Therapeutisches Theater

24. Oktober 2022. Der Krieg dominierte die fünfte Ausgabe des Festivals. Vier Tage voll ergreifend authentischer Berichte über brutale Erfahrungen, dazu reger Austausch zwischen den Festivalteilnehmer:innen. Doch das Publikum blieb weg.

Von Michael Bartsch

"Wir sind keine Objekte ..." von Yana Humenna © Georg Genoux

24. Oktober 2022. Das Burgtheater an der Bautzener Ortenburg ist ein warmer, freundlicher Ort. Und während des Festivals wartet täglich ein warmes Büfett. Aber der Krieg, vor allem in der Ostukraine, ist bei der diesjährigen Festivalausgabe "Willkommen anderswo" nicht nur thematisch präsent. Der nackte Tod greift ins Programm ein: Oksana Lemishka reiste mit ihrem an den Münchner Kammerspielen entwickelten Projekt "Wiegenlieder des Friedens" nicht an, weil zwei Verwandte eines Teammitglieds in der Ukraine getötet wurden. Und der neue Leiter des gastgebenden Thespis-Zentrums Georg Genoux berichtet, dass der Direktor einer Schule im Donbass, an der er mit Schülern inszeniert hatte, vor wenigen Wochen an der Front gefallen sei.

Der unerbittlich nahe Krieg, den besonders viele Ostdeutsche weit weg wünschen, dominiert dieses fünfte Festival des internationalen Austausches. Das stand schon zu erwarten, nachdem Georg Genoux im Mai die Leitung des 2017 gegründeten Thespis-Zentrums übernahm. Der gebürtige Hamburger hat die überwiegende Zeit seines 48-jährigen Lebens mit Projekten in Moskau, Kiyv oder Sofia verbracht.

"Thespis" wurde damals vom Bautzener Theaterintendanten Lutz Hillmann als eine Art multikulturelle Bürgerbühne ins Leben gerufen – eine Antwort auf die ausländerfeindlichen Übergriffe in der Stadt. Das mit Thespis entstandene Festival "Willkommen anderswo" sei über die Monothematik der Kommunikation von Bautzenern mit Migranten, ja mit Andersgeprägten schlechthin hinausgelangt, konnte man noch 2020 konstatieren. Junge Bühnen aus ganz Deutschland zeigten im gut besuchten Saal des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Fluchtgeschichten aus der DDR, Persiflagen auf den Selbstoptimierungswahn oder Attacken auf deutsches Spießertum.

Selbstverständigung, aber kaum Adressierung an Besucher

Der aktuelle Jahrgang kehrt leider wieder zurück zu einer gewissen Enge. Das gilt sowohl für die Konzeption der Beiträge als auch für die Wahl der künstlerischen Mittel. In einem Satz: Weniger ein Theaterfestival als eine viertägige Erzählwerkstatt. Die Zahl der Besucher überschreitet die der Teilnehmer kaum, man bleibt weitgehend unter sich. Also unter Vertrauten von Georg Genoux, mit denen er entweder seit der ersten russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 mit einer Art Fronttheater vielfältige Kontakte knüpfte, oder unter Freunden, mit denen er seit einem halben Jahr in Bautzen zusammenarbeitet.

Genoux hat das Biografische, das Authentische, das Erzähltheater als sein Faible, ja als die Essenz seines künstlerischen Wirkens entdeckt und zu seinem Lebensinhalt gemacht. Er schaue sich auch die großen Dramen der Literatur gern an, aber in den Geschichten einfacher Menschen, in deren stillem Heldentum offenbare sich für ihn der menschliche Kosmos, bekennt er. Auf die Dokumentation dieser Primärwahrnehmung beschränken sich die eingesetzten Mittel. Dialogisch-konfrontative Elemente fehlen ebenso wie reflektorische. Artifizielle Ansätze entdeckt man bestenfalls in Filmen wie "Mein Nikolajewka" mit wunderbaren Menschen aus einem Dorf der Ostukraine.

Heilung in Gemeinschaft

Schon der Eröffnungsbeitrag verweist auf den Widerspruch zwischen Authentizität und zumindest Semiprofessionalität, der sich bei In-Szene-Setzungen dieses Genres wohl auch kaum auflösen lässt. Zwei Monate arbeitete die ukrainische Choreografin und Performerin Yana Humenna am Thespis-Zentrum mit nach Bautzen geflüchteten Frauen aus ihrem Heimatland, aus Syrien, dem Libanon, aus Afghanistan und weiteren Ländern. Ende Juni zeigten sie ein Bewegungstheater unter dem langen Titel "Wir sind keine Objekte. Wir sind keine Ziffern. Wir sind kein Fleisch".

