Hart wie ein Stein, salzig wie eine Träne

7. November 2023. Heute beginnt in Leipzig die Euro-Scene – mit Miet Warlops Konzertperformance "One Song". Im vierten Teil der Reihe "Histoire(s) du Thèâtre"ihren Performer:innen arbeitet die belgische Künstlerin Miet Warlop im Band-Prinzip: Sie ist die Leading Lady, aber auf der Bühne entsteht der Miet-Warlop-Sound als Gemeinschaftswerk.

Von Elena Philipp

"One Song. Histoire(s) du Théâtre IV" von Miet Warlop am HAU Hebbel am Ufer Berlin © Michiel Devijver

28. Oktober 2022. Schneller, noch schneller. Nicht aufhören, auch wenn der Schweiß alles durchtränkt, die Bewegungen der Kontrolle entgleiten. Noch einmal, und noch einmal: Dieser Song will und will nicht enden. Unbarmherzig tickt das Metronom den Takt. Eine Stunde lang rennen, springen, schreien die zwölf Performer:innen in Miet Warlops Konzertperformance "One Song" an gegen das Verrinnen der Zeit. Verausgabung ist ihr Grundprinzip. Im Juli 2022 hatte "One Song" Premiere beim Festival in Avignon, die Deutsche Premiere zeigt nun das HAU Hebbel am Ufer, an dem Miet Warlop seit zehn Jahren immer wieder gastiert. 

"Now, Now, Now!"

Als vierter Teil in der Reihe Histoire(s) du Thèâtre von Milo Rau und dem NTGent ist "One Song" auch eine persönliche Wiederbegegnung der belgischen Künstlerin mit eigenem Material aus den frühen 2000er Jahren. Auf einer hölzernen Tribüne, wie sie schon in Warlops "Sportband, Afgetrainde Klanken" 2005 auf der Bühne stand, ist ein kleines Grüppchen ins Gespräch vertieft. Schals und Flaggen weisen sie als Fans aus, auch wenn Slogans wie "Now, Now, Now" oder "Shut Up!" sie eher seltsamen Vereinen zuzuordnen. Neben ihnen spricht eine Sportkommentatorin im roten Hosenanzug ohne Punkt und Komma französisch Klingendes in ihr Megaphon. Über der Tribüne weht eine Fahne, rot wie die Strümpfe, blau wie die Schweißbänder, grau wie die T-Shirts der Sportler:innen, die in federndem Trab aus der Garderobe joggen und sich am Bühnenrand aufwärmen. Nummer und Name zieren ihr Oberteil. Die 27, Lenaerts, trägt eine blaue Jogginghose, die 3, Klinck, einen grau berüschten Trikot-Rock, die 99, Beeckaert, einen Boxhelm. 

OneSong3 805 Michiel Devijver uUltras geben alles für ihre "Vereine" © Michiel Devijver

Auf ein Signal der Kommentatorin gehen sie nacheinander an den Start, oder beser: an ihre (Spiel-)Stationen. Elisabeth Klinck reibt ihre Fußsohlen mit Magnesium ein und lässt sich, ihre Geige in der linken Hand, von Willem Lenaerts mittels Räuberleiter auf den Schwebebalken helfen. Oben stellt sie sich in Positur wie eine Turnerin und beginnt, Arpeggien zu spielen, während sie auf einem Bein balanciert oder einen Ausfallschritt wagt. Simon Beeckaert zwängt sich unter den Kontrabass, der auf einer Turnmatte liegt, hakt seine Füße ein und übt unermüdlich seine Bauchmuskeln, während er an den Saiten zupft. Willem Lenaerts stellt sich an die Sprossenwand und katapultiert sich mit einem Sprungbrett immer wieder nach oben zu dem Synthesizer, der an der obersten Sprosse befestigt ist. Und der Drummer, die 45, Melvin Slabbinck, sprintet zwischen den quer über die Bühne aufgestellten Komponenten seines Schlagzeugs hin und her, während Jeppe Tanghe – die 34 – als Sänger auf einem Laufband joggt.

