Die fast Ausgeknipsten

13. November 2022. Eine leere Mitte, Verzweiflung und Scham: In seinem neuen Stück begleitet Björn SC Deigner die Eltern eines Amokläufers bei ihrem Wiedereinstieg ins Leben. Sibylle Broll-Pape hat "Tiefer Grund" in Bamberg zur Uraufführung gebracht. Ein kurzer Abend über einen unerträglichen Zustand, an dem selbst die Tränendrüse erstarrt.

Von Andreas Thamm

"Tiefer Grund" in der Uraufführungs-Inszenierung von Sibylle Broll-Pape am ETA Hoffmann-Theater in Bamberg © Birgit Hupfeld

13. November 2022. Zwei Menschen, eine Stunde, und wer vorher weiß, worum sich der Abend dreht, der*die macht sich darauf gefasst, mitgenommen zu werden, im niederschmetternden Sinn. Denn auch Amokläufer haben Eltern. So jedenfalls lässt sich "Tiefer Grund", das neue Stück von Björn SC Deigner, im Kern zusammenfassen. Eine Auftragsarbeit für das Bamberger ETA-Hoffmann-Theater (seine vierte bereits), inszeniert von Intendantin Sibylle Broll-Pape. 

Florian Walter und Barbara Wurster – in ihrer ersten Rolle am Haus – schultern diese Last. Sie treffen sich im Wald, ein Kubus dient als Projektionsfläche für die Baumkulisse, zwei Stühle davor. Es ist Eriks Geburtstag, heute wäre er 23 geworden, fünf Jahre ist das her und was "das" war, wird sich in der Folge aufblättern und Baustein für Baustein zusammensetzen. Der Wald ist ein Friedwald. Am Anfang ist Befangenheit. Das Ex-Ehepaar tastet nach der Stimmung des, der anderen. Doch die wichtigsten Worte versacken im minutiös getimten Schweigen.

Verperrter Weg in die Normalität

Deigners Text holt aber auch die verschiedenen Vergangenheiten, Episoden der Katastrophe auf die Bühne. Szenenwechsel heißt: Walter und Wurster schieben die Wände, die den Kubus formten, aneinander vorbei und aus einem Würfel werden die Wände des gemeinsamen Hauses. Er arbeitet als Motivationscoach, vertieft sich in den Laptop auf seinem Schoß, verbissen, karrieregeil. Sie wirft ihm das vor, er entziehe sich, bekomme gar nicht mit, dass Erik nicht mehr spreche, nicht mehr lache. Er: "Ich finde das ziemlich normal in dem Alter." Ein Gespräch, das er von Vater zu Sohn führen soll, findet mutmaßlich nicht statt, weil da, natürlich, grad ein wichtiger Anruf reinkommt.

Die Szenen sind skizzenhaft, funktionale Ausschnitte, denen es ein bisschen zu sehr anzumerken ist, wie sehr sie als Beleg herhalten sollen. In nächsten wird eine Champagnerflasche geköpft, er will feiern, verreisen, die Beziehung wiederbeleben. "Stoß an!", sagt er und: "Ein Gläschen in Ehren soll keiner verwehren", und man fragt sich, ob es realistischerweise Ehepaare gibt, die sich so anhören, wenn sie miteinander sprechen.

TieferGrund2 Birgit Hupfeld uWiederannäherung: Barbara Wurster und Florian Walter als Elternpaar © Birgit Hupfeld

Es ist eine Verkrampfung spürbar, als würden Text und Schauspieler selbst vor dem Thema des Abends zurückschrecken. Die Panik, die zwei Menschen erfasst, die erfahren, dass in der Schule des Sohnes Schüsse gefallen sind, ist offensichtlich wahnsinnig schwer zu spielen, wenn diese Emotion eins zu eins dargestellt werden soll. Erst im weiteren Verlauf des Stücks löst sich dieser Eindruck eines zu gespielten Spiels etwas auf.

Raum für Erschütterungen

Denn auch wenn Deigners Text wenig Überraschendes bereithält, greift er gekonnt die Komplexe an, die durch die Katastrophe ausgelöst werden. Sie, wieder im Wald, bohrt an der Frage der eigenen Verantwortung: "Ich hab ihn doch umarmt." Er weiß zumindest ganz genau, dass Erik nicht acht Mitschüler und sich selbst erschossen hätte, wenn es nicht so verdammt einfach wäre, im Internet an Waffen zu kommen. Die Hände in den Manteltaschen, der Blick verhärtet, Florian Walter findet zu dieser komplexen Figur des Vaters.

