Krieger im Gelee - Claudius Lünstedts Tryptichon als "Szenische Skizze"
Der neue Raskolnikow
von Peter Schneeberger
Wien, 13. Dezember 2008. Der schlimmste Feind sitzt im eigenen Kopf. Winzige Krieger tänzeln in Martins Schädel zwischen den Hirnwindungen herum, bis unter die Zähne bewaffnet pieksen sie ihn mit spitzen Pfeilen, quälen ihn, strotzen vor überschüssiger Kraft und flüstern dem halb wahnsinnigen Spinner zu: "Martin, es gibt kein Gut und kein Böse. Du bist frei."
Damit wäre ein Zentralsatz der Moderne formuliert, der schon Dostojewskis arroganten Studenten Raskolnikow ("Verbrechen und Strafe") plagte und Albert Camus Büroarbeiter Meursault ("Der Fremde") zum Verhängnis wurde. Fröhlicher spielten die Surrealisten mit dem Ende von wahr und falsch: Sie versuchten erst gar nicht mehr, die Wirklichkeit zu einem Ganzen zusammen zu flicken, sondern erklärten den gehobenen Unfug zum Sinn und Zweck der Kunst.
Alle Kunst will Wirklichkeit
Bei Martin endet der moralische Wirrwarr böse: Er entführt einen Teenager, um ihn zu ermorden. Wie einst Raskolnikow will er mit seiner Wahnsinnstat keinen Blutdurst löschen, sondern ein theoretisches Exempel setzen: Um ein Buch, das Martin liebt, gegen Kritiker zu verteidigen, will er die fiktiven Verbrechen der Kunst glorios in die Wirklichkeit überführen.
Der 35-jährige Münchner Claudius Lünstedt hat Martin zur Täterfigur seines Stückes "Krieger im Gelee" gemacht, das gestern am Wiener Schauspielhaus Premiere hatte: Mervin, Martin und Katrin – das Opfer, der Täter und eine Zeugin des Geschehens – schildern dem Publikum knapp zwei Stunden lang die merkwürdigen und bestürzenden Ereignisse. Wie es sich für einen ordentlichen Krimi gehört, gibt es am Ende des Abends auch einen Toten – der entführte Junge freilich ist es nicht.
Lünstedt hat den Abend dramaturgisch als Triptychon angelegt: Monologisch schildern Mervin, Martin und Katrin ihre Sicht des Geschehens. Dass sich die Ereignisse nicht restlos zu einer geschlossenen Wirklichkeit zusammen fügen lassen, passt dramaturgisch formidabel zur literarischen Vorlage, auf die sich Lünstedt mit seinem Stück bezieht: den sechsten Gesang aus Lautréamonts "Die Gesänge des Maldoror" (1868), jenes Buches also, das zum unangefochtenen Lieblingsschmöker der Pariser Surrealisten wurde.
"Aus dem Nichts heraus Angst"
So beziehungsreich der Text auch geflochten sein mag: "Krieger im Gelee" besticht durch Lünstedts Sprache und nicht durch formales Geschick. Bildermächtig, wortgewaltig und interpunktionslos erzählen die Figuren wie folgt: "Schneegestöber immer weiter gerannt zwischendurch überlegt umzudrehen zurück zur U-Bahn jetzt plötzlich aus dem Nichts heraus Angst mich verirrt zu haben Autos dicht an mir vorbei gerast Hupen oft erst im letzten Moment Schweinwerfer erkannt ... kurz vorm Aufprall den Körper noch gebogen geschwitzt mitten im Schneegestöber Kleidung ausgezogen das schottische Lieblingstuch hinter mich geworfen plötzlich aus dem Nichts heraus Angst dass ich unheilbar krank".
Lündstedt zeigt eine auch grammatikalisch aus den Fugen geratene Welt – ohne dabei auch nur im Geringsten an die Wirklichkeit des Theaters zu denken. "Krieger im Gelee" ist ein virtuos und packend geschriebener Prosatext, der alle Macht in die Hände des Regisseurs legt: Am Wiener Schauspielhaus stand Daniela Kranz, ansonsten eine Spezialistin ausgerechnet für die formal perfekt gezimmerten Stücke Anja Hillings, vor der Herausforderung, eine eng geflochtene Erzählung in ein Drama zu verwandeln.
Endlich Spiel
Geglückt ist Kranz dies nur im letzten Monolog: Nachdem Mervin (Vincent Glander) und Martin (Steffen Höld) ihre Texte gleichsam als szenische Lesung absolvieren mussten, gelang es der Regisseurin erst nach einer Stunde, szenische Bilder zu entwickeln: Zwei Spiegel und eine Videokamera vervielfachen Katrins (Nicola Kirsch) Figur, plötzlich sind Requisiten erlaubt (fünf Briefe) und endlich auch wird der Text angereichert um Gestik und Spiel.
Das Wiener Schauspielhaus verfügt über keine Seiten-, Hinter- oder Nebenbühnen, auch sonst haben die Bühnentechniker keinerlei spektakuläre Tricks anzubieten: Szenisch klein bei zu geben, wie dies nach Florian Flicker ("Juli") nun auch Daniela Kranz getan hat, müsste man deshalb freilich nicht. Dass Autoren keine Dialoge mehr schreiben, ist kein Grund, sich auf nuanciertes Rezitieren zurück zu ziehen. Im Gegenteil: Texte wie "Krieger im Gelee" fordern Regisseure mehr denn je.
