Asyl für eine ungeliebte Geisel

26. November 2022. Ein Unternehmer wird entführt, nicht von der RAF, sondern von einem Paar Wende-Verlierer:innen. Mit Menschlichkeit und Humor entschärfen Täter:innen und Oper die Situation und gelangen zu einer absurden Katharsis. In Bautzen gab's dafür eine Menge Szenenapplaus.

Von Michael Bartsch

"Feindliche Übernahme" © Miroslaw Nowotny

26. November 2022. Lange hat man nichts mehr von einer spektakulären Entführung gehört. Vielleicht muss die "Letzte Generation", die sonst gern mit der RAF verglichen wird, bei ihren Protesten gegen die Gleichgültigkeit beim Klimaschutz erst noch darauf kommen. Warum entdecken jetzt dennoch einige Bühnen die schon 2001 uraufgeführte Komödie "Feindliche Übernahme" des aus der DDR stammenden Dramaturgen und Autors Thomas Steinke wieder – deren Plot auf der Idee einer spektakulären Entführung basiert? Vielleicht, weil das theatertreue, aber krisengestresste Publikum derzeit nach entspannender Unterhaltung verlangt, die aber zumindest einen Anker in die Tiefe wirft? 

Arbeitsplatz statt Lösegeld

Steinkes originelle komödiantische Leitidee kehrt die übliche Perspektive einer Geiselnahme um. Was passiert, wenn niemand den Entführten zurückhaben will? Wenn potenzielle Lösegeldzahler dankbar für die Beseitigung eines Konkurrenten sind? Wenn die Entführer also ins Leere laufen und ungeahnt zu Erfüllungsgehilfen derer avancieren, die das Opfer loswerden wollen?

Der Anlass für die Entführung des Konzernchefs Ludwig Strompp hat durchaus RAF-Klassenkampfformat und ist von den Kehrseiten der Deutschen Einheit, den Massenentlassungen der 1990er im Beitrittsgebiet geprägt. Sie haben auch Baggerfahrer Harry getroffen, nunmehr in der Umschulung zum Konditor, ein schlaksiger Typ, bei Haarwuchs, Weste und Mütze mit Hippie-Anklängen. Ebenso seine allerliebste Uschi, resolute Krankenschwester in Minirock, bunten Pants und Sportjacke. Beide wollen gar kein Lösegeld, sondern die Wiedereinstellung aller 6000 entlassenen Leidensgenossen. Es klingt nach erzwungener Sozialpartnerschaft.

Statt der ursprünglich anvisierten Frau des Großkapitalisten erwischt Harry unter herbeigebastelten Umständen eines Verkehrsunfalls den Boss selbst. Schon dessen Ankunft im detailgenau verkitschten Partykeller des auf Kredit erworbenen Wohnhauses der beiden gestaltet die Berliner Gastregisseurin Odette Bereska effektvoll. Eine große Holzkiste poltert die Treppe herab. Ihr vermuteter Insasse ist mit dem Angebot von zwei Millionen zu vernehmen, denn Geld spiele keine Rolle, wenn er nur seinen unverzichtbaren Termin sofort wahrnehmen könne. Dann schweigt Strompp lange in der Kiste, bevor er mit Kopfhörern und einer blickdichten Schweißerbrille seinem mobilen Gefängnis entsteigen darf.

Ein lernfähiges Kapitalistenschwein

Nur scheinbar ist er seinen Entführern überlegen. Von seiner Cleverness und Skrupellosigkeit bleibt wenig, als sich bei Kontaktversuchen herausstellt, dass sein Konzern auf seine Rückkehr gern verzichtet und seine Frau den Entführern sogar drei Millionen bietet, wenn sie ihren geliebten Gatten abmurksen. Autor und Inszenierung spielen dann mit dem Stockholm-Syndrom plötzlich entdeckter Sympathie des Opfers für seine Peiniger. Und vice versa.

Dieser Boss, von Jan Mickan gespielt, ist in der letztlich ungefährlichen Komödie kein kaltes Kapitalistenscheusal; funktioniert ja auch beim Shareholder-Prinzip der Risiko- und Gewinnteilung nicht mehr so eindeutig. Ludwig Strompp doziert also zwar zunächst dem einfachen Volk da unten im Partykeller, dass Erfolg nun einmal Opfer in Form eines Reserveheeres von Arbeitslosen verlange. Die Kollision beider Welten in der Unterwelt des von Verlust bedrohten Häuschens aber führt zu einer amüsanten Katharsis. Das Paar, zu dem sich Uschis Bruder Leo gesellt, mag eher als schlicht gelten, verfügt aber über Schlagfertigkeit und vor allem über eine proletarische Natürlichkeit. Sie sehen sich selbst als die "armen, aber guten Menschen". Voran Anna-Maria Brankatschk als dralle Uschi, handfest, liebenswürdig energisch, eine Nudel, die ihr "Bärchen" Harry fest im Griff hat. Sie trägt das von eifrigem Szenenapplaus begleitete Stück wesentlich.

Mehr als ein Komödchen

Selbstverständlich bedient Thomas Steinke auch küchenpsychologische Klischees von einem als Kind ungeliebten Unternehmer, der später bei Sätzen wie "Macht macht geil" landet. Und spielt mit Running Gags wie Toilettenreflexen Harrys im Konfliktfall, die Uschi mit dem Ruf "Kacken ist keine Lösung" quittiert. Die ebenso unvermeidlichen Slapsticks wirken aber nicht aufgesetzt, die oberhalb des Boulevards angesiedelte Komödie nicht penetrant. Das dankbare Bautzener Publikum spürt wohl auch viel zu sehr die Spiellaune der vertrauten Ensemble-Stammspieler.

Einer sozialutopischen Idealisierung beugt der Autor mit einem ins Absurde gesteigerten Finale selber vor. Vom "Opfer" vor die Alternative "adoptieren oder killen" gestellt, wählen die "Täter" die erste Variante. Auf dem Spielplatz fordert ihr Boss-Kindchen nun die ihm täglich zustehenden Elfeurofuffzich für Eis ein. "Wir werden ihn nicht mehr los!"

Feindliche Übernahme
von Thomas Steinke
Regie: Odette Bereska, Ausstattung: Katharina Lorenz, Dramaturgie: Madlenka Scholz.
Mit: Anna-Maria Brankatschk, Mirko Brankatschk, István Kobjela, Jan Mickan.
Premiere am 25. November 2022
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theater-bautzen.de


Kritikenrundschau

"Das Publikum im voll besetzten Haus lacht und klatscht, amüsiert sich. Vielleicht, weil Erinnerungen hochsteigen, gute wie schlechte", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (28.11.2022). "Autor Steinke und die Berliner Regisseurin Odette Bereska geben der Komödie, was sie zum Renner macht: jähe Wendungen, Wortwitz, griffige Dialoge, Tempo, Spannung, regionale Bezüge."

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