Cabaret - Düsseldorfer Schauspielhaus
Verruchte Lebenslust
6. November 2022. Eine Coming-of-Age-Geschichte im Puls der Zwanziger – und der Faschismus lauert schon in den Straßen der Metropole Berlin. André Kaczmarczyks aktualisiert und inszeniert das berühmte Musical (auch) als Akt der schwulen Selbstbehauptung. Mit dem Willen zur ganz großen Show.
Von Martin Krumbholz

6. November 2022. Jahreswende 1929/30 in Berlin. Noch ahnt niemand, dass die pulsierenden Zwanziger, der Tanz auf der Asche des Ersten Weltkriegs, ein bizarr kurzes Interregnum sein werden. Ein angehender britischer Schriftsteller, Cliff Bradshaw, kommt in die Metropole, lebt sich aus, bandelt mit einer attraktiven Nachtclubsängerin an, schwängert sie, ist aber sexuell noch ein wenig desorientiert, verlässt schließlich die Stadt wieder, als die Nazis unübersehbar das Geschehen zu dominieren beginnen. "Good-bye to Berlin", so der Titel der Erzählungen, auf denen das Musical "Cabaret" von 1966 und der Film von Bob Fosse (1972) basieren.
Die Politik kommt nicht zu kurz
Und heute, 90 Jahre später? Mussolini-Revival, Trump ante portas, Xi Ping allein zu Haus, Putin sowieso, Le Pen vielleicht das nächste Mal, Klima fast schon verpasst – ohne allzu schwarz malen zu wollen, man kann nicht unbedingt sagen, die Dinge hätten sich eindeutig zum Besseren gewendet. Auch lässt André Kaczmarczyk in seiner Regie-Sause am Düsseldorfer Schauspielhaus die Politik keineswegs zu kurz kommen, im Gegenteil.
Berlin kotzt auf die Straße
Besonders, wenn die vaterländischen Gesänge angestimmt werden und eine Frau sich in hellblaues Lederzeug legt (die Nazi-Embleme sind leicht verfremdet), können einem schon mal Schauer über den Rücken laufen. "Berlin kotzt auf die Straße", heißt es. Aber taugen die Mittel, die vor fünfzig Jahren blendend funktioniert haben, um eine smarte Coming-of-Age-Geschichte düster zu grundieren, auch heute noch, um dieselbe Story angemessen zu reaktualisieren? Oder haben diese Mittel, die dem Film etwa acht Oscars einbrachten, sich nicht doch ein wenig verbraucht? Der Kit-Kat-Club als Ort verruchter Lebenslust, die erst peripher, dann zentral platzierten Nazis, die frivolen Songs, von den Schlägern genauso goutiert wie von den anderen, die konventionelle Love-Story, die partout nicht aufgehen will, weil der Engländer seine Gefühle noch nicht sortiert hat?
Der Kit-Kat-Club als Ort berühmter Sündenpfuhl: Valentin Stückl, Jill-Marie Hackländer, Lara Hofmann, Jacob Zacharias Eckstein, Lou Strenger, Bridget Petzold, Malin Tusche, Miro Mitrovic, Gesa Schermuly und Kit-Kat-Klub-Band © Thomas Rabsch
Zweifellos ist Kaczmarczyk selbst eine fabelhafte Besetzung für den androgynen Conférencier des Clubs; ähnliche Rollen hat er schon oft gespielt, und er beherrscht sie aus dem Effeff (solange er es nicht mit peinlichen Genital-Gimmicks übertreibt). Die Musik (Leitung Matts Johan Lenders) peppt, ist aber auch recht gefällig, reibt oder knirscht an keiner Stelle. Lou Strenger in der Liza-Minelli-Rolle der Sally Bowles ist gesanglich, wie immer, eine Wucht. Auch die großen Gruppenszenen passen. Jedenfalls hinreichend, um das Publikum zu Ovationen zu animieren. Aber die Handlung, jenseits von Musik und Choreografie, erscheint plötzlich banal bis zur Dürftigkeit. Das liegt an den szenischen Mitteln, wie sie das Drehbuch schon hergibt.