Diese Frauen sind durch ihre Fluchterfahrungen traumatisiert. Aber Genoux betont, dass es sich beim Stück nicht um eine Therapie handle. Und doch geht es um Heilung, wenn die Geflüchteten über einfache Bewegungsabläufe ihr Körpergefühl, ihr gesundes Selbst wiederentdecken. Sinnlich-haptisch gelingt das besser als über eine Willensanstrengung. "Unverarbeiteter Schmerz wird psychosomatisch", sagt Choreogafin Humenna.
Dem Heilungsgedanken folgt auch eine Soloperformance der jungen Regisseurin Alina Kobernik, die im Zusammenhang mit ihrer Fotoausstellung über die neue Heimat Bautzen entstand. Es ist ein einfaches, sofort nachvollziehbares Bild, wenn sie die Fesseln ihres Seelenkummers und ihrer Depressionen in Gestalt eines Fadenlabyrinths von den Zuschauern zerschneiden lässt.

Auch Sachsen kann ein fremdes Land sein

Das Wortspiel "HeimaTraum" gibt dem Festival die Überschrift. Dem dokumentarischen Prinzip Genoux' folgend, bleibt es aber bei exemplarischen und zweifellos empathieheischenden Berichten über brutale Kriegserfahrungen und den Versuchen ihrer Bewältigung. Zwei "Tagebücher des Überlebens" zählen ebenso dazu wie eine zweistündige Diskussion über Genoux' "Theater in den Frontstädten". Der Theatermann brachte im Donbass unter anderem Schüler mit Frontsoldaten zusammen. In Bautzen präsentieren solche Schülergruppen Ergebnisse ihrer Workshops.

WillkommenAnderswo.Genoux 1000 TheaterBautzenGeorg Genoux in "Das Land, das ich nicht kenne" © Theater Bautzen

Das Stimmungsbild verstärken Konzerte überwiegend ukrainischer Künstler. Am vorletzten Tag erstreckt sich der Erfahrungsaustausch dann auf das gastgebende und zumindest äußerlich friedliche Sachsen. Miriam Tscholl ist zu Gast – wenn man so will, die "Mutter" der Dresdner Bürgerbühne. Nach wie vor arbeitet sie auch für das Staatsschauspiel Dresden und versucht, im weiteren Dresdner Umkreis Dörfer für eine aktive kulturelle Betätigung zu gewinnen. "X-Dörfer" heißt das Projekt, und es erinnert an überaus erfolgreiche Ausflüge der Bürgerbühne in die Sächsische Schweiz bei Landschaftstheaterprojekten wie "Der Fall aus dem All" mit Bürgern aus der damaligen NPD-Hochburg Reinhardtsdorf-Schöna.

Neue Heimat bedeutete für Georg Genoux 2018 auch die niederschlesische Ostregion Sachsen an der Neiße. Erfahren im slawischen Osten, entdeckte er dann erst den "tiefen Osten" Deutschlands. Film und Theater "Das Land, das ich nicht kenne" schildern die Annäherung an schrullig-sympathische Einwohner und an das Milieu des ehemaligen Kraftwerksortes Hagenwerder nahe Görlitz. Aber auch das ist wieder ein Nach-Erzählstück, ein Monolog von Genoux, zu dem seine Gefährtin Nastja Tarkhanova ein modellbahnähnliches Dörfchen auf einem Tisch gebaut hat.

Eine Heimatinsel

Georg Genoux blüht hier auf, entwickelt einen sonst nicht immer spürbaren Humor, der sich auf den Saal überträgt. Vor allem deshalb, weil hinter der Schilderung seiner Kneipenbegegnungen in Hagenwerder, hinter der Offenheit für die seelischen Nachwende-Brüche durch die Deindustrialisierung, für die Traumata der Einwohner und ihren heutigen Frust über den ideellen Verlust der einst gewohnten Heimat eine tiefe Menschenliebe durchscheint. Es ist möglich mit allen zumindest zu reden.

Hier gilt wie beim übrigen Festivalprogramm: Die Beteiligten sind glücklich, darunter zwei Schülergruppen aus der Ukraine. Ihre Sprache dominierte den regen Austausch. Vier Tage der Empathie und großer Nahbarkeit, ja der gegenseitigen Ermutigung. Leider finden nur wenige interessierte Bautzener den Weg ins Burgtheater oder ins benachbarte Sorbische Museum.

Zu hoffen bleibt, dass das Theater nicht auf den Festivalkosten sitzen bleibt – die AfD hatte den Festival-Zuschuss im Finanzausschuss des Stadtrats blockiert, so dass das Theater in Vorleistung gehen musste und jetzt darauf zählen muss, dass eine Stadtrats-Entscheidung Ende November dafür sorgt, dass die 20.000 Euro wie geplant ausgezahlt werden.

Willkommen anderswo 5

Festival unter dem Motto "HeimaTraum" in Bautzen
veranstaltet vom Thespis-Zentrum und dem Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen
Konzeption und Leitung: Georg Genoux
Dauer: 19. bis 23. Oktober 2022

www.thespis-zentrum.de
www.theater-bautzen.de

 

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