Hier schont sich niemand

Nach und nach schichtet sich so aus den Klängen ein Song – der "One Song", den der Titel verspricht. Energetisch, mitreißend, voller Power vorgetragen. Immer und immer wieder, mit kleinen Variationen, in extremer Zeitlupe oder mit einem Ringtausch der Instrumente. Bis der Schweiß perlt. Der Fan-Chor feuert die Sportmusiker:innen in top-synchronen Choreos an, hüpft flummiartig vor Enthusiasmus oder heult auf, gebeugt vor Enttäuschung. Auch hier schont sich niemand.  

Der im Loop von Jeppe Tanghe vorgetragene Text, den das Publikum zuvor ausgehändigt bekommt, dreht sich um Trauer. Hart wie ein Stein, salzig wie die Träne ist sie. Und von Dauer: "Snap, break, crack, folds, ripples / Grief is here to stay". Übernommen ist der Text aus Miet Warlops "Sportband", so wie Teile des Bühnenbildes. Als diese Performance 2004 entstand, war just Miet Warlops Bruder gestorben, ihm ist der Song gewidmet. Offenbar ist das Kreisen um den Verlust ein Kern ihres Theatermachens, den Warlop für ihre persönliche Histoire du Théâtre reenactet.

OneSong2 805 Michiel Devijver uVerausgabung bis der Schweiß perlt © Michiel Devijver

Ohnehin ist in "One Song" vieles Selbstzitat der belgischen Bildenden Künstlerin, die, 1978 geboren, auf bald 20 Jahre Bühnenschaffen zurückblickt. Auch "Fruits of Labor" war ein performtes Konzert, mit Jeppe Tanghe und seinem Bruder Wietse, der sich hier im Chor der Fans verausgabt. Auch dort pladderten aus dem Schnürboden dicke Tropfen Wasser auf die Snare Drums, einen ganz eigenen Klang erzeugend. Und in "Dranging the Bone" interagierte Miet Warlop mit Gliedmaßen aus Gips, wobei das dritte Bein, mit dem sie damals ein Tänzchen wagte, in "One Song" wiederkehrt und, nun rot gewandet, unbespielt neben den Schenkeln der Kommentatorin ruht. Was fehlt, ist das Live-Action-Painting, das etwa Warlops 2014 von Katie Mitchell zum Stückemarkt des Theatertreffens eingeladene piece Mystery Magnet kennzeichnet. Aber "One Song" ist ähnlich gestimmt, als melancholischer Slapstick. Unterlegt allerdings mit einem energiegeladenen Beat.

Auflehnung gegen die Vergänglichkeit

Der doch einmal enden muss: Am Schluss, einer letztlich simplen Dramaturgie der Erschöpfung folgend, kippen die Performer:innen nach und nach in die Ohnmacht. Zuvor, wenn die Musiker:innen eine Pause brauchten, tanzte Milan Schudel als Cheerleader um die Bühne, stößt einzelne Worte aus, die er als Gipstafeln zuvor wie ein Setzer in der Druckerei auf großen Holzleisten im Bühnenhintergrund angeordnet hatte – WHY, IF, NEVER, OK, DO, HEY, SSST. Fragmente eines Textes: Dissoziation durch Verlust? "One Song" kann man als Auflehnung gegen die Vergänglichkeit lesen, als Referenz auf Trauer als lebenslang andauernden, zyklischen Prozess. Oder als performative Miniatur, die existenzielle Tiefe andeutet, aber eine formale Fingerübung bleibt.

 

One Song. Histoire(s) du Théâtre IV
von Miet Warlop / NTGent
Konzept und Regie: Miet Warlop, Text: Miet Warlop (Beratung: Jeroen Olyslaegers), Dramaturgie: Giacomo Bisordi, Musik: Maarten Van Cauwenberghe, Kostümdesign: Carol Piron – Filles à Papa, Lichtdesign: Dennis Diels, Tontechnik: Bart Van Hoydonck, Raf Willems, Lichttechnik: Laurent Ysebaert.
Mit: Simon Beeckaert, Elisabeth Klinck, Willem Lenaerts, Milan Schudel, Melvin Slabbinck, Joppe Tanghe, Karin Tanghe, Wietse Tanghe, Imran Alam, Stanislas Bruynseels, Judith Engelen, Flora Van Canneyt.
Deutsche Premiere am 27. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Begeistert ist Tobi Müller in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (27.10.2022) von Miet Warlops Steigerungsdramaturgie an diesem Musiktheater-Abend; sie führe in einen "Exorzismus, der mit diesem Song betrieben wird", man "schwitzt quasi mit nach einer Stunde". Der Abend führe die "echten Körper in der Erschöpfung" mit Blick auf die Zurichtungstechniken des Theaters vor. Wie in einer "afroamerikanischen" Kirche oder einer "Pfingstkirche" werde in diesem Stück die "Extase" gesucht. Fazit: "Es macht unglaublich Spaß, ist wirklich eine ganz tolle gute Stunde", die bei allem Spaß eben auch Abgründe aufzeige und den Blick auf moderne Ausbeutungsverhältnisse freigebe.

Beim Zürcher Theater Spektakel hat Ueli Bernays von der Neuen Zürcher Zeitung (22.8.2023) Miet Warlops Produktion als "einen Höhepunkt und richtigen Hype" am Auftakt erlebt. Die Inszenierung punkte "in ihrer Simplizität" mit "viel Power und Witz".

"Was für ein Auftakt zum Theater Spektakel 2023!", ruft Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (19.8.2023) aus. Miet Warlops Arbeit hat "den Geist des Publikums rein in den Flow und seinen Puls nach oben getrieben".

Für Julia Stephan im St. Galler Tagblatt (21.8.2023) war Miet Warlops Arbeit das "intensivste Bühnenerlebnis" des Auftakts beim Zürcher Theater Spektakel 2023: "Warlop feierte Theater als Kraftakt, als kollektive Grenzüberschreitung" und habe eine "präzise Metapher für die Suche nach Intensität und nach Gegenwärtigkeit im Theater, aber auch für Verschleiss und Selbstausbeutung" geboten.

Als "Meisterwerk" erscheint Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (23.8.2023) dieser Abend beim Zürcher Theater Spektakel. "Fünf Unfassbares leistende Performer spielen, singen, verkörpern eine Stunde lang ein Lied – das reine Glück, die Sensation vieler Festivals in diesem Sommer."

Salomé Meier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.9.2023 | €) diskutiert "One Song" beim Zürcher Theater Spektakel als einen "Höhepunkt" des Programms: Wir "sind Teil der Tribüne, Teil dieser kapitalistischen Gesellschaft, auch wir stimmen ein in den Song über das ewige Abmühen, das uns – allem Schmerz zum Trotz – ablenken soll von jenem größeren Schmerz der Trauer".

Kommentare  
One Song, Berlin: Nicht schlüssig
Dieser einstündige Loop ist sehr genau choreographiert und entfaltet seinen Sog. Als Mix zwischen Philip Glass und The Ramones beschrieb eine englischsprachige Kritik ihre Eindrücke nach der Premiere, die im Juli in Avignon stattfand. Einhellig jubelten Guardian und New York Times über ein Highlight dieses prestigeträchtigen Festivals und berichteten von Standing Ovations.

Etwas verhaltener fiel der Jubel nach der deutschen Premiere am koproduzierenden HAU aus, wo der sportliche Konzert-Exzess an drei Abenden in Folge Station macht. Die Energiegeladenheit und Präzision der Performance sind beachtlich. Aber was hat der Abend darüber hinaus zu bieten? Worauf zielt Warlop ab? DLF-Radio-Kritiker Tobi Müller sah darin eine exorzistische Abrechnung mit der Zurichtung und Ausbeutung von Schauspieler*innen- und Tänzer*innen-Körpern, die von Regie und Choreographie angespornt und oft auch über ihre Grenzen hinaus getrieben werden. Diese Lesart passt auch zum Untertitel des Abends, der als Teil IV von „Histoire(s) du Théâtre“ angekündigt wird, einer Reihe von Milo Rau und NT Gent, die 2018 mit der Schaubühnen-Koproduktion „Die Wiederholung“ begann. Natürlich muss sich Warlop dann aber vorwerfen lassen, dass ihre Kritik an der Zurichtung der Körper nicht ohne die Reproduktion der kritisierten Mittel auskommt.

