Reißnagel im Heuhaufen

29. November 2022. Theater in der Tagesschau? Das ist fast unvorstellbar. Aktivistische Aktionen laufen der einst öffentlichsten Kunstform schon länger den Rang ab. Und die Skandale kommen von innen.

Von Michael Wolf

29. November 2022. Vor kurzem äußerte sich eine Reihe prominenter Theatermacher zum Klimaaktivismus. In ihrer Erklärung heißt es: "Seit Wochen stemmt sich die 'Letzte Generation' mit Straßenblockaden und anderen Aktionen gegen das kollektive Versagen. Die Reaktion in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit: Hohn, Hetze und Diffamierung der Proteste." Und weiter: "Wir sagen: Ziviler gewaltfreier Widerstand gegen die Klimanotlage ist legitim und notwendig und verdient unsere solidarische Unterstützung." Etwas irritierend klingt das für mich, ist der Aktivismus doch nicht auf Solidarität angewiesen. Im Gegenteil. Sollte sich eine Mehrheit mit ihnen solidarisch erklären, bräuchte man die Aktivisten nicht mehr. Aktivismus will und soll ja vor allem eins: die (scheinbare) Ordnung stören oder – mit Claus Peymann gesprochen – "Reißnagel im Arsch der Mächtigen" sein.

Begrenztes Überraschungspotential

Ich dachte beim Lesen der Erklärung an die letzte Kolumne meines Kollegen Janis El-Bira, in der er das Beschmieren von Gemälden als eine Form des politischen Theaters beschreibt, mehr noch als "die obszönste, drastischste und gleichzeitig faszinierendste Form politischen Theaters", die ihm seit langer Zeit untergekommen sei. Und tatsächlich übernimmt der Aktivismus heute Aufgaben, die traditionell das politische Theater für sich reklamiert hat, die zu erfüllen ihm aber nur noch sehr selten gelingt. Christoph Schlingensief ist lange tot. Falk Richters "Fear" aus dem Jahr 2015 fällt einem ein, als eine Inszenierung, die weit über die Grenzen des Publikums hinaus ihre Wirkung entfaltete, und vielleicht in jüngerer Zeit auch noch Lydia Haiders Aufruf, Sebastian Kurz zu erschießen, wobei ihr Stück eher formal und sprachlich motiviert zu sein scheint und in seiner politischen Stoßrichtung vage ausfällt. Ansonsten sucht man die theatralen Reißnägel nicht im Arsch der Mächtigen, sondern im Heuhaufen, während der Aktivismus es regelmäßig in die Abendnachrichten schafft.

Das liegt nicht unbedingt an fehlender Entschlossenheit von Regisseuren, Autoren oder Schauspielern, sondern freilich zunächst daran, dass Theater sich nicht davon befreien kann, Kunst zu sein. Die Bühne rahmt ein System exponierter Zeichenproduktion, in dem, um forcierte Aufmerksamkeit auf ein politisches Anliegen zu richten, zunächst etwas Überraschendes geschehen müsste, was aber dadurch erschwert wird, dass man im Parkett sitzend ohnehin eine Erwartungshaltung einnimmt. Der Aktivismus hingegen setzt ebendort ein Zeichen, wo keines erwartet wird. Bei ihm fällt zudem die Zeichenproduktion mit der Tat in eins, die sich von der Bühnenaktion dadurch unterscheidet, dass sie die Grenzen des "Als ob" sprengt. Für Arbeitnehmer, die morgens wegen Sitzblockaden im Stau stehen, ist das ein sehr realer und beunruhigender Eingriff in ihren Alltag.

Repräsentant der Mitte

Wenn Theater Aktivisten engagieren, dann um an einer politischen Avantgarde teilzuhaben, die sie selbst nicht erreichen. Der Werdegang des etwas in Vergessenheit geratenen Zentrums für politische Schönheit erzählt einiges über dieses Verhältnis. Die Gruppe um Philipp Ruch trat zunächst in Zusammenarbeit mit Theatern auf den Plan, war jedoch sehr darauf bedacht, kein Feuilletonphänomen zu bleiben. Erst wenn ihre Aktionen im Politikteil diskutiert wurden, konnten sie von einem Erfolg sprechen. Das Theater war ihnen wohl lediglich ein Sprungbrett, eine Institution, mit der im Rücken sie sich auf die Kunstfreiheit würden berufen können und nicht zuletzt ein Geldgeber für die Anwaltskosten.

Im Verständnis eines Claus Peymann galt die Bühne noch als oppositionelles Medium, das am Rande der Gesellschaft verortet ist und deren Eliten traktiert, die Mitte schockiert und aufwiegelt, mindestens aber erzieht. Diese Vorstellung ist im Betrieb immer noch weit verbreitet, doch tatsächlich längst überkommen. Das Theater ist nunmehr selbst Repräsentant dieser Mitte. Es ist zu der Radikalität nicht fähig, die Aktivisten zeigen. Seinen Künstlern bleibt nur noch die Solidaritätsadresse an jene, die wirklich etwas bewegen.

Angst vor politischen Fehltritten

Das bedeutet freilich nicht, dass es an Stadttheatern keine Skandale mehr gäbe. Allerdings sind sie selbst und ihre Künstler darin die Angeklagten und Aktivisten immer öfter die Initiatoren der Unruhe. Wie auch immer man das im Einzelnen bewerten mag, sicher ist, dass der Aktivismus schon jetzt große Veränderungen angeregt hat. Die Volksbühnen-Intendanten Chris Dercon und Klaus Dörr wurden auch von aktivistischer Seite gestürzt, das Düsseldorfer Schauspielhaus stellte nach einem Rassismusskandal die Einrichtung einer Schwarzen Spielstätte in Aussicht, zuletzt sagte das Münchner Metropoltheater eine Produktion ab, nachdem eine studentische Gruppe im Stück Vögel Antisemitismus anprangerte. Auch das konkrete Bühnengeschehen hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Blackfacing ist abgeschafft; kaum ein männlicher Regisseur traut sich noch, eine nackte Schauspielerin auf die Bühne zu schicken; Klassiker werden teils erheblich gebeugt, um die Frauenfiguren zu stärken.

Natürlich war das Schauspiel auch schon zuvor nicht vor externer Kritik gefeit, man denke an den Skandal um Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod". Doch zeigt sich in den gegenwärtigen Routinen von Solidaritätsbekundung einerseits und der Angst vor politischen Fehltritten andererseits ein Rollentausch. Es ist nicht mehr die Kunst, die im Modus moralischer und politischer Überlegenheit den Anspruch erhