Die Affäre Rue de Lourcine - Residenztheater München
Lustig, wir sind Mörder!
19. November 2022. András Dömötör bringt den Komödienklassiker "Die Affäre Rue de Lourcine" auf die Bühne des Münchner Residenztheaters. Mit Video und Schmiere. Und wir lachen darüber, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist.
Von Martin Jost
19. November 2022. Nach einer durchzechten Nacht wacht Lenglumé (Thomas Lettow) neben einem unbekannten Mann auf. Zunächst ist das Wichtigste, dass seine Frau nicht dahinter kommt, dass er heimlich feiern war. Er hat sich gestern Abend zu einem Klassentreffen geschlichen, bei dem gut eingeschenkt wurde. In der Mitte des Festmahls bricht die Erinnerung plötzlich ab und da sind nur noch Kopfschmerzen. Nach einer etwas oberflächlichen Zeitungslektüre sind Lenglumé und der Mann, der sich als sein ehemaliger Mitschüler Mistingue (Michael Wächter) entpuppt, überzeugt, dass sie im Vollrausch in der Rue de Lourcine eine Frau ermordet haben. Ab jetzt versuchen sie alles, um ihr Verbrechen zu vertuschen.
Über Nacht zum Verbrecher geworden
Die Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" wurde 1857 in Paris uraufgeführt. Unter den Genrestücken, die Eugène Labiche am Fließband verfasst hat, sticht sie heraus. Die "Affäre" wird bis heute gespielt, weil sie so abgründig ist. Den Text zu modernisieren, ist dabei keine Kleinigkeit. Das Original steckt voller Anspielungen auf zeitgenössisches Pariser Theater, von dem wir heute nichts mehr wissen. In András Dömötörs Inszenierung sind die Insider-Gags durch Witze ersetzt, über die ein Theaterpublikum von heute lachen kann.
Lenglumé trieft vor Bürgerlichkeit. Aber dass er im Suff zum Verbrecher geworden sein könnte, daran zweifelt er keine Sekunde. Unter der aufgebockten Bühne ahnen wir einen düsteren Keller, in dem wir später noch Zeit verbringen werden und der ein schönes Sinnbild für den furchterregenden Unterbau unter der Zivilisation ist (Bühne und Kostüme: Sigi Colpe). Oben ist die Bühne sehr hell und aufgeräumt. Sechs Türen führen in symmetrisch abgestufte Kisten, in denen übergroße Flachbildfernseher verpackt gewesen sein könnten. Geldscheine kleben an den Wänden, so reich sind die Lenglumés. Die nächtliche Gedächtnislücke schiebt sich als undurchsichtiger schwarzer Gummikäfig ins Bühnenbild. In ihr verschwinden die Figuren zuweilen und wenn sie sich wieder herauskämpfen, hängt ihnen die Lücke am Bein fest.
Der Humor speist sich aus Slapstick und Meta-Witzen. Lenglumé und Mistingue lallen und finden nicht in ihre Hose und stillen ihren Brand aus dem Katzen-Trinknapf. Der Diener Justin ist hier ein Kindermädchen (Barbara Horvath), das übertitelt wird, wenn es Ungarisch spricht. Als die anderen Figuren die Übertitel entdecken, sind sie beeindruckt, aber Lenglumé stört sich an der kitschigen Schriftart, die Justin daraufhin ändert. Norine (Mareike Beykirch) stört sich daran, wie schließlich der Plot aufgelöst wird – und an ihrer Rolle als eindimensionale Ehefrau: "Wir haben das Jahr 1837! Hat sich denn gar nichts verändert?"
Spitzen gegen die Klassengesellschaft
Viele Lacher geben auch die Spitzen gegen die Klassengesellschaft. Norine ist sehr daran gelegen, der osteuropäischen Haushaltshilfe auf Augenhöhe zu begegnen, aber immer wieder vergisst sie sich und Klassismus und Rassismus brechen sich Bahn. Das kommt beim Münchner Publikum sehr gut an, obwohl viele Pointen fast verschluckt werden. Die Schauspieler:innen verzichten auf echtes komödiantisches Timing und auf den besonderen Witz, den eine Figur hat, die mit tragischem Ernst bei der Sache ist. Mit Ausnahme von Michael Wächters herrlich selbstbewusstem Mistingue schaufeln sie laut und fahrig ihren Text von der Rampe wie Witzeerzähler, denen man anhört, dass jetzt gleich wieder eine lustige Stelle kommt. Barbara Horvath hat tolle Momente, weil ihre Justine so über den Dingen steht.
