Nachrichten aus dem Mittelstand

26. November 2022. Egon Monk war einer der letzten Mitarbeiter Brechts, wanderte von der DDR in die BRD aus und wurde dort als Fernsehregisseur ein Spezialist für politische Szenarien. Seine "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" kommt in Bruchsal als Sprechoper auf die Bühne.

Von Thomas Rothschild

Egon Monks "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" an der Badischen Landesbühne Bruchsal © Sonja Ramm

26. November 2022. Das Theatergedächtnis ist kurz. Kann man voraussetzen, dass selbst Theaternarren, die, sagen wir, jünger sind als 40, noch wissen, wer Egon Monk war? Immerhin gehörte er, ehe er 1953 von der DDR in die Bundesrepublik wechselte, zu den letzten Mitarbeitern von Bertolt Brecht. Einen Namen machte er sich im Westen vor allem als Fernsehregisseur, als Spezialist für politische Szenarien, meist nach literarischen Vorlagen, aber auch dokumentarischer Art.

1970, ein Jahr vor dem Erscheinen von Bölls "Gruppenbild mit Dame", drehte Egon Monk für den NDR nach einer eigenen Erzählung "Industrielandschaft mit Einzelhändlern", pikanterweise mit Horst Tappert, von dem später, fünf Jahre nach dem eigenen und sechs Jahre nach Egon Monks Tod, bekannt wurde, dass er der Waffen-SS angehört hatte. Jetzt hat sich die Badische Landesbühne in Bruchsal des Stoffes entsonnen, nach dessen Aktualität man nicht lange fahnden muss, und hat ihn, nicht als erste, für das Theater bearbeitet.

Zwischen Brecht und politischem Kabarett

In der Dramengeschichte wimmelt es von Göttern und Königen, seit rund 100 Jahren, seit Horváth und Brecht, auch von Sympathieträgern aus dem Prekariat. Der Mittelstand kommt kaum vor. "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" ist, exemplifiziert an einem Drogisten, ein Stück über genau diesen, den Mittelstand eben, dessen Überlebenskampf "allein gegen Warenhäuser, Kaufhäuser, Versandhäuser, Shopping-Center, Filialläden, Selbstbedienungsläden, Discount-Läden, allein gegen Rotten von Konzernen und Ketten" seit der Entstehung von Monks Text eher zu- als abgenommen oder längst letal geendet hat.

Es gibt zwar Personen in diesem Stück, aber keine Personenrede. In Bruchsal sind es fünf Darsteller:innen, die, anders als in Monks Fernsehfilm, zum Teil mehrere Rollen bekleiden und den (wie in Ernst Jandls zehn Jahre nach der "Industrielandschaft" uraufgeführtem Theaterstück "Aus der Fremde") in der dritten Person und im Konjunktiv abgefassten Text unter sich aufteilen und ihn wie einen Staffelstab, oft mitten im Satz, aneinander weiterreichen.

Drei Schauspieler:innen bilden auch den Chor. Die Gattungsbezeichnung "Sprechoper", die sich nicht so folgenreich durchgesetzt hat wie die Vortragsform, die sie meint, passt ziemlich genau auf die Inszenierung. Die frontale Rede ans Publikum verstärkt den didaktischen Eindruck, der nahezu reflexartig mit Brecht in Zusammenhang gebracht wird, aber auch im politischen Kabarett beheimatet ist, bei dem sich im Übrigen die Musik zur Bruchsaler Aufführung bedient.

Was eine Industrielandschaft ausmacht

Das Stichwort "Industrielandschaft" hängt als Sprachbanner, das alsbald aufleuchtet, hinter einem Gerüst, dessen Steg auf einem Meter Höhe vorübergehend als Bühne dient. Im Hintergrund sind Kartons mit der Aufschrift "Ware" gestapelt. Auf der linken Seite hängen zwei traurige Arbeitsmäntel an Kleiderhaken, davor steht eine schlichte Couch, rechts deutet ein Stehtisch auf Rädern mit vier leeren Biergläsern eine Gastwirtschaft an. Gestisch und mimisch illustriert das Quintett den Text eher beiläufig, ohne überflüssige Verdeutlichung. Verdoppelungen sind selten. Da beschreibt die Frau des Drogisten dessen Äußeres, das man ja sehen kann. Das erinnert an den Witz von dem Mann, der zu seinem Gegenüber in der Eisenbahn sagt: "Sie kommen mir so bekannt vor. Sind Sie nicht ein Kleiner, Dicker mit Brille?"

