Stolz und Stockflecken

16. Oktober 2022. Der Mann: gekränkt, verbittert, wild entschlossen, der geliebten Frau zu entsagen. Die Frau: lebensklug, warmherzig, ebenso wild entschlossen, ihn zurückzuholen zu sich und ins Leben. Was Lessings Lustspiel "Minna von Barnhelm" uns heute sagen kann? Eine Menge, findet Anne Lenk.

Von Frauke Adrians

Lessings "Minna von Barnhelm" in der Regie von Anne Lenk am Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

16. Oktober 2022. Glücklich, wer in niemandes Schuld steht. Glücklich? Niemand sieht unglücklicher aus als der schuldlose und schuldenfreie Major Tellheim. Wobei er aus seinem Unglück offensichtlich ein ziemlich perverses Glücksgefühl zieht. Stolz darauf, die Ehre bewahrt zu haben. Wie viel Staub nicht auf so einem Begriffstrio liegt: Ehre, Schuld, Stolz.

Den Staub machen Regisseurin Anne Lenk und ihre Kostümbildnerin Sibylle Wallum sehr sichtbar. Das geisterbleiche Personentableau ihrer "Minna von Barnhelm" trägt Stockflecken und Schimmelspuren auf den exaltierten Kostümen; man ertappt sich dabei, bei Tellheim und seinem Faktotum Just auch Spinnweben zu vermuten wie auf den Halloween-Gespenstern, die fast schon wieder Saison haben.

Aber es ist längst nicht alles ranzig bei Minna und ihrem Major. Die gesellschaftlichen Normen der Lessing-Zeit sind nicht mehr unsere, aber Anne Lenk bringt auf die Bühne, was sie an dem Klassiker interessiert: die ziemlich bestürzende und bestürzend heutig wirkende Fixierung aufs Geld etwa – wer nicht zahlen kann, ist niemand –, das Männer- und das Frauen(selbst)bild. Und die pointierten Dialoge, die spannungsreichen bis urkomischen Begegnungen der Charaktere.

Markt, Machtverlust und Männerzimmerchen

Die brauchen eigentlich keine Modernisierung, können sie aber gut vertragen. Dafür stehen insbesondere die cleveren Texte des Rappers Fatoni – vertont von Camill Jammal –, die Lenks Inszenierung leitmotivisch durchziehen und kommentieren. Der Kreislauf von Schuld und Schulden, der Markt und seine Mechanismen, Krieg und Frieden: zeitlose Themen von Lessing bis Fatoni. Der Rapper öffnet mit seinen Texten den Blick auf das, was die "Minna" an aktuellen Assoziationen hergibt.

(Auszug aus dem Intro-Rap von Fatoni und Camill Jammal)

Dafür kann sich die Regisseurin ganz auf den "Urtext" konzentrieren und würzt dabei auch mal nach. Dass der Wachtmeister Paul Werner (Jeremy Mockridge) die schlaue und schlagfertige Zofe Franziska nicht als "Frauenzimmerchen" titulieren kann, ohne von ihr postwendend "Männerzimmerchen" und "Wachtmeisterchen" genannt zu werden, liegt angesichts der feministischen Untertöne der "Minna" nahe, hat Witz und Charme – dank Seyneb Saleh, die im Laufe des Premierenabends immer besser in den Part der Franziska hineinwuchs, den sie kurzfristig und coronabedingt von Franziska Machens übernommen hat.

Dass Lenk der Titelheldin zu deren selbsterfundenem Unglück auch noch ein ebenso erfundenes uneheliches Kind andichtet, hätte nicht notgetan, auch wenn es einem heutigen Publikum vielleicht die Notlage verständlicher macht, aus der der ehrbeflissene Tellheim seine Ex-Verlobte erretten zu müssen glaubt.

Minna 2 ArnoDeclair uGespenstisch gut: Max Simonischek (Tellheim), Bernd Moss (Just) und Lorena Handschin (die Wirtin) haben eine Verabredung mit Lessing © Arno Declair

Es ist wohl das Schicksal aller Minna- und Tellheim-Darsteller, dass diese Charaktere zu ernst, staatstragend und vernünftig sind, um viel Raum zum Lustspiel zu eröffnen. Das Hin und Her zwischen den beiden Liebenden – wer ist wem überlegen, wer ringt um Gleichberechtigung, wer springt über seinen Schatten? – hat selbst in Anne Lenks kurzweiliger "Minna"-Fassung noch ein paar Längen.

Aber Natali Seelig und Max Simonischek holen das Bestmögliche aus ihren Rollen heraus. Fabelhaft komödiantisch aufdrehen können Bernd Moss als granteliger Just und Lorena Handschin, die anstelle des Lessing’schen Wirtes eine nicht minder raffgierige, aber vor allem hinreißend impertinente junge Wirtin spielt. Verblüffenderweise schimmert in ihrem schrägen Part – und nur dort – der Ernst des Krieges durch: Die Wirtin hat sich um zwei kleine Geschwister, Kriegswaisen, zu kümmern, was ihre Geldgier in etwas milderem Licht erscheinen lässt. Als echte Lessing-Gören heißen die Kinder Emilia und Nathan.

Mit Rüschen und Cargohosen

Judith Oswalds Bühne ist ein faszinierender magischer Guckkasten aus zwei Gasthauszimmern – das schicke in Samt-, das schlichte in Fliesenoptik –, in denen das Licht je nach Dialogbedarf an- und ausgeknipst wird. Wobei der Begriff "Dialog" nur unzureichend wiedergibt, was sich zwischen den handelnden Personen abspielt, die nicht einfach gesittet miteinander reden, sondern einander betätscheln und hundeähnlich beschnuppern, sich gegeneinander lehnen oder voneinander wegbeugen.

Nicht minder spleenig sind die Kostüme und Frisuren, mit denen Sibylle Wallum die Mode des 18. Jahrhunderts mit Kniehosen, opulenten Schleifen, Rüschen und ausgestellten Damenhüften zitiert, das Ganze aber mit Cargohosen, Plateauschuhen und anderen neumodischeren Beimischungen verfremdet.

Großer Spaß mit Literaturtheater

Vielleicht ist die Inszenierung ein wenig zu sehr in die eigene Skurrilität, den eigenen liebevoll-spielerischen Umgang mit dem Original verliebt. Die Tragik, die in "Minna von Barnhelm" gleich unter der Oberfläche lauert, kommt hier nur als Ahnung vor: dass Tellheim sich mit seiner ehrpusseligen Sturköpfigkeit um ein Haar um Glück und Leben bringt; dass Minnas schlauer Streich, wenn er überdreht wird, fatale Folgen haben kann.

Aber das Skurrile, Fantastische, ja, auch das meisterlich Angeschimmelte macht das Vergnügen aus, das schon das Premierenpublikum an dieser Inszenierung hat. Großer Spaß und großes Literaturtheater: Sie müssen einander nicht ausschließen.

 

Minna von Barnhelm
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Rap: Fatoni, Musik: Camill Jammal, Licht: Cornelia Gloth, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Natali Seelig, Max Simonischek, Seyneb Saleh, Jeremy Mockridge, Lorena Handschin, Bernd Moss und den Kinderdarstellern: Romeo Rahmoune / Antonia Reichel, Maya Albrecht / Albert Walther, Franziska Becker / Christina Eickhoff.
Premiere am 15. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das Ensemble hat Lust, das Timing flutscht, die Situationen knallen", befindet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (16.10.2022). "Der Trumpf des Abends sind die clownesken Schauspieler, für die Lenk frappante Auftritte und Gangarten erfunden hat und die von der Kostümbildnerin Sibylle Wallum hinreißend verformt wurden."

Nicht nur eingestreuten Songs seien düster. "Auch die Figuren wirken leicht psychedelisch mit ihren übergroßen Schleifen und Plateauschuhen oder dem zotteligem Haar und den weiß geschminkten Gesichtern", so Barbara Behrendt in der Frühkritik im rbb (16.10.2022). Trotz aller Künstlichkeit des Ambientes spiele das Ensemble nuancenreiches psychologisches Theater. Wären da nicht diese virtuosen Spieler:innen, "bliebe der Abend eine bleischwere Angelegenheit". Fazit: "Insgesamt betrachtet verkompliziert, zerdehnt und verdunkelt Anne Lenk Lessings glasklares Aufklärungsstück allerdings unnötig und nimmt der taffen Minna ihre Leichtigkeit."

Anne Lenks Interesse, Klassiker zu inszenieren, rühre daher, zu zeigen, dass wir eigentlich überhaupt nicht vorangekommen seien, entnimmt Christine Wahl vom Tagesspiegel (16.10.2022) dem Programmheft. "Aus diesem interessanten Blickwinkel ergeben sich bei der 'Minna' in der Tat Anknüpfungspunkte. Die Dialektik von ökonomischem und symbolischem Kapital – schon an sich kein ganz komplexitätsfreies Sujet – betrachtet auf der Folie der Geschlechterrollenverhältnisse: Das wäre sicher bereits abendfüllend." Mit Akzentverschiebungen gelinge es Lenk streckenweise tatsächlich, den Stoff zu öffnen. "In anderen Momenten freilich wirkt das wiederum sehr bemüht“, so Wahl, die Lenks Methode dennoch für allemal interessanter hält, "als viele halbgare Dekonstruktionsanstrengungen, die man derzeit auf der Klassiker-Folie so sieht".

