Schwebeleicht verrätselt

von Otto Paul Burkhardt

Mannheim, 13. Dezember 2008. Frau Firm ist verschwunden. Einfach so. Von heute auf morgen. Alle sprechen darüber. Doch bei näherem Hinhören zeigt sich: Die Verbleibenden reden gar nicht wirklich über die Abwesende, sondern weiter über sich selbst. Sie warten auch nicht auf die Verschwundene, sondern warten auf sich selbst. Und wieder sind wir mitten in einem typischen Theresia-Walser-Kosmos: Eine Runde wunderlicher, verlorener Figuren, denen nicht nur Frau Firm, sondern gleichsam eine generelle Mitte fehlt. Die Personen umkreisen sich und diese Leere. Die Zeit dreht sich um sich selbst.

"Monsun im April" heißt Theresia Walsers neues Stück, in dem manche Figuren behaupten, es sei Spätsommer, wieder andere, es sei Herbst. Während im Textoriginal noch von einem Altersheim und einem Büro die Rede ist, fragmentiert Burkhard C. Kosminskis Uraufführungs-Inszenierung auch diese letzten Anklänge an irgendeine Realität.

Zartbittres im Schwebezustand
Die Bühne ist leer, nur ein Kleiderständer mit gelbem Mantel und ein Arbeitssessel künden von der abhanden gekommenen Frau Firm. Wir sehen Menschen, die vereinzelt im Raum stehen, meist in größtmöglicher Entfernung voneinander. Und Kosminski ergänzt die Szene mit Versatzstücken aus dem Text: Am Rand steht ein altes Klavier, und aus dem Off klingen fahle Schubertlieder ("Fremd bin ich eingezogen"). Kurz, die Regie rückt das Personal deutlich weg von der Wirklichkeit, enttarnt das Ganze als pures Gedankenspiel, wodurch Walsers zartbittere Gesellschaftssatire in einer Art kippligem Schwebezustand vorüberzieht.

Damit nicht alles vollends abhebt, sorgen Spurenelemente aus Boulevard, Krimi und Film für die gelegentliche Erdung der seltsamen Hinterbliebenen-Runde. Maja, bei Isabelle Barth eine resolute junge Business-Frau in strammen Reithosen, bereitet sich schon eifrig darauf vor, die Stelle ihrer verschollenen Vorgesetzten Frau Firm zu übernehmen. So hat sie kaum ein Ohr für ihre noch im Wegdämmern wortmächtige Mutter (Gabriela Badura), die hellsichtig böse Altersheim-Prognosen von sich gibt ("Ab jetzt geht’s wieder abwärts") und in weißer Abendrobe noch immer bedauert, dass Tochter Maja keine Sängerin geworden ist.

Maja hat auch keinen Nerv für ihren langjährigen Geliebten und Indien-Rückkehrer Paul (Sven Prietz), der wie ein Weltanschauungs-Junkie ständig von seinen Erfahrungen und Utopien faseln muss. Frau Gust (Anke Schubert) schließlich, die Ex-Sekretärin der Verschwundenen, verteidigt den vakanten Platz ihrer Herrin mit ständigem Gerede von baldiger Rückkunft.

Maja feilt bereits an einer Firm-Nachfolge-Rede und trainiert (in einer schrillen Pantomime zu fettem Big-Band-Jazz) schon mal aggressive Karrierefrau-Posen – eine starke Regiezutat -, als eine bizarres Paar die Aufstiegsfixierte bremst: Udo (Klaus Rodewald) und Petra (Ragna Pitoll), zwei schräge, laszive, erpresserische Outlaws, behaupten, sie hätten angeblich in einer gemeinsam durchzechten Nacht Frau Firm "abgeschlachtet" – auf Wunsch Majas. Mittlerweile bekennt auch Herr Firm, seine Frau "umgebracht" zu haben. Nur Maja, die Verdrängungskünstlerin, singt ein scheinheiliges Loblied aufs Glück des Verschwindens – als besonders raffinierte Form eines "gelungenen Lebens".