Auch die schlimme Zeit danach, die Depression der Mutter, erspart "Tiefer Grund" seinen Zuschauer:innen nicht. "Es ist das Beste, dass er tot ist. Jetzt ist es vorbei", sagt er. So ein Satz, der einen ganz empfindlich treffen soll. Und Barbara Wurster schreit nur, es sind die erschütterndsten Momente der Inszenierung, die bei allem Grundschmerz den einzelnen Erschütterungen nur wenig Raum gibt. Nur eine Stunde, zum Glück, sonst wäre das schwerlich auszuhalten.

Rechtsradikalismus, Judenhass, Incel-Kult

Der Hintergrund der Tat ist ein bekanntes Konglomerat aus Rechtsradikalismus, Judenhass, Incel-Kult. Die Eltern dürfen versuchen, dem Internet, dem System, den anderen die Schuld zuzuweisen. Nicht dem anderen Elternteil, das ließe sich nicht plausibel erzählen. Vater und Mutter bewegen sich subtil aufeinander zu und voneinander weg. "Du kannst dich nicht immer ausknipsen und verloren gehen", bittet er sie. "Ich brauch dich doch auch."

Was sie wollen, unterscheidet sie nicht: Die Zeit zurückdrehen, irgendwie alles ungeschehen machen. Das ist, was man sich vielleicht erschließen kann über einen unaushaltbaren, aber immer wieder realen Zustand. Deigner und die zurückhaltend arbeitende Regisseurin Broll-Pape haben der Geschichte keine zweite Ebene eingeflochten, über die Gesellschaft und alles. Am Ende ist es, vielleicht ausreichend, nur das: Der Versuch, vom Konketen einer nicht zu begreifenden Situation zu erzählen. "Tiefer Grund" reißt dieser Inszenierung die Wunden nicht auf, wringt die Tränendrüse nicht aus. Am Ende bleibt Bedrückung.

Tiefer Grund
von Björn SC Deigner
Uraufführung
Regie: Sibylle Broll-Pape, Bühne, Kostüme, Video: Trixy Royeck, Dramaturgie: Petra Schiller, Regieassistenz und Abendspielleitung: Marlon Otte, Ausstattungsassistenz: Anais Buzduga.
Mit: Barbara Wurster, Florian Walter.
Premiere am 12. November 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause 

theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

Deigner lasse Eltern sprechen wie zwei Menschen aus Fleisch und Blut, Broll-Pape bringe das Stück "als beklemmendes Kammerspiel auf die Bühne", so Christoph Hägele im Fränkischen Tag (14.11.2022). Lob auch für Wurster und Walter: "Mit großer Selbstverständlichkeit wechselten die beiden zwischen unterschiedlichen Zeitebenen und Seelenzuständen hin und her", und das mit "Einfühlungsvermögen und Subtilität".

"Die nur eine Stunde dauernde Inszenierung ist von großer Schlichtheit und entfaltet gerade dadurch eine enorme emotionale Wucht", schreibt Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (15.11.2022). Barbara Wurster und Florian Walter überzeugen als traumatisierte Eltern zwischen Erinnern-Müssen und Vergessen-Wollen. "In einem Moment machen sie sich gegenseitig Vorwürfe, um im nächsten sich alles Gute für die Zukunft zu wünschen. Zwei verlorene Seelen, für die jeder Tag einen neuen Kampf bedeutet."

Ein "gleichermaßen sensibles wie beklemmendes Kammerspiel" hat Dietmar Bruckner für Theater der Zeit (3.12.2022) in Bamberg erlebt. Sibylle Broll-Pape schuf für Björn SC Deigners "Bilderbogen" ein "filigranes, schwebend leichtes Spiel, das aller Schwere zum Trotz wie hingetupft wirkte. Genial einfach die Ausstattung: Ein großer Glaskubus beherrscht das Bühnenbild, mal wird der Wald darauf projiziert, mal das Wohnzimmer. Gelegentlich nerven die Umbaupausen dazwischen ein wenig, weil der Erzählfluss verloren geht."

 

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