Ein Kind der Toten

16. November 2022. Ewig streitbar und doch längst ein moderner Klassiker: Elfriede Jelinek ist die berühmteste deutschsprachige Dramatikerin. Im Kino läuft nun ein neuer Dokumentarfilm, in dem Regisseurin Claudia Müller der Nobelpreisträgerin ungeheuer nah kommt – und ihre Texte von höchstkarätigen Schauspieler:innen lesen lässt.

Von Eva Marburg

"Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen" von Claudia Müller © Plan C

16. November 2022. Und dann kommt da plötzlich dieser Satz, der alles auf den Punkt bringt. In dem vielleicht nicht nur die Autorin Elfriede Jelinek kulminiert, sondern auch ihr Werk, nämlich: "Ich bin allerdings die Einzige in meiner Nähe." 

Ausgesprochen wird der Satz von ihr selbst. Ein filmischer Ausschnitt zeigt ihren wahrnehmbar scheuen, aber entschlossenen Auftritt auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Es ist die Uraufführung von Jelineks Text "Sportstück" im Jahr 1998. Die Inszenierung von Einar Schleef, die zur Theatersensation und zum Höhepunkt der damaligen Intendanz von Claus Peymann werden sollte.

Abtragen von Schuld

Jedenfalls liest da Jelinek aus einer schwarzen Kladde einen Text vor, der an ihren Vater gerichtet ist. An ihren jüdischen Vater, dessen Familie im Holocaust ermordet wurde und der 1969 in einer "Irrenanstalt" starb, wie sie es im Film kurz zuvor erzählt. Sie liest: "Die Spur von dir als ein Mensch fehlt und nur die Spur deiner Vernichtung ist dageblieben". Und: "Meine Worte sind seither wie deine Liebe. Als ob ich mich immer in ein Glas schütten und es jedem Beliebigen anbieten würde. Ich werde auch entsprechend gemieden. Weil es in meiner Nähe wehtut, denn meine Nähe ist und bleibt deine Nähe, Papa." Doch in dieser, ihrer Nähe eben ist und bleibt sie die Einzige. Allein ist sie mit ihrem Schreiben, das sie als "ein Abtragen von Schuld" betrachtet. Einzig ist auch ihr Werk, das wie ein Monolith aus der kulturellen Textproduktion herausragt.

Die radikale Einsamkeit von Elfriede Jelinek, das ist der stärkste Eindruck des ebenso schmerzhaften wie wundervollen Dokumentarfilms von Claudia Müller. Ein Film über Elfriede Jelinek also. Warum? Fast zwanzig Jahre nachdem sie sich endgültig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. 2004 war das, als sie den Literaturnobelpreis verliehen bekam und der lang gehegte Hass der österreichischen Öffentlichkeit über die "Nestbeschmutzerin" einen neuen Höhepunkt erreichte.

Seither gibt sie keine Interviews mehr, hat aufgehört, sich und ihr Schreiben zu erklären. Nur noch ihr Werk spricht zu uns. Und das ist unaufhörlich. Jetzt ist gerade das autobiografische Buch "Angabe der Person" erschienen, im Dezember hat am Schauspielhaus Zürich ihr neues Theaterstück "Sonne, los jetzt" Premiere. Ein Stück zur Klimakrise. Natürlich, was sonst – so wie sie schon immer den Ereignisstrom unserer Gegenwart sprachlich umgräbt und durchpflügt, um hinter die Oberfläche der auf uns einprasselnden Bilder zu gelangen. In den letzten Jahren zur Wahl von Donald Trump, dem österreichischen Ibiza-Video Skandal oder darüber, wie enthemmte Aprés-Ski-Feiern Bad Ischgl zum Corona-Hotspot werden ließen.

Doch von dieser jüngeren Vergangenheit handelt der Film gar nicht. Er endet mit dem Nobelpreis für Literatur und ihrem anschließenden Schweigen. Elfriede Jelineks Werk ist viel ausgedeutet worden. Ihr Schreiben gilt als rätselhaft, es ist gerne von assoziativen "Textlandschaften", "Textsteinbrüchen" oder "Wortfelsen" die Rede.

5 JELINEK Filmstill Plan CDie Sprache von der Leine lassen: Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek © Plan C

Der Film versucht nicht, dem etwas hinzuzufügen; will sie nicht erklären, vielleicht noch nicht mal nahebringen. Trotzdem gelingt das. Aufnahmen und Interviews aus fünfzig Jahren hat Claudia Müller gesichtet und zusammengetragen und daraus eine eher thematisch als chronologisch angeordnete Bild-Ton-und-Sprach-Collage komponiert.

Keine Rätselhaftigkeit

Jelineks Selbstauskünfte aus Interviews wechseln sich ab mit ihren Texten. Keine geringeren Sprecher*innen als Sandra Hüller, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Sophie Rois und Martin Wuttke lesen diese in einer so unaufdringlichen, oft fein humorvollen Weise, dass plötzlich die weit gespannten, sich entwickelnden Gedanken klar hervortreten können. Jelineks Texten, das ist eine bemerkenswerte Leistung des Films, kommt dabei ihre viel beschworene Rätselhaftigkeit abhanden. Sie erscheinen hier eher als ein zart versponnenes, aber logisches Gewebe. Der filmische Bilderstrom verhält sich dazu assoziativ. Es sind Kamerafahrten durch Nebel oder Schnee verhüllte Landschaften aus der Steiermark zu sehen, wo Jelinek als Kind die Sommer verbrachte. Private Fotos, dunkle Straßen, Skigebiete, Stadtaufnahmen aus Wien, das Burgtheater.

Natürlich geht der Film auch auf den biografischen Kosmos ein, aus dem sich große Teile ihres Schreibens speisen. Die unduldsame, schwer ehrgeizige und katholische Mutter, die ihrem einzigen Kind einen täglichen Bildungsdrill an Musikschulen und Konservatorien auferlegte, bis zur vollständigen Erschöpfung. Der jüdische Vater, ein genialer Wissenschaftler, der die Tochter in seiner Krankheit nicht schützen oder stärken konnte. Jelineks früher literarischer Erfolg, ihre zur "lieben Angewohnheit" werdenden Zusammenbrüche aufgrund einer Angststörung.

Grauenerregende Bild-Ton-Scheren

Verstörend sind jedoch vor allem die Passagen, die Jelineks Theaterstücke über die Verbrechen des Nationalsozialismus in den Kontext der österreichischen Gesellschaft stellen, die mit gewaltsamer Abwehr auf sie reagiert. Jelinek sagt zu ihrer "Pflicht, nicht zu schweigen": "Ich weiß nicht, warum ich damit nicht leben kann, dass all diese Menschen tot sind. Dass das so eine Provokation für mich darstellt, aber ansonsten nur für wenige.“

Dazu gibt es dann Ausschnitte aus alten Dokumentarfilmen, in denen Frauen zu sehen sind, die sich an das Massaker von Rechnitz nicht erinnern, während sie Knödel essen. Sie wüsste weiter nichts davon, sagt die eine kauend, außer dass "die Juden" sich die Grube hätten selbst graben müssen, in die sie dann "hineingeschossen" worden sind. Es gibt viele diese grauenerregenden Bild-Ton-Scheren, nicht zuletzt mit Aussagen vom österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim oder FPÖ-Chef Jörg Haider.

Die öffentliche mediale Gewalt, die in der Folge an Elfriede Jelinek vollzogen wurde und die in dem Film einen wichtigen Raum einnimmt, macht "Die Sprache von der Leine lassen" auch zu einem Nachdenken über unsere gemeinschaftliche Verantwortung gegenüber denjenigen, die uns nicht in Ruhe lassen. Und damit wäre ja die Frage nach dem "Warum jetzt ein Film über Elfriede Jelinek?" dann auch beantwortet.

 

Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen
Ein Film von Claudia Müller
Regie: Claudia Müller, Drehbuch: Claudia Müller, Bildgestaltung: Christine A. Maier, Montage: Mechthild Barth, Komposition: Eva Jantschitsch, Tonmeister & Sounddesign: Johannes Schmelzer-Ziringer, Dramaturgische Beratung bei der Textauswahl: Brigitte Landes, Produzentinnen: Martina Haubrich, CALA Filmproduktion Claudia Wohlgenannt, Plan C, Redaktion BR/ARTE: Monika Lobkowicz, Matthias Leybrand, Carlos Gerstenhauer, Catherine Le Goff, Sonja Scheider.
Mit den Stimmen von: Sandra Hüller, Sophie Rois, Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Martin Wuttke, Maren Kroymann.
Deutscher Kinostart am 10. November 2022
Dauer: 1 Stunde 36 Minuten

www.polyfilm.at

Anm. Redaktion: Eine unkorrekte Ämternennung im Text wurde nachträglich berichtigt.

Kommentare  
Jelinek-Film: An der Leine der TV-Redaktionen
1998 trumpfte Einar Schleef als kongenialer Uraufführungs-Regisseur ihres „Sportstücks“ auf. Sie hätte sich gewünscht, dass er für sie zu einem so engen Partner wird wie es Peymann für Thomas Bernhard war. Auch für die Theaterwelt wäre das ein Gewinn gewesen, aber es sollte nicht sein. Sie überwarfen sich im Streit, ob es sinnvoll ist, trotz der damaligen rechtspopulistischen Regierung weiter in Wien zu inszenieren, wenige Jahre danach starb Schleef im Sommer 2001.

Außer den reflektierenden O-Tönen der Schriftstellerin gibt es noch sehr viele Schnipsel, die meist aus ihren Romanen stammen und den typischen Jelinek-Sound transportieren. Aus dem Off trägt eine Créme de la Créme der Theater- und TV-Prominenz (Sophie Rois, Stefanie Reinsperger, Sandra Hüller, Maren Kroymann, Ilse Ritter, Martin Wuttke) die Passagen vor, erst im Abspann sind auch ihre Gesichter zu sehen. Sicher: Im Mittelpunkt des Films sollte Jelinek stehen, aber die geballte Prominenz wirkt doch ziemlich verschenkt, wenn sie nur Textschnipsel einlesen darf.

„Die Sprache von der Leine lassen“ lautet der Untertitel des Features, das beim Filmfest München im Juli Premiere hatte, als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde und im November in die Kinos kam. Jelineks sprachliche Kraft wird in den knapp 90 Minuten spürbar: in den Archiv-O-Tönen fast noch mehr als in den von Dritten eingelesenen Passagen. Dazu schwenkt die Kamera über Berg-Kulissen oder zeigt die schlimmsten Auswüchse aus Ischgl: die Bebilderung bleibt recht konventionell und für das TV-Publikum tauglich. Ein echter Bilder- oder Sprachrausch stellt sich nicht ein. Das Jelinek-Porträt bleibt an der Leine der TV-Redaktionen und der gewohnten Ästhetik von Biopic-Collagen und Features.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/11/15/elfriede-jelinek-film-kritik/
Jelinek-Film: Crème de la Crème
Was die "Crème de la Crème" angeht - (das accent aigu wär doch lieber ein accent grave) - ein bisschen hochtrabend diese Benennung, die, wenn überhaupt, in erster Linie auf Martin Wuttke zutrifft. Sein Sprechen, seine Sprache sticht hervor, Sophie Rois dagegen suhlte sich zu sehr in 'Roisscher' Attitude, hier sehr fehl am Platze.
Auch waren die nicht enden wollenden Berg-Kulissen dann doch auf Dauer eine Spur zu langatmig.
Film Elfriede Jelinek: Die Sprache!
Der Film tut genau das - er lässt mit Jelinek die Sprache von der Leine: fass!
Wie von niemandem sonst wird in der Banalität des Alltäglichen die Brutalität und Gewalt geschildert, die der gegenseitigen Bedingung von Patriarchat, Kapitalismus und Faschismus innewohnt. Als Krieg gegen Frauen und Männer, die entmenschlicht werden, mit dem verlogenen Versprechen von Macht. Schwer erträglich, wahr und wahrhaftig
Film Elfriede Jelinek: Promi am Hut
Der Film ist wenig gelungen - er zeigt veraltete Jelinek-Bilder, ganz aus der Autor:innenperspektive gestaltet (wo ist hier die kritisch-ironische Distanz, die die Autorin selbst in ihren Texten hat?). Interviews sind immer auch Selbstinszenierungen - diese als primären Erzählstrang zu verwenden, ist doch recht eindimensional-affirmierend.
Eine TV-Filmemacherin steckt sich mit diesen Film halt eine weitere Promi an ihren Hut...
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