Kosminskis verrätselte Walser-Welt
Das alles inszeniert Kosminski nicht in somnambuler Schwere, sondern in einer plaudernden, ironiefreudigen, zuweilen auch witzig choreographierten Leichtigkeit. Die Welt wird hier nicht zerschreddert, sondern allenfalls verrätselt – scheinbar sichere Sichtweisen werden höchstens gekitzelt und irritiert.

Und immer wenn der mit Merkwürdigkeits-Binsenweisheiten garnierte Tonfall in allzu harmlose Belanglosigkeit abzudriften droht, baut Theresia Walser kleine Stolpersteine und Brechungen ein. Etwa, wenn die Mutter sich an Majas Geburt erinnert – quasi im Vorgriff auf deren spätere Entwicklung: "Als du zur Welt kamst, ..., war es so kalt, dass den Kühen die Ohren abgebrochen sind." Zudem lässt Walser wieder typische Skurrilwortkonglomerate aufblitzen, wenn von "Weltuntergangsverdunkelungen" und "Menschheitsverbesserungsdeppen" die Rede ist.

Was bleibt? Vielleicht die zeitkritische Anamnese einer Sozialgemeinschaft im Lähmungszustand. Aber auch ein eher heiteres kriminologisches Verwirrspiel, ein schwebeleichtes Panorama verdrängter Mordgelüste. Denn am Ende spaziert eine junge Frau über die Bühne, schnappt sich den gelben Mantel und stolziert von dannen. Und Regisseur Kosminski lässt die Verbliebenen zu schwarzen Silhouetten erstarren. Frau Firms Comeback? Möglich. Dann wäre sie, die Verschwundene, die einzig lebendige Person, die nur kurz mal weg war. Und die Verbliebenen wären samt ihrem Geplapper nur Figuren eines temporär aufblühenden, fantastischen Wunsch-Traum-Spiels, das wir eben gesehen haben.

 

Monsun im April (UA)
von Theresia Walser
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Musik: Hans Platzgumer.
Mit: Klaus Rodewald, Ragna Pitoll, Gabriela Badura, Isabelle Barth, Anke Schubert, Sven Prietz, Edgar M. Böhlke.

www.nationaltheater-mannheim.de


Von Theresia Walser wurde zuletzt besprochen: Morgen in Katar, inszeniert von Schirin Khodadadian in Kassel im März 2008; Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm, inszeniert von Alexander May in Nürnberg im Juni 2008.

 

Kritikenrundschau

Theresia Walser sei, so schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (15.12.2009), "der Pointe eine gute Mutti und so etwas wie die Spitzenklöpplerin der zeitgenössischen Dramatik. Die Spitzen, die sie klöppelt, sind verbale, lauter hübsche Gemeinheiten und lustige Fouls." Das Problem sei aber, dass jede Pointe eine Situation beende, statt sie zu öffnen, "und darum treten die Dialoge auch im neuen Stück so lange auf der Stelle". Im jetzt in Mannheim uraufgeführten "Monsun im April" habe die Autorin die Entscheidung getroffen, "es sich mal wieder im Ungefähren gemütlich zu machen". Der Rat der Stückprotagonistin Maja "Verrätselt euch!" gebe zugleich "das Betriebsgeheimnis der Dramatikerin Walser" preis. Regisseur Burkhard C. Kosminski kapituliere vor dem Text und lasse ihn "konzertant vom Blatt uraufsprechen". Überwiegend bleibe es "bei mit nur wenigen Strichen anskizzierten Situationen". Kosminski habe aber "keine schlechten Schauspieler. Ohne sich auf die Pointen draufzusetzen, gelingt es ihnen, das zarte Sprachgespinst im Leben zu verankern".