Räuberpistole und Sentiment
Nazis auf der Bühne haben fast immer einen Touch von Räuberpistole. Sie sind entweder smart oder rüpelhaft; ein Drittes gibt es nicht. Umgekehrt kommen Juden selten ohne eine dicke Portion Sentiment aus. Sie sind gutmütig, naiv und rennen blindlings ins Verderben. Der schüchterne Gemüsehändler, der seinem Fräulein Schneider Apfelsinen und Ananas offeriert, überhaupt der ganze "Traum von der Trauung" (Thomas Wittmann / Rosa Enskat): Das ist purer Kitsch. Man bietet ihn einem Broadway-Publikum an, das selig weinen will, wenn es um den Holocaust geht. Im Film lassen sich solche Peinlichkeiten an den Rand drängen, auf der Bühne nicht. Hier hat jeder Strang der Geschichte volles Gewicht.
Politik und die ganz große Show: Valentin Stückl, Rob Pelzer, Raphael Gehrmann, Yaroslov Ros © Thomas Rabsch
Der Versuch, diese Geschichte in einen Gay-Liberation-Act umzudeuten, mag im Sinn des ursprünglichen Autors Christopher Isherwood sein, aber funktioniert er wirklich? Es ist ja bezeichnend, dass der männliche Protagonist (hier spielt ihn Belendjwa Peter recht hölzern) in den unterschiedlichen Fassungen mal hetero-, mal bi- und mal homosexuell gedeutet wird; man konnte sich nicht entscheiden, was dem Zeitgeist zuzumuten war. "Bist du schwul?", fragt Sally ihren Freund, auch in dieser Fassung, ganz offen. Antwort gibt es keine. Man kann die Hintergründe im Programmheft nachlesen, auf der Bühne sieht man davon: nichts. Stattdessen: eine wirklich große Show. Eine komfortable Drehbühne. Tingeltangel. Auch einiges an nackter Haut. Ein bisschen schwül alles. Da steckt eine Menge Arbeit dahinter, zweifellos. Und dennoch sind die stehenden Ovationen für diesen Abend alles in allem ein bisschen wohlfeil erwirtschaftet.
Cabaret
Buch von Joe Masteroff nach dem Stück "Ich bin eine Kamera" von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood. Gesangstexte von Fred Ebb. Musik von John Kander. Deutsch von Robert Gilbert. Orchesterfassung von Chris Walker.
Regie: André Kaczmarczyk, Musikalische Leitung: Matts Johan Leenders, Choreografie: Bridget Petzold, Bühne: Ansgar Prüwer, Kostüm: Martina Lebert, Licht: Konstantin Sonneson, Sounddesign: Torben Kärst, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit: André Kaczmarczyk, Lou Strenger, Belendjwa Peter, Raphael Gehrmann, Rosa Enskat, Thomas Wittmann, Claudia Hübbecker sowie Studierenden des Schauspielstudios Düsseldorf.
Premiere am 5. November 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
Der Stoff bedeute "Sex, Rausch, Jazz und ein bisschen Realität", aber auch "Tanz, Gesang und konzentriertes Spiel", so Sema Kouschkerian in der Rheinischen Post (7.11.2022). Dieses "Gemisch" benötige "künstlerische Finesse, um seine Strahlkraft zu entfalten" und "eines Meisters, der aus der aufgekratzten Lack-und-Leder-Community die Brüchigkeit des Lebens herauszuschälen vermag". Dahingehend sei der Düsseldorfer Abend "etwas schwach auf der Brust". Stark seien hingegen viele Einzelleistungen: Lou Strenger sei "ein Vergnügen", "stark" die Szenen mit Rosa Enskat und Claudia Hübbecker. Das Publikum habe den Abend "mit Ovationen im Stehen" gefeiert.
In André Kaczmarczyks Inszenierung gerate das Erfolgsmusical "zu oft unter die Räder kulinarischen Entertainments", befindet Lars von der Gönna in der NRZ (7.11.2022). "Viel mehr als nötig" käme "als sexy Show rüber, was nah am Abgrund siedelt". Der Abend sei "ein bisschen gefühlig, sehr imposant" und "leicht konsumierbar in ach so schwerer Zeit", meint der Kritiker: "Nie und immer wird dieses 'Cabaret' ein Reinfall in Sachen Auslastung."
"Aufgedonnertes Showbusinnes im Look der 1930er Jahre" zeige André Kaczmarczyk mit dieser Inszenierung, meint Michael-Georg Müller in der WAZ (7.11.2022). Dank der Live-Band schnellten zwar "die Temperaturen in die Höh'", reine Schauspielszenen wirkten allerdings "zäh" und "die Dialoge flach und banal". "Nachdenkliche Zwischentöne" seien "nicht mehr als reine Pose", was im Ergebnis "eine pompöse Show", aber "ultraseichtes Schauspiel" ergebe.
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Wird immer ausverkauft sein. Die Zahlen werden also stimmen und das Düsseldorfer Schauspielhaus hat seinen Wechsel zur Musical-Bühne endgültig vollzogen.
Klar, mit den Mitteln des Musicals, es ist kein literarisches Meisterwerk. Aber wenn man Musical nicht mag, sollte man vielleicht nicht ins Musical gehen. Sicher ist dieser Abend keine weichgespülte Musikshow, sondern ein ungewöhnlicher Theaterabend mit Haltung und viel kreativer Power. Für mich die bisher beste Cabaret-Inszenierung! Ich gehe sicher nochmal rein und bringe Leute mit!
Das war in meiner Wahrnehmung ein Abend,der wie so selten nur noch,komplett unter die Haut ging und die Reaktionen des Publikums sprechen da für sich-musikalische Produktion hin oder her.
Selten eine so kompakte,in sich greifende Cabaret-Inszenierung gesehen,mit einer überragenden Lou Strenger als Sally Bowles,einem Ensemble,dass vor Spielfreude nur so strotzt und einem wundervollen Orchester unter der Leitung von Matts Johann Leenders.
Man kann der Produktion nur wünschen,dass die Zuschauer sich nicht von den Kritiken abschrecken lassen und sich selbst ihr Urteil bilden.
Danke für diesen außergewöhnlich tollen Abend!
Vielleicht liegt es einfach am Werk selbst, das darauf ausgerichtet ist, überwiegend eine Vergnügungsreise zu sein.
Deshalb wurde der Applaus keineswegs wohlfeil eingesammelt. Vielmehr ließ sich das Publikum berühren. Sein Weg war weit, vom hedonistischen Rausch bis zum beklemmenden Erkennen des bevorstehenden Endes einer Zeit, in der die Zukunft Freiheit und Gleichheit der Menschen versprach.
Es ist ein bisschen typisch für das Feuilleton (oder was sich dafür hält), dass einer Show der Prozess gemacht wird. Flach, simpel, hölzern, ranschmeisserisch, korrupt, etc .
Genau so ist das ! Das Ist der Sinn der Veranstaltung. Erst recht wenn es sich um ein Musical aus dem Angloamerikanischen Raum handelt. Mann kann es lassen, und stattdessen eine Textfläche einer jungen, urbanen Autorin mit Migrationshintergrund, die aufgrund ihres diversen Geschlechtes in Weißrussland in Einzelhaft sitzt, mit Musik unterlegen. Ich fürchte allerdings, das hat dann nicht denselben Unterhaltungswert , den diese Show anscheinend dann doch hat. Und dem Publikum seinen Geschmack abzusprechen, weil es das anscheinend auch noch feiert, ist einfach nur hilflos. Letztlich freut es mich sehr, wenn die Leute das feiern. Mich freut in letzter Zeit überhaupt sehr, wenn Menschen wieder ins Theater gehen. Und ja - auch um jeden Preis. Denn so versündigen, an Anspruch und Intellekt, kann sich Theater gar nicht. Dazu ist es nicht wichtig genug .
Ist nur eine Meinung ! Keine These !
Nur selten wurde ich in einer Theatervorstellung dermaßen abgeholt.
Wie gut hat das Ensemble Stimmungsschwankungen zwischen Euphorie und Betroffenheit erzeugt.
Das Publikum zu Totenstille und dann aber auch wieder zum Rasen zu bringen ist für mich Kunst reinsten Wassers.
Der Bezug zur Aktualität traf den Nagel auf den Kopf und das komplette Publikum zum Stehen zu bringen, nachdem der letzte Ton verklungen war, das heißt in Deutschland schon was.
Nein, mit den offiziellen Kritik kann ich mich überhaupt nicht identifizieren (...)
Hier schafft man es den Geschmack des Publikumszu treffen, denn darauf sollte es im Theater nun mal ankommen.
Wenn dann noch zusätzlich eine Botschaft gesendet wird, kann der Daumen nur steil nach oben gehen.