Krieger im Gelee (UA)
von Claudius Lünstedt
Regie: Daniela Kranz.
Mit: Vincent Glander, Steffen Höld, Nicola Kirsch.
www.schauspielhaus.at
Claudius Lünstedt trug im Januar 2008 an der Berliner Schaubühne zur Deutschlandsaga Abteilung Siebziger Jahre eine Szene bei. Auf www.nachtkritik-stuecke08.de, dem Festivalportal von nachtkritik.de zu den Mülheimer Theatertagen 2008 las Claudius Lünstedt zudem dem Theaterbetrieb die Leviten.
Daniela Kranz war schon im November 2007 bei der Eröffnung der neuen Intendanz Beck am Schauspielhaus mit von der Partie. Sie inszenierte Händl Klaus' Ich ersehne die Alpen; So entstehen die Seen.
Kritikenrundschau
Lünstedts "Krieger im Gelee" säßen im Gehirn, "sie hetzen die Verrückten wie die Normalen. Das dürfte eine der Thesen des Dramas sein", vermutet bp (wahrscheinlich: Barbara Petritsch) in der Presse (15.12.2008). Die drei Darsteller spielten lebendig und gingen "mit dem Wortschwall (schon wieder Textflächen) souverän um". Die Rezensentin wünscht sich zwar nicht "mehr Action statt Frontalvortrag", dafür aber "etwas weniger lineare Geschichten von Jungautoren, die Theorie wälzen und Jungautoren-Werkstätten besuchen, worauf sie statt ernsthaft Realität, Sprache zu knacken, mit Tricks wie abgerissenen Sätzen arbeiten". Dieser Kurzkrimi-Fall handele "als weiteres modisches Thema" zudem noch "das Prekariat" ab und reihe Extremsituationen aneinander: "ein epischer Knallfrosch und auch so wirksam wie dieser".
Ganz gegensätzlich klingt die Sache im Standard (15.12.2008) bei Ronald Pohl, der bis dato "nicht ohne leises Erschaudern" denken musste, dass "hinter den meisten der im Wiener Schauspielhaus so zahlreich uraufgeführten Theaterstücken (...) womöglich ein- und derselbe Urheber" stecke. "Umso erfreulicher" steche Lünstedts Stück mit dem "kunstvoll verrätselten Plot" "aus dem Wust der Schauspielhaus-Veröffentlichungen" hervor. Die "gestochen scharfe Uraufführungsskizze" von Daniela Kranz verwirre den "durchaus fein gesponnenen Erzählmodus nicht" und kürze ihn auch nicht "mit der Inszenierungsschere" ab, sondern setze "auf das unmerkliche Entgleisen dreier Gesichter". Da werde "etwas schwer Benennbares" reihum getragen. So verweigere Lünstedt die "branchenüblichen Stück-Etüden für paarungsunwillige Thirty-Somethings" und sei "einem tieferen Geheimnis auf der Spur". Da sagt der Kritiker: "Chapeau für alle Beteiligten!"
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Doch natürlich gehört es AUCH zum Theater, mit Raum, Licht, Musik, Requisiten zu spielen. Das kann ja mit Sinn und Verstand geschehen und muss nicht zum oberflächlichen Effekttheater werden.
(Wobei ich ohnehin den Eindruck habe, das Vorherrschende ist nicht das Effekttheater, sondern eben das Skizzenhafte, das man ja gerade überall sehen kann).
Aber das sind Geschmackssachen. Fakt ist jedoch, und darum ging es mir, dass der Raum Schauspielhaus keinen szenischen Minimalismus bedingt.
ich kenne das Schauspielhaus ganz gut, aber dennoch hat "Bühnentechnik" recht: Auch ohne Schnürboden ect... lassen sich hervorragende Bühnenbilder herstellen. Wie gesagt, da gibt es ja genug Beispiele. Von Eigenproduktionen früherer Intendanzen bis zu Gastspielen (Festwochen usw...). Aber natürlich kann man das ablehnen und sagen: Das ist uns nicht wichtig ...
Und über das Ensemble kann man wirklich streiten - ich finde, da gab es früher bemerkenswertere, individuellere, vielfältigere Darstellerinnen und Darsteller. Zwar nie ein Ensemble in dem Sinn, aber doch immer feste SchauspielerInnen, die wirkliche Persönlichkeiten waren. Finden Sie nicht? Momentan sind - zugegeben - gute Jungschauspieler engagiert, die aber sowohl von Spiel- als auch von Sprechweise kaum von anderen Häusern zu unterscheiden sind. Diese Art Schauspielstil bekommen Sie heute von Hamburg bis Wien über Berlin wirklich überall...
Insofern fehlen - mir zumindest - die Persönlichkeiten, wegen derer ich ins Theater gehe. (Und damit meine ich nicht blasierte Star-Schauspieler, sondern Darsteller mit Ecken, Macken, Eigenheiten ...)