Lenk gelinge es, Klassiker ohne Dekonstruktions-Mätzchen sehr frisch gegen den Strich den lesen, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2022). "Gleichzeitig ist ihre Sprachbehandlung so fein und virtuos, dass das Vergnügen der Regisseurin an der Raffinesse der Klassiker ihre spielfreudigen Inszenierungen beflügelt." Dementsprechend angetan ist der Kritiker auch von dieser Inszenierung. Bernd Moss sei ein "Hochleistungskomiker", Seyneb Saleh zeige "pure, umwerfende Spielfreude" und: "Wie sich (Max) Simonischek ohne Scheu vor Pathosgesten durch das Leidens- und Leidenschaftstremolo einer heroischen und dabei etwas lächerlichen Männlichkeit schießt, ist eine Peinlichkeit, die alle Männer im Zuschauerraum für den Rest ihres Lebens vor zu großen Tönen bewahren sollte."

Irene Bazinger von der FAZ (19.10.2022) kritisiert die Eindimensionalität der Interpretation Anne Lenks. Sie konzentriere sich auf "die Frauen- und Männerbilder, auf Prozesse von Emanzipation und Beziehungssteuerung, auf das Geld, das man braucht, und auf das, welches fehlt". Das sei nicht verkehrt, doch es werde übersehen, "(d)ass es sich freilich um Menschen handelt, deren Erfahrungen vom Krieg bestimmt sind, Traumatisierungen eingeschlossen". Lenk liefere eine "hektische Graphic Novel". Sie interessiere sich nicht für Max Simonischeks Figur des Major von Tellheim, weshalb er profillos bleibe und "verhalten bis zur Blässlichkeit, den geknickten Softie gibt".

Kommentare  
Minna von Barnhelm, DT Berlin: Buzzwords
"Das finde ich immer so spannend: zu merken, dass wir eigentlich überhaupt nicht vorangekommen sind. Mich interessiert an diesen alten Stücken daher meist weniger die Frage, was daran heutig ist, sondern was wir eigentümlich versäumt haben", sagt die Regisseurin im Programmheft-Interview ihrer neuen Inszenierung. Mit Lessings "Minna von Barnhelm", die 1767 in Hamburg uraufgeführt wurde, hat sie sich diesmal ein besonders angestaubtes Stück ausgesucht, an das sich aus guten Gründen schon länger keine große Bühne mehr gewagt hat.

Mit der Titelfigur (gespielt von Natali Seelig) gibt es zwar eine überraschend moderne Figur, aber ihr Verlobter und Gegenpol, der Major von Tellheim (DT-Ensemble-Neu-Mitglied Max Simonischek), hängt einem Ehr-Begriff an, der defintiv überholt ist. Diesen Kern des Stücks, der die gesamte Handlung vorantreibt, versuchten Lenk und ihr Dramaturg David Heiligers in ihrer Fassung einfach zur Seite zu schieben: „Er ist bei uns sehr stark in den Hintergrund gerückt (….) Wir wollten uns nicht damit beschäftigen, was Ehre bedeutet (…)“, erklärt die Regisseurin im bereits erwähnten Interview.

Damit tut sich im Zentrum des Abends eine Leerstelle auf. Aber was Lenk und ihr Team stattdessen erzählen wollen, wird nicht klar. Kapitalismus und Krieg geistern als Buzzwords durch das Programmheft, doch zu beiden hochaktuellen Themen haben weder das Interview noch der Theaterabend viel zu sagen. Im verzweifelten Ringen, den Lessing-Klassiker in den Griff zu kriegen, flüchten sich Lenk und ihre Kostümbildnerin Sibylle Wallum in eines der abgedroschnensten Theatermittel, das selten gut geht: aus ihren Figuren werden überzeichnete Figuren. Die Männer sind entweder fahle, zombiehafte, abgerissene Gestalten (wie Simonischek als Tellheim) oder Knallchargen (wie Jeremy Mockridge, der als Paul Werner wie im „Sturm“ erneut als Lachnummer verheizt wird), die Frauen sind in bonbonbunten Kleidern voller Rüschen und Pölsterchen ähnlich lächerlich zurecht gemacht und ebenfalls oft unterfordert (z.B. Lorena Handschin als Wirtin).

Gefühlt dauert der Abend viel länger als die realen zwei Stunden. Das liegt vor allem daran, dass er nie einen richtigen Rhythmus findet. Der exzessive Einsatz von Schwarzblenden und ein paar eingestreute Rap-Einlagen von Fatoni, die Ex-Ensemble-Mitglied Camill Jammal vertont hat, wirken wie Fremdkörper in den mäandernden fünf Aufzügen, die sich bis auf Modernismen und Kalauer nah an Lessings Vorlage halten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/15/minna-von-barnhelm-anne-lenk-deutsches-theater-berlin-kritik/
Minna von Barnhelm, Berlin: Kostüme
Die Kostüme sind umwerfend und der eigentliche Wurf der Inszenierung. Sie katapultieren das Publikum in eine andere eigene Welt, in einen Kunst-Kontext. Die extrem langatmige Inszenierung, die sich an den Text hält, als gäbe es damit einen Preis zu gewinnen, einmal in einem Probenraum ohne Kostüme vorgestellt, ist aufgesagte Langeweile. Der Raum macht was her und auf jeden Fall die Kostüme. Eigentliche Gewinnerin dieser Inszenierung: Die Kostüme.
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