Die bleierne Welt des Jahres 1900

4. November 2022. Überall werden strukturelle Gewalt, Misogynie und der Mythos vom künstlerischen Genie diskutiert, die schon in Gerhart Hauptmanns Künstlerdrama "Michael Kramer" allen das Leben beschweren. Ingo Kerkhof hat es jetzt mit Uwe Eric Laufenberg in der Titelrolle inszeniert. Ist irgendwo Licht oder gar Erlösung in Sicht?

Von Esther Boldt

"Michael Kramer" von Gerhart Hauptmann am Hessischen Staatstheater Wiesbaden © Karl und Monika Forster

4. November 2022. Denn alles Hohe wird erniedrigt werden, und alles Stolze sich beugen müssen. Die Schönheit wird in den Dreck gezogen, das Genie durch den Mob in den Tod gehetzt. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden hat eine Ausgrabung gemacht: Gerhart Hauptmanns äußerst selten gespieltes Stück "Michael Kramer".

Ein Künstlerdrama, im Jahr 1900 uraufgeführt. Darin: Ein Patriarch wie aus dem Bilderbuch, der seinen Sohn noch als 17–jährigen verprügelt, der von seiner Tochter verehrt wird und von seiner Frau gefürchtet; ein alternder Künstler, der versucht, sein Lebenswerk zu vollenden – und dem dies nicht gelingt.

Drama des unverstandenen Künstlers

Nicht nur, weil sein letztes Bild von Jesus mit Dornenkrone diesen Michael Kramer nicht zufrieden stellt. Auch das Lotterleben seines Sohnes Arnold nagt an ihm, dieses griesgrämigen, hässlichen Nichtsnutzes, der aus Vaterperspektive sein großes Talent verschleudert, indem er sich nachts herumtreibt und am Tage nichts schafft.

Seine Tochter Michaline dagegen hat aus seiner Sicht zwar Fleiß, aber keinen "Funken". Statt zu heiraten, hat sie eine Malschule für Damen gegründet, und sich hiermit einige Vaterverachtung erworben. Den verlorenen Sohn suchen sie alle drei vergebens zurück auf den rechten Weg zu schimpfen – die Mutter ekelt sich vor ihm, der Vater attestiert ihm einen verdorbenen Charakter. Schließlich wird er sterben. Ach. Generationenkonflikt trifft auf das Drama des unverstandenen Künstlers, die Vater-Sohn-Geschichte auf das eher unglamouröse Leben der Bohème.

Klug verschlankt und entstaubt

Ingo Kerkhof hat das Fundstück im Kleinen Haus des Staatstheaters inszeniert, in einer Black-Box von Bühnenbild (Anne Neuser): schwarze Wände, schwarze Decke, eine herabhängende Lampe, Holzstühle, ein kleiner Tisch. Darin spielt kein anderer als Intendant Uwe Eric Laufenberg diesen Kramer, der sich so sehr Nähe und Vertrautheit seines Sohnes wünscht, und ihn mit seinen hochfahrenden Beleidigungen doch nur vor den Kopf stößt. Der sich in einem Moment nahezu sehnsüchtig an ihn schmiegt, um ihm im nächsten die kalte Schulter zu zeigen, als Arnold nicht spurt: Vaterliebe will verdient werden. Mit Gehorsam.

Arnold (Paul Simon) ist eine steife Elendsgestalt, den Kopf oft schiefgelegt, als sähe er nicht recht, oder den Blick auf den Boden gerichtet wie ein trotziger, zorniger Teenager. Er mag seinen Platz in der Welt nicht finden. Nicht im kalten Elternhaus, nicht in der Kneipe, in der er allabendlich Wirtstochter Liese Bänsch stalkt, bis es den Stammtischbrüdern zu bunt wird und sie ihn provozieren, jagen. Hauptmanns Text wurde klug verschlankt und eingekürzt, entstaubt. Ergänzt wird er um zeitgenössisches Material, wie Albert Girauds Gedichtsammlung "Pierrot lunaire", vertont von Arnold Schönberg, oder auch das Volkslied "Lieschen komm ein bisschen". Doch beides, sowohl der große Kunstsinn als auch die ausgestellte Zotigkeit, wirken mitunter bemüht.

Mythos vom künstlerischen Genius

Die atmosphärisch dichtesten Momente entstehen im Wirtshaus, wo Michaline (Lena Hilsdorf) und Lachmann (Matze Vogel), ein ehemaliger Schüler ihres Vaters, an der schwarzen Theke stehen und sich knapp über die Enttäuschungen ihres Lebens austauschen, ohne zu wissen, dass im Nebenraum gleichzeitig die Stammtischbrüder Arnold provozieren; und sich Liese vor den Trinkern an Michalines Tisch rettet wie auf ein Floß. Da wird die alltägliche, subtile Gewalt, die in diesem Mikrokosmus herrscht, so real wie die zarte Trauer um das Lebensglück, das sich schlicht nicht einstellen mochte.

Michael Kramer 3 Karl und Monika Forster Dunkle Welt im Wirtshaus: Klara Wördemann, Lena Hilsdorf und Matze Vogel © Karl und Monika Forster

Dennoch: Alles in allem war diese Ausgrabung der Mühe nicht wert. Während anderswo der Mythos vom künstlerischen Genius zurecht reflektiert und infrage gestellt wird, hebt ihn das Staatstheater Wiesbaden ungebrochen auf die Bühne, während strukturelle Gewalt, Misogynie und Menschenverachtung im Jahr 2022 zumindest nicht mehr allerorten für selbstverständlich genommen werden, reitet man in Wiesbaden lustvoll auf sexistischen Zoten herum. Ach.

Wie hat einmal eine kluge Frau gesagt? Wenn bestimmte Bilder immer und immer wieder wiederholt werden, vermittelt dies uns die Botschaft, dass es kein Entkommen gibt, keinen Ausweg. Und das soll es hier wohl auch. Die Welt des Jahres 1900, sie bleibt. Und bleibt. Und bleibt.

 

Michael Kramer
von Gerhart Hauptmann
Regie: Ingo Kerkhof, Bühne: Anne Neuser, Kostüm: Britta Leonhardt, Musik: Felix Kroll, Licht: Steffen Hilbricht, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Uwe Eric Laufenberg, Evelyn M. Faber, Lena Hilsdorf, Paul Simon, Matze Vogel, Mylène Dück, Benjamin Krämer–Jenster, Klara Wördemann, Noah L. Perktold, Felix Strüven, Max Mehlhose–Löffler, Andreas Jolk, Klaus Flemming.
Premiere am 4. November 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater–wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

"Ingo Kerkhofs Inszenierung holt das naturalistische Drama auf nahezu leerer Bühne (Anne Neuser) aus der Jahrhundertwende in eine vage an die Sechziger Jahre erinnernde Zeitlosigkeit", schreibt Matthias Bischoff in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.11.2022). Das aber tut dem Stück aus Sicht des Kritikers nicht nur gut. Denn dessen Figuren seien "auch jenseits des auf den Ausnahmemann fixierten Geniekults durchwegs zeitgebunden, den Abstand reflektiert die Inszenierung aber nicht."

Von "grundsolidem Schauspielertheater" spricht Jens Frederiksen im Wiesbadener Kurier (7.11.2022) und hebt besonders Lena Hilsdorf, Paul Simon und Uwe Eric Laufenberg hervor. Regisseur Ingo Kerkof habe sich dem Stück "unaufgeregt und sachlich" genähert. Allerdings macht der Kritiker Kerhof auch für manche Länge des Abends verantwortlich und findet die Ausgrabung des selten gespielten Stücks letzlich nicht lohnend.

"Glänzend besetzt und szenisch zwingend verdichtet im kargen Bühnenraum Anne Neusers" forsche Ingo Kerkhof in diesem vielschichtigen Drama "nach Spuren von künstlerischen Epochenbrüchen", schreibt Bettina Boyens in der Frankfurter Neuen Presse (7.11.2022). Intendant Uwe Eric Laufenberg agiert in der Titelrolle aus Sicht der Kritikerin "durchweg überzeugend."

Ingo Kerkhofs "durchaus auch stilisierte Inszenierung" gehe "sicher auf Kosten des Vater-Sohn-Dramas, überhaupt auf Kosten psychologischer Zusammenhänge", diagnostiziert Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (9.11.22). "Sie ist aber ein origineller Versuch, eine Stimmung in der Schwebe zu zeigen und hören zu lassen – das Alte fast vorbei, das Neue noch nicht offiziell, und die Menschen verhalten sich schon entsprechend, wissen es aber nicht", urteilt die Kritikerin.

 

Kommentare  
Michael Kramer, Wiesbaden: Schöne Kritik
Schöne Kritik.
Den ganzen Kosmos beschreibend.
Um doch verfehlend.
Wie alles im Leben.
Und alles auf dem Theater.
Aber trotzdem schön.
Danke
E.
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