Medienschau: NZZ – Milo Rau verteidigt das "woke" Zürcher Schauspielhaus
Gesellschaftsverändernde Kraft
Gesellschaftsverändernde Kraft
9. November 2022. Im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung spricht der Regisseur Milo Rau über die Debatte ums Zürcher Schauspielhaus und sagt unter anderem: "Den derzeitigen Publikumsschwund aufs Programm zurückzuführen, ist absurd."
Der Rückgang betreffe das deutschsprachige Theater insgesamt. "Und der Übergang von einem Theatermodell zum anderen ist eben mit Konflikten verbunden."
Bei den deutschen und schweizerischen Theatern handele es sich im Vergleich zu den flämischen Häusern (wo Rau am NT Gent Intendant ist) um "schwerfällige Tanker": "Man kann vielleicht zwei flämische Stücke als Klassiker bezeichnen – hier aber haben wir Dutzende, und damit muss man umgehen."
Die Wahrheit sei aber doch: "Schiller, Goethe, Schnitzler, Dürrenmatt und all die anderen Klassiker, die man unbedingt ungekürzt sehen will, haben tolle, aber in Wahrheit erzieherische Stücke geschrieben. Die Stücke, die man ungekürzt sehen will, sind Erziehungsstücke. Man will die Schiller-Peitsche aus dem 18. Jahrhundert, aber die gibt’s eben im 21. Jahrhundert nur noch an der Uni. (...) Schiller und Goethe waren nämlich ober-'woke', das würden Sie im Original gar nicht aushalten. Deshalb machen wir etwas anderes."
Wokeness, so Rau, sei für ihn ohnehin "ein Kampfbegriff, den man benutzt, um Reformen in Institutionen zu brandmarken als billigen Aktionismus". Er selbst sei Praktiker, "und es gibt zweifellos viel heisse Luft am Theater." "Identitätspolitik ist nicht mein Fachgebiet, aber ist sie deshalb unwichtig? Sicher nicht. Wir sind in einem gesellschaftlichen Übergangsprozess, nach dreissig Jahren ergibt sich gerade so etwas wie ein neuer Konsens. Es bildet sich eine neue, diverse Normalität heraus."
In diesem Prozess dürfe ein Stadttheater nicht die Tradition pflegen, "es muss Avantgarde sein." Und: "Die Theaterszene, von Brecht bis zu Marthaler, ist und war schon immer eher liberal und links. Wir haben auch Museen, wir haben die Oper, die sind konservativer. Das Theater aber hat den Auftrag, vorwärtszudrängen. Das Theater beginnt an jedem Tag neu, es ist eine gesellschaftsverändernde Kraft."
(sd)
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