Bounce, bounce, bäm!

7. November 2022. Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker gibt’s jetzt auch als Oper: Theatermusiker Franz Wittenbrink hat die Musik geschrieben, Schauspielerin Dagmar Manzel gibt ihr Regiedebüt – mit Beatboxer, Limonadenbaum und steppendem Pferd. Was für ein Vergnügen!

Von Stephanie Drees

"Pippi Langstrumpf" an der Komischen Oper Berlin © Barbara Braun

7. November 2022. Erwachsen sein? Wer will DAS schon?!? "Große Menschen haben niemals Spaß, nur Hühneraugen!", singt Pippi und ihre roten, horizontal abstehenden Zöpfe wippen zustimmend im Rhythmus der Musik. Erwachsene haben immer zu tun mit dem, was sie Arbeit nennen. Also, was ist die Lösung des Dilemmas? Zum Beispiel Zauberpillen. Na ja: Eigentlich sind es Erbsen. Aber in einer Art schamanischem Ritual, in dem Pippi und ihre neuen Homies Annika und Tommy um das kugelige Gemüse tanzen und ordentlich mit den Beinen bouncen, wirkt der grüne Snack magisch: Niemals groß werden!

Wo das Herzblut zirkuliert

Jedenfalls verspricht Pippi das, aber wir, die im Publikum sitzen, wissen Bescheid: Hier, in der Komischen Oper Berlin, ist die berühmteste Ich-mache-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Persönlichkeit (und von diesen Persönlichkeiten gibt es quer durch die Weltgeschichte ja einige) am Werk. Bei Pippi ist es eben anders: alles nur ein kleines Verwirrspiel, ein Flirt mit den Möglichkeiten. Das hat Pippi L., diese godmother der konventionsbrechenden Figuren, die größer ist als der Pumuckl, größer als der Joker, ach, größer als Harry P., eben drauf wie keine andere: Alltagsanarchie. Ja, es ist natürlich DIE Pippi. Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf. Bounce, bounce, bäm!

Pippi2 Barbara Braun uPippi und die Banditen: Devi-Ananda Dahm zwischen Bernd Stempel und Christoph Jonas © Barbara Braun

Regisseurin Dagmar Manzel, selbst ein Star der Komischen Oper, feiert sie mit ihrem Team im großen Stil. Die Schauspielerin, jahrzehntelang prägend am Deutschen Theater und im Kino, zuletzt Frankentatort-Kommissarin und die Operettenkönigin hier am Haus, führt zum ersten Mal Regie: in einer Kinderoper, die Franz Wittenbrink, ebenfalls einer der Profiliertesten seines Faches, als Auftragswerk für das Haus geschrieben hat. Das Libretto verfassten Susanne Lütje und Anne X. Weber. Zwei Jahre war Manzel mit dem Projekt beschäftigt. Durch diese "Pippi" strömt das Herzblut der Beteiligten, es zirkuliert und kocht in ihr.

Im Limonadenbaum

Das ist es wohl in erster Linie, was den Saal, vor allem die Noch-Nicht-Hühneraugenträger:innen, an diesem Nachmittag mitgehen lässt. Auch ist da ein musikalischer Gemeinschaftsraum, in dem alle feiern können, denn vieles funktioniert hier wunderbar: ein oft grooviger Sound, in dem Blech und Holz einander fröhlich die Hand reichen, ein stimmsouveräner Kinderchor mit rhythmischen Choreos – und mit Devi-Ananda Dahm eine kraftstrotzende, körper- und stimmintelligente Hauptdarstellerin, die wirklich wie Faust aufs Äuglein in diese Rolle passt.

Villa Kunterbunt und der Garten, durch den sie turnt, sind stark stilisierte, auf geometrische Formen reduzierte Gebilde: Ein fünfeckiger Rahmen aus Holz mit Treppe in der Mitte, Bett auf dem Boden und Rutschstange an der Seite deutet Pippis Heimstatt an. Die Bäume sind hohe, grüne, rechtwinklige Ecken, die leuchten können. Innen hohl, begehbar wie Pippis Limonadenbaum, perfekte Verstecke, deren Inneres wir sehen können, wenn die Drehbühne den Blick freigibt. Dort sitzen auch Annika und Tommy, wenn sie dem ermüdenden Müßiggang frönen, bevor Pippi in ihr Leben crasht: "Mir ist so laaaangweilig!" Schlau ist dieses Bühnenbild in seiner kunterbunten Einfachheit, lässt es doch im wahrsten Sinne Raum für das Aktionen-Tableau der Spieler:innen.