Wie in allen Stücken der "Albtraum- und Schauermärchenkomödienbauerin" Walser stammen auch die Figuren aus "Monsun im April" aus unserer Angestelltenwelt, bemerkt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (15.12), "aber durch etwas Rätselhaftes, Ungeheuerliches hinausgezogen werden: als hätte ein Irrsinnsgott irgendwo eine Schicksalsturbine in Gang gesetzt, die sie nun unweigerlich ansaugt." Das neue Stück habe "die Form eines Fragezeichens: Es fängt links oben im Ungefähren an, krümmt sich einmal nach rechts, einmal nach links im Gefähren und endet rechts unten wieder im Ungefähren". Kosminskis Inszenierung aber mache "aus Walsers Krümmungen eine Gerade, das Fragezeichen zum Ausrufezeichen. Das Ungefähre zum Bestimmten." Man sehe in Mannheim "kein Rätselstück, sondern eine unterhaltliche Kriminalkomödie ohne Leiche".  "Theresia Walser dramatisiert Vieldeutigkeiten, Doppelbödigkeiten. Kosminski inszeniert Eindeutigkeiten, festen Estrich."

Theresia Walser, die "ihr Personal und ihre Plots gerne im Unklaren lässt", habe "ein für ihre Verhältnisse ziemlich klares Stück geschrieben", meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (15.12.): "Man versteht eigentlich alles". Man werde aber "den Verdacht nicht los, dass Roland Schimmelpfennigs Erfolgsstück 'Die Frau von früher' und 'Dunkel lockende Welt' von Händl Klaus hier bei der Konstruktion doch sehr Pate gestanden haben". Mannheim sei zwar mittlerweile "eine der wichtigsten Adressen für neue Dramatik im deutschen Sprachraum", diesmal reiche es aber bei der Regie von Burkhard C. Kosminski "für nicht viel mehr als ein diffuses Plapper- und Plauderstückchen. Man steht herum und spricht. Dann sitzt man zur Abwechslung." Es gebe "keinen Sinn, der flirrt, und keinen Abgrund, der sich auftut. Der Witz hat sich vollständig verflüchtigt".

Die Autorin Theresia Walser sei "ein Geschenk an das deutsche Theater", schreibt Matthias Heine in der Welt (15.12.), aber leider eines, das die Metropolenbühnen "nicht überall mit dem nötigen Enthusiasmus angenommen" hätten. Weswegen die "die Wege des deutschen Gegenwartsdramas" vorerst nach Mannheim führten. Walser verfüge über "eine Sprache, die ganz knapp das Ungesagte zwischen den Figuren andeutet, sich aber auch zum poetischsten Humor hinaufschraubt". Und vor allem schreibe sie Stücke "mit einer Handlung und erkennbaren Figuren, die den Spielenden dennoch viele Deutungen offen lassen". Trotz "aller Liebe und Qualität, mit der Kosminski und sein Ensemble das Drama präsentieren", besetze man jedoch "die Rollen in Gedanken mit Schauspielern, vielleicht aus München oder Berlin. Und es liegt nicht an der Schwäche der Mannheimer Aufführung, sondern an der Stärke des Walserschen Stückes, dessen Möglichkeiten man einfach öfter ausgelotet sehen möchte."

Theresia Walser habe mit "Monsun im April" ein "doppelbödiges Traumspiel" geschaffen, meint Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (15.12.), "einen verrätselten Theaterabend", der allerdings "nicht ganz so federleicht zwischen Gesellschaftssatire, Kriminalstück und Boulevardkomödie schwebt, wie Mannheims Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski ihn auf die Bühne bringt". Zu sehr setze Kosminski auf die "unentschlossene Leichtigkeit des theatralischen Seins. Lässig verteilt der Regisseur die Figuren über die Bühne, entscheidet sich weder für realismusorientierte Zugewandtheit noch für formale Verfremdung, vieles wirkt, als sei es nicht konsequent zu Ende gedacht und geprobt."

 

 

 

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