Industrielandschaft 1 SonjaRamm uStammtisch der Unternehmer:innen oder: Ein Ensemble mit Freude an der Komik des Textes © Sonja Ramm

Die Inszenierung von Intendant Carsten Ramm ist nicht ohne Komik. So wiederholen sich als sprachlicher Running Gag Varianten der Sätze: "Wozu der Wirt nickte. Teils, weil er das auch fand, teils, weil er sich angewöhnt hatte, zu allem zu nicken, was die Gäste sagten." Zum rhythmischen Vortrag der Einrichtungen, die eine Industrielandschaft ausmachen, markiert das Ensemble einen grotesken Tanz, ohne ihn, wie sonst so oft, auszuwalzen.

Das Unternehmertum gegen die Macht der Konzerne verteidigen

An einer Stelle heißt es: "Was ist eine weinende Mutter, / Was ein sterbendes Reh / Gegen den herzzerfetzenden Anblick eines Eigentümers / Dessen Eigentum sich verabschiedet hat / Aber beim Geld hört der Spaß auf." Das klingt nach Monks Lehrmeister Brecht. Aber Egon Monks Position ist nicht sozialistisch, sondern frühkapitalistisch. Sie verteidigt das idealisierte Unternehmertum gegen die spätkapitalistische Macht der Konzerne. Und das ist heute fast schon revolutionär. Aber "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" ist eben ein Stück über die Nöte des Mittelstands. Arbeiter kommen darin nicht vor.

Gegen Ende räsoniert der Drogist: "Der Arbeitnehmer der Zukunft, heiße es, müsse sich darauf vorbereiten, öfter als heute den Arbeitsplatz, öfter aber auch den Beruf zu wechseln, vielleicht ein paarmal im Leben, was wisse er, den Herren käm’s nicht so darauf an, müsse zu seinem Beruf peu á peu einen zweiten und dritten hinzulernen, den durchgreifend sich verändernden wirtschaftlichen Gegebenheiten sich anpassen, dürfe beileibe nicht fragen, wer die Gegebenheiten gebe und warum, müsse flexibel sein, damit er besser gefressen werden könne. Aber gut. Nur hätte ihm das jemand sagen müssen. Beizeiten."

Neu nachdenken über die Anforderungen des Kapitalismus

In diesem Monolog offenbart sich die Zweischneidigkeit von Monks Standpunkt. Was er zutreffend beschreibt, aber nicht bewertet, nützt den Erfordernissen der kapitalistischen Profitgesellschaft. Aber haben nicht auch Linke in jenen Jahren, in denen der Text geschrieben wurde, für größere Mobilität und für "permanent education" geworben? Dass über solche Fragen neu nachgedacht werden sollte, dass das im engen Verständnis politische Stück von Egon Monk dafür eine Vorlage liefert, gehört zu seinen Verdiensten.

Bruchsal mag im üblichen Verständnis Provinz sein. Die Aufführung von "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" ist es nicht. Und manches Metropolentheater könnte hier lernen, was Sprechtechnik bedeutet und wie man auch ohne Mikroports jede Silbe verständlich macht.

Industrielandschaft mit Einzelhändlern
von Egon Monk
Regie: Carsten Ramm, Bühne: Tilo Schwarz, Kostüme: Kerstin Oelker.
Mit: Martin Behlert, Lydia Fuchs, Thilo Langer, Tobias Strobel, Lukas Maria Redemann.
Premiere am 25. November 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.dieblb.de

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