoritären Erlassen niederschlägt. Schon klar, es ist fünf nach Zwölf; aber können wir es uns dann überhaupt noch leisten, hier gemeinsam so zu tun als ob ?

 reEDOcate me 1 SophieDiesselhorst uÖkologischer Wandelgang: "reEDOcate me" auf dem Gelände der Floating University Berlin © Sophie Diesselhorst

Anders herum wird ein Schuh draus; am dichtesten sind die Performances, in denen wir tatsächlich als Publikum einer Künstlerin zuschauen dürfen beim konzentrierten Versuch, "die Nachhaltigkeitsstrategien der Edo-Zeit für aktuelle Transformationsbedingungen zu übersetzen" (so der selbst erklärte Suchbefehl der gesamten Unternehmung) – im Spiel. Sachiko Hara als Wassergeist bleibt das Highlight. Aber auch Maike Knirsch, die zusammen mit Toshiki Okada einen strangen Monolog erfunden hat, in dem sie sich in einen Wal verwandelt, schafft einen seltsamen Transformationsmoment, der im Gedächtnis bleibt.

Künstlerische Kreislaufwirtschaft

Über fünfeinhalb Stunden mischen sich so die Eindrücke und verschmelzen die unterschiedlichen künstlerischen Ansätze mit der Sozialen Plastik der Floating University, die die Kreislaufwirtschaft vorexerziert. Wir schälen die Kartoffeln, die die nächste Gruppe essen wird; unsere Kartoffelbrei-Behälter werden in einem speziellen Ofen verkohlt, um das Bad zu heizen, und unser Holy Shit wird den "Wald des schlechten Gewissens" düngen, der den unvermeidlichen CO2-Ausstoß des Projekts kompensieren soll.

Was wir auch produzieren, es hat eine Funktion, und wir können, nein müssen uns als aktive Beteiligte der konkreten Utopie erleben, zu der das freundliche Umerziehungslager spätestens dann mutiert ist, als die Sonne untergeht am lauen Premierenabend und die ersten Mutigen sich entkleiden, um das Gespräch halbnackt im Onzen fortzusetzen. Die Freundlichkeit geht so weit, dass wir wiederholt dazu aufgefordert werden, uns von unseren zugewiesenen Reisegruppen zu entfernen und "zu machen, was wir wollen". Der neue Mensch, er soll das Selberdenken nicht verlernen.

Eine Befremdung bleibt bei aller gelungenen Immersion: Klar, es ist eine Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit ohne Smartphones, die dementsprechend vor Beginn konfisziert und in Stoffbeutel eingenäht werden. Die Verbindung zu den digitalen Kulturtechniken und Welten, mit und in denen wir heute leben, müsste aber doch irgendwann mal geschlagen werden, wenn das alles kein schöner Traum bleiben soll. Doch darauf wartet man vergeblich. Stattdessen wabert technologiefeindlicher Subtext, etwa im wiederholten Bekenntnis zur Wabi-Sabi-Ästhetik, zur Schönheit des Unscheinbaren, beziehungsweise darin, wie sie hier erklärt und auch umgesetzt wird. Aber wie sollen wir das, was wir hier gelernt und erfahren haben, mit unserer Lebenswirklichkeit verbinden, sobald wir unsere Smartphones wiederhaben? Gerade darauf käme es doch an, wenn wir uns nicht darauf verlassen wollen, dass Elon Musk heute Nacht noch einen kathartischen Alptraum hat.

 

reEDOcate me! Ein Postfossiler Themenpark
Ein Projekt von Aljoscha Begrich, Makiko Yamaguchi, Christian Tschirner, Benjamin Foerster-Baldenius und Dido Aquilanti. Veranstaltet von raumlaborberlin und les dramaturx.

Mit: Andreas Greiner und Takafumi Tsukamoto, Anna Kpok, Akira Takayama, Christophe Maierhans, Ella Ziegler, Jan Caspers, les dramaturx, meierfranz, Mats Staub, Metis, Nicholas Bussmann, Michikazu Matsune, Nagara Wada, Sabine Zahn und Joshua Rutter, Ricardo Sarmiento Ramírez, Sachiko Hara, Toshiki Okada und Maike Knirsch.
Premiere am 14. Oktober 2022
Dauer: 5 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.reedocate-me.com


Kritikenrundschau

"Manches ist Mitmach-Nonsens, vieles erhellend", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (17.10.2022).

Kommentare  
reEDOcate me, Berlin: Der Mensch ist die Katastrophe
Der Klimawandel an sich ist keine Katastrophe. Der Mensch ist die Katastrophe. Deshalb leidet er. Aber nicht alle. Einige überleben ganz gut.
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