Showdown in den Katakomben
In einem Showdown setzen sich Lenglumé und Mistingue in den Kopf, dass sie nun noch weitere Zeugen ermorden müssen. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd unter der Bühne und im Theaterkeller, bei der wir sie dank Videoprojektion nicht aus den Augen verlieren. In den Katakomben geht es weitaus blutiger zu als im Botenbericht der Textvorlage. Wir werden an Thriller-Klassiker wie "Ring" oder "Shining" erinnert (Video: Zsombor Czeglédi, Livekamera: Christoph Karstens, Musik: Tamás Matkó). Ein einzelner Fuß und ein quietschender Fleischwolf rufen das Finale des Films "Fargo" auf. Für einen Alptraum nimmt die Sequenz ziemlich viel Platz ein in dem kurzen Stück. Aber die Geister aus dem Untergeschoss sind vergessen, als man die Zeitung nochmal etwas genauer studiert.
Oder nicht? Labiches Komödie wirkt gerade deshalb nach, weil die Abgründe unter der Zivilisation nicht zugeschüttet sind. Lenglumé ist nur diesmal davon gekommen. Sein Verdienst war das nicht.
Die Affäre Rue de Lourcine
von Eugène Labiche
Inszenierung: András Dömötör, Bühne und Kostüme: Sigi Colpe, Musik: Tamás Matkó, Video: Zsombor Czeglédi, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Thomas Lettow, Michael Wächter, Pujan Sadri, Barbara Horvath, Mareike Beykirch.
Premiere am 18. November 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
Labiches Theaterboulevardkrimi sei "vielleicht genau die richtige Wahl, in dieser Postcorona-Zeit, in der die Theater die Zuschauer umgarnen müssen", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.11.2022). So lustig wie erhofft allerdings werde es nicht. "Labiches Stück kann man, gerade in der Übersetzung von Elfriede Jelinek, einfach runterinszenieren, wenn man präzise ist und gute Schauspieler hat." Den Spieler:innen falle es schwer, sich gegen die tausend Ideen zu behaupten, die Dömötör hat, ohne eine einzige davon konsequent zu verfolgen. In ihrer "zusammengestöpselten Outrage" stolpere die Inszenierung permanent über sich selbst, enthalte aber genug Witze, um das Publikum immer wieder zu großem Gelächter zu animieren.
Für eine Komödie sei das Thema "ein tiefschwarzer Grenzfall", schreibt Hannes Hintermeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.11.2022). Natürlich kenne das Publikum die Mechanismen, wisse um die zerstörerischen Nebenwirkungen des Kapitalismus und den dünnen Firnis der Zivilisation. "Trotzdem lacht es über den Abgrund, an dem entlang das Stück balanciert." Bis zum Blutbad im Untergeschoss, eine "Geduldsprobe, welche die temporeiche und pointensatte Inszenierung konterkariert", die forciert wirke, als hätte András Dömötör dem Stück doch nicht ganz getraut.
"Die Affäre Rue de Lourcine" könne als Vorläufer einer Boulevardkomödie gelesen werden, argumentiert Michael Stadler in der Abendzeitung (21.11.2022) "Im Residenztheater inszeniert Dömötör das Stück aber vor allem als Farce mit einer gewissen Staatstheater-Ambition, was zur Folge hat, dass für manche simple Boulevard-Situationen szenische Lösungen gesucht werden müssen, die eher ungelenk wirken." Dass Lachen gesund sei, singe das Ensemble zum Schluss. "Zum Gesundbrunnen taugt dieser Abend nicht."
"Ein Theaterabend wie ein kräftiger Schnaps: kurz, knackig, knallt gut", schreibt Michael Schleicher vom Merkur (21.11.2022). Krachend und flott inszeniere Dömötör den "vogelwilden Wahnsinn". "Thomas Lettow als Lenglumé und Michael Wächter, der dessen Saufbruder Mistingue spielt, chargieren herrlich komisch und drehen mit großem Körpereinsatz sowie ordentlich Gesichtsakrobatik an der Irrsinnsschraube. Hochprozentig hochtourig."
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Lenglumés Frau Norine ist in der Dömötör-Inszenierung sehr damit beschäftigt, die Fassade zu wahren. In den Auseinandersetzungen mit der Haushälterin Justine (Barbara Horvath) muss sie sich immer wieder auf die Zunge beißen oder zurückrudern, wenn ihr wieder abwertende oder klassistische Formulierungen herausrutschten. Im Gorki-Stil tritt Mareike Beykirch am Ende aus ihrer Rolle: die Spieler*innen sprechen sich mit ihren echten Namen an, sie beklagt sich über das Frauenbild des Stücks und die Tatsache, dass ein Femizid im Zentrum einer Komödie steht. Für Horvaths Justine hat sich das Regie-Team einen Running-gag ausgedacht: zur Seite gesprochene bissige Bemerkungen auf Ungarisch werden per Übertitel fürs Publikum übersetzt, worauf Beykirchs Norine immer wieder ganz begeistert hinweist.
Mit diesen kleinen Zutaten und Ergänzungen wird der bewährte Klassiker in kompakten 80 Minuten serviert.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/13/die-affare-rue-de-lourcine-residenztheater-muenchen-kritik/