Hier steppt das Pferd

Vor allem geht es Manzel und ihrem Team um eine geschmeidige Verbindung von Tradition und Neubelebung des Stoffes. Das spiegelt sich in den musikalischen Motiven wie in den mannigfaltigen Regieeinfällen. Direkt am Anfang steht Geräuschemacher Daniel Mandolini auf der Bühne. Er knipst schnalzend das Licht an, er lässt mit seinen mouth sounds Möwen über der wogenden See lebendig werden, auf der Pippi (Exposition!) ihren Herrn Papa, den Südsee-König, aus den Augen verliert, bevor sie in die Villa Kunterbunt einzieht. Als eine Art Conférencier ohne Text verbindet er die dramaturgischen Puzzleteile dieses Nachmittags: Er steckt im Kostüm einer großen Blume mit kreisrunder, pinkfarbener Kopfbedeckung, die gemeinsam mit dem Affen Herrn Nilsson (der auch mal im Breakdancer-Outfit performt und die Handpuppe von Dirk Baum ist) beatboxend die Pause einläutet.

Pippi3 Barbara Braun uSchiff ahoi: Carsten Sabrowski, Theo Rüster, Bernd Stempel, Devi-Ananda Dahm © Barbara Braun

Pippis anderer tierischer Gefährte "Kleiner Onkel" (Christoph Jonas) ist ein steppendes Revue-Pferd im gepunkteten Frack, das mal zwei-, mal vierbeinig auf die Bühne stürmt und mit charmantem Überbiss Pirouetten dreht. Fräulein Prysselius (Bernd Stempel vom Deutschen Theater), die auch hier nicht des aussichtslosen Unterfangens müde wird, Pippi im Kinderheim unterzubringen, ist eine queere Erscheinung mit Dutt und Mantel in blumiger Duschvorhang-Optik. Während des Tees mit der Damen-Crew genehmigt "sie" sich heimlich einen Schuss aus dem Flachmann (Witze für die Erwachsenen sind auch dabei!). Diese "Pippi Langstrumpf" ist auch ein Fest der liebevoll performten Nebenfiguren.

Wider das Erwartungskorsett

Und Pippi? Sie sieht mit verschiedenfarbigen Strümpfen, Hosenträgern und roten Markenzeichen-Zöpfen aus wie just aus dem Buch gesprungen. Sie ist, wer sie nun mal ist: Lebensberaterin, sozialcouragierte Mobber-Weitwerferin, Alternativ-Mathematikerin, Gymnastik-Coach für die Kinder im Publikum, die beim Morgen-Workout eifrig mitmachen. Und sie löst abermals das Erwartungs- und Zuschreibungs-Korsett, das für junge Menschen, insbesondere junge Frauen, zwar im Laufe der Jahrzehnte Form und Farbe gewechselt hat. Aber immer noch da ist.

Energie und Detailliebe durchziehen diese Inszenierung. Das tröstet auch darüber hinweg, dass nicht jede Passage des Librettos gelungen ist. Obwohl der BMI von Pippis Papa vielleicht etwas über Idealbereich liegt, muss man Kindern im Jahre 2022 nicht unbedingt erneut vermitteln, dass Genre-Klassiker wie "Fett schwimmt immer oben" gelungene Pointen sind. Und leider bleiben auch an diesem Tag die Figuren Annika und Tommy weit hinter ihrem Potential zurück. Ohne Pippi fällt ihnen so gar nichts zur gelungenen Lebensgestaltung ein, sie sind und bleiben Sidekicks, was hier besonders schade ist, da die beiden jungen Darsteller:innen Evelyn Steinbrecher und Jan Polonek wunderbare, charismatische Sänger:innnen sind. Zugegeben: Schon bei Lindgren kommen die beiden nicht besonders gut weg.

Die gute Nachricht ist: Alle Beteiligten haben bewiesen, dass sie es können. Vielleicht wäre ja eine Fortsetzung denkbar. Eine zweite Oper. Ganz für Tommy und Annika.

