Endstation Sehnsucht - Anhaltisches Theater Dessau
Vom Nebel verweht
30. Oktober 2022. In Tennesse Williams Südstaatendrama prallt zerbröselnde Bürgerlichkeit auf eine vitale Arbeiterklasse. In ihrer ersten Regiearbeit nach zwei Jahren nimmt sich Mizgin Bilmen viel Zeit, um auf einem Sandberg die Seelenlandschaftstrümmer der verlorenen Illusionen zu zeigen.
Von Tobias Prüwer

30. Oktober 2022. Von links und rechts wabern die Schwaden auf die Mitte zu. Dort steht eine zerbrechliche Frau in Unterwäsche und pinkem Petticoat: Blanche, die Weiße. Aus ihrem Blick spricht Leere und Unverständnis, sie versteht die Welt nicht. Bevor der Krankenpfleger neben ihr sie in die Psychiatrie mitnimmt, erlöscht das Licht, wird die Bühne in jenes Dunkel gehüllt, das Blanche schon lange umgibt: "Endstation Sehnsucht".
Mit diesem starken Bild endet in Dessau ein fragiler Abend. In ihrer ersten Arbeit nach dem Dortmunder Faust vor zwei Jahren, von dem sich die Regisseurin distanzierte, nimmt sich Mizgin Bilmen die Zeit und Ruhe, das Drama in all seiner Zerbrechlichkeit auszuleuchten.
Seelenschau am Sandhaufen
Dafür, dass Tennessee Williams' Stück Streit, Gewalt und Vergewaltigung enthält, wird wenig geschrien. Bilmen touchiert solche Szenen eher als sie auszuspielen. Die Regisseurin ist nicht an Gewaltpornografie interessiert, sondern an der Figurenkonstellation. Dafür lässt sie ihre Protagonisten in einem riesigen, sich drehenden Sandhaufen spielen, der an Samuel Becketts "Glückliche Tage" erinnert. Absurd wird es, als ein Mann in Eisbär-Hunde-Kostüm um Blanche buhlt und Männchen macht. Ansonsten bestimmt minimalistischer Realismus rund um den Sandhaufen das Dramen-Dreieck aus Blanche, ihrer Schwester Stella und Schwager Stanley.
Verlorene unterm Südstaatenmond: Mirjana Milosavljević, Niklas Herzberg, Sebastian Graf, Cara-Maria Nagler, Valentin Erb © Claudia Heysel
Die Schwestern stammen aus verarmten Südstaaten-Landadel, Stanley ist Proletarier und Stella eigentlich mit ihm glücklich. Bis Blanche in ihre Beziehung platzt und sich in der Wohnung der beiden einrichtet. Sie inszeniert sich als Dramaqueen, lässt kein gutes Haar am "Polacken" und "Affen" Stanley, gibt sich Illusionen und Selbstlügen hin – und alle glauben es ihr. Bis die Wahrheit ihrer Biografie ans Licht kommt und die Gewaltorgie beginnt. Das ist gut gespielt und fällt so nuancenreich aus, dass der zugrunde liegende Konflikt seltsam vage bleibt.
Der Typ von nebenan
Stanley zum Beispiel kommt einfach zu sympathisch daher. Ja, er raucht und trinkt unentwegt, flucht und zuckt mit den Muskeln. Aber Sebastian Graf zeigt ihn nicht als Abziehbild eines häuslichen Tyrannen oder als überzeichneten Proll. Seine Körpersprache strotzt vor Kumpeligkeit, so dass er nicht wirkt wie der ordinäre Barbar, als den ihn Blanche durchweg behandelt und beschreibt. Er mutet an wie der etwas einfachere Typ von nebenan, der immer zur Stelle ist, wenn er gebraucht wird. Stanley ist darum nicht nur Täter, aber auch.
Blanche hingegen erscheint auch nicht allein als die überkandidelte Prinzessin, sondern als komplexer Charakter, der zurecht im Mittelpunkt steht. Mirjana Milosavljević gibt sie als schillernde Person, die sich von dezenter Überheblichkeit in eine beleidigende Furie verwandeln kann und dann wieder zur fragilen Frau wird, die eigentlich nur ein für sie gutes Leben führen möchte. Ihre Präsenz ist famos, egal, ob sie nun hinten oder ganz vor im Nebel umfluteten Rampenlicht steht. Ihrem variantenreichen Mienenspiel zu folgen, ist eine Freude.
Fragil, distanziert
Wie die Darstellenden die riesige Bühne bespielen, ist beeindruckend. Da Dessau ein Mehrspartenhaus ist, an dem auch Oper und Tanz stattfinden, ist der Vorraum vorm Eisernen groß – und damit auch der Abstand zur eigentlichen Bühne. Ihn zu überbrücken, den Raum zu füllen, vermögen sie gut. In ihrem Spiel legen sie eine Zerbrechlichkeit an den Tag, die nichts mit Williams' Klassenkonflikten zu tun hat. Auch eindeutige Täter-Opfer-Zuweisungen werden nicht getroffen. Der Stoff wird hier zur nicht mehr nachvollziehbaren Staffage. Alle stapfen im Sumpf des Allzumenschlichen herum, sind getrieben von Begierden und Sehnsüchten. Aber obwohl die Spielerer:innen das Grundgefühl von Tristesse, Zweifel und Verzweiflung gut treffen, haftet der Inszenierung etwas Distanziertes an. Man ist trotz individuell überzeugendem Spiel nicht dicht an den Personen und dem Geschehen.
Alles wirkt wie in Ferne gerückt, berührt zu wenig. Das mag etwas mit der Bühnensituation zu tun haben, vielmehr aber noch mit dem Stück. Die ausgehandelten Konflikte scheinen mit dem Nebel der Zeit hergeweht zu sein, sicht-, aber nicht greifbar. So, wie die Schwaden am Schluss nach drei Stunden die zerbrochene Blanche und ihren medizinischen Begleiter einhüllen und die klare Sicht auf sie nehmen.
Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Inszenierung: Mizgin Bilmen, Bühne: Sabine Mäder, Kostüme: Martina Lebert, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Alexander Kohlmann.
Mit: Jasper Engelhardt, Valentin Erb, Sebastian Graf, Niklas Herzberg, Mirjana Milosavljević, Cara-Maria Nagler, Nicole Widera.
Premiere am 29. Oktober 2022
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
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