Eine weitere Lesart könnte die Kritik an der toxischen Verbindung von übersteigertem Patriotismus und Sport-Events sein: Hinter der Fan-Tribüne prangt eine fiktive Flagge, am Ende reihen sich alle in typischer Fußballer-Pose mit der Hand auf dem Herz auf, während eine fiktive Hymne abgespielt wird.

Noch eine andere Fährte weist der Text: „Run for your life/´till you die/´till I die/´till we all die“, setzt Tanghe immer wieder neu an. In düsterer Endlosschleife besingt er den Schmerz, der ihn verfolge: Weglaufen zwecklos! Wie in den Vorberichten zu lesen war, liegt dem Stück tatsächlich ein Trauerfall zugrunde: Miet Warlop hat ihren Bruder mit nur 26 Jahren verloren. Die Erzählstränge des Todes und der ekstatischen Fangesänge, die die Sportler*innen antreiben, werden jedoch nicht schlüssig zusammengeführt.

So bleiben nach diesem einstündigen Abend viele Fragezeichen und Elena Philipps Nachtkritik-Fazit, dass der Abend bei allen formalen Qualitäten nur eine Fingerübung bleibt, die inhaltliche, existentielle Tiefe nur andeutet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/28/one-song-miet-warlop-hau-kritik/
One Song, Berlin: Trauer ohne Gefühl
Als jemand, der gerade tief in einem Trauerprozess ist, hat mich das Stück sehr interessiert. Es hat mich beeindruckt, aber nicht berührt. Was mir gefallen hat, war die endlose Schleife, mit immer denselben Bewegungen, Texten und Rhythmen. Das spiegelt die Trauer in ihrem Dauerloop aus den gleichen Gedanken und Gefühlen sehr passend. Durch die kraklige Musik und die enorme Energie aller Akteure kam es mir wird der Versuch einer Austreibung der Trauer vor.
Mir war das Ganze aber viel zu kopflastig - Trauer als Fels zu bezeichnen trifft nicht meine Erfahrung. Meine Trauer ist nicht hart, sie ist schwer und weich zugleich, ein grauer See, der den ganzen Mensch überschwemmt. In diesem Stück war kein Platz zum weinen und bis auf meine Ohren (wegen der Lautstärke) habe ich dort auch keinen Schmerz gesehen. Insofern gehe ich mit der Nachtkritik konform - existenzielle Tiefe war da nicht
One Song, Hamburg: Beeindruckt auf Kampnagel
Mich hat diese energiegeladene Performance bis zum Ende fasziniert. Die Spielenden erfüllen alle ihre Rollen als spielten sie auf Leben und Tod. Sie haben sich scheinbar verabredet diesen „One Song“ am Laufen zu halten. Die Inszenierung war sehr abwechslungsreich und hatte eine absurde Poesie. Die Musiker spielen ihre Instrumente auf selbstverständliche Art ungewöhnlich. So balanciert die Geigerin auf dem Schwebebalken. Der Drummer hat sein Drumset umständlich verteilt, sodass er unentwegt sprinten muss um den Takt zu halten. Der Sänger singt voller Hingabe während er auf einem Laufband läuft. Alle miteinander agieren in einer inneren Logik, die um jeden Preis aufrecht erhalten werden muss. Es hat mir gefallen, dass offensichtlich jede und jeder in diesem Konstrukt gebraucht wird. Mit allen Mitteln muss eine erschöpfte Figur ersetzt werden. Auch auf der Fantribüne. Das Spiel kann nur mit allen Beteiligten genauso gespielt werden. Andererseits wundert man sich irgendwann, weshalb muss es eigentlich genauso weitergehen? Warum müssen sich alle auf diese Weise verhalten? Alles scheint ein Organismus zu sein, der bestimmten Spielregeln unterworfen ist. Alle müssen genau dieses Musikstück weiterspielen, obwohl sie nicht mehr können. Und alle sind aufgrund dieser Spielregeln miteinander verbunden und nicht zu ersetzen. Oder doch? Was macht eigentlich der Cheerleader da? Er deckt die weissen Worte auf? Ist das Metronom ein Diktator oder ein nötiger Puls. Das Publikum kann sich in viele Richtungen Gedanken machen. Die Darsteller schmeißen sich mit beeindruckendem Körpereinsatz in diese Stunde. Standings Ovations heute auf Kampnagel in Hamburg!
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