Pippi Langstrumpf
Kinderoper in zwei Akten von Franz Wittenbrink
Libretto von Susanne Lütje und Anne X. Weber
nach dem gleichnamigen Buch von Astrid Lindgren
Musikalische Leitung: Matthew Toogood, Regie: Dagmar Manzel, Bühnenbild: Korbinian Schmidt, Kostüme: Victoria Behr, Choreographie: Christoph Jonas, Puppenbau: Dirk Baum, Dramaturgie: Maximilian Hagemeyer, Kinderchor: Dagmar Fiebach, Licht: Olaf Freese.
Mit: Devi-Ananda Dahm, Maria-Danaé Bansen, Jan Polonek, Pablo Brandes, Evelyn Steinbrecher, Karline Klemm, Caren van Oijen, Carsten Sabrowski, Bernd Stempel, Theo Rüster, Christiane Oertel, Christoph Jonas, Dirk Baum, Daniel Mandolini, Kinderchor der Komischen Oper Berlin, Orchester der Komischen Oper Berlin.
Uraufführung am 7. November 2022
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.komische-oper-berlin.de

Kritikenrundschau

"So unbefangen und spielfroh die Kinder des Kinderchores der Komischen Oper (Leitung: Dagmar Fiebach) auftreten, muss man auf ein enormes Talent von Manzel schließen, Kindern die Scheu vor der großen Bühne zu nehmen und ihnen Begeisterung für das Theater zu vermitteln", freut sich Kritiker Clemens Haustein (7.11.2022) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über diesen Nachmittag. Devi-Ananda Dahm etwa spiele und singe eine quicklebendige, liebenswert anarchistische Pippi Langstrumpf. Bernd Stempel brilliere als dämlicher Ganove wie als überbesorgte Dame vom Kinderheim. Auch die Musik von Franz Wittenbrink entwickelte enormen Drive. "Handgemacht, menschengemacht soll bei Manzel alles sein", schreibt Fiebach, der seine begeisterte Kritik mit der Frage seiner sechsjährigen Tochter: "Wann ist wieder Oper?" schließt.

Musik und Gesang werden hier als etwas Selbstgemachtes und für jede:n zu Machendes erfahren, meint Kritiker Matthias Nöther in der Berliner Morgenpost (7.11.2022). Devi-Ananda Dahm tanze "feurig mit dem grandios agierenden Kinderchor sowie mit ihrem Pferd 'Kleiner Onkel', das vom ebenfalls Musical-erprobten Darsteller Christoph Jonas komisch-hintergründig gespielt wird". Alles für Astrid Lindgrens Figur wirklich Wichtige werde bestens für das Musiktheater aufbereitet. Von der Leistung des Orchesters ist der Rezensent besonders begeistert: "Feingliedrig" dürften die Musiker:innen "ihre Kunst in allen turbulenten Situationen unter Beweis stellen und das Geschehen kommentieren". Komponist Franz Wittenbrink gebe ihnen und allen anderen dafür "melodisches Futter". Das erfreute Fazit des Rezensenten: "Bemerkenswert ist, wie schnell und unkompliziert das hochmotivierte, temporeiche Ensemble sich die Aufmerksamkeit seines jungen Publikums sichert und sie über die Dauer von rund zwei Stunden hält". 

Dagmar Manzel gelinge bei ihrem Regiedebüt eine wunderbare Aufführung für die gesamte Familie, meint Laura Luckenbach im Tagesspiegel (8.11.2022). "Das bunte Bühnenbild ist kindgerecht und spricht dennoch nicht nur die kleinen Besucher an, die Spielfreude auf der Bühne springt auf das Publikum über, groß ist die Begeisterung für Manzels fein abgestimmte Inszenierung", jubelt die Kritikerin. Pippi-Darstellerin Devi-Ananda Dahm steche aus dem guten Ensemble mit ihrer Bühnenpräsenz besonders hervor. Der musikalische Mix von Klassik und Jazz werde vom Orchester der Komischen Oper stilsicher dargeboten, ohne die Gesangsstimmen zuzudecken, schreibt Luckenbach. Das Publikum hänge an den Lippen der jungen Darsteller:innen und Sänger:innen. "Selbst die kleinsten Besucher verlassen singend den Saal", schließt die begeisterte Rezensentin ihren Text.

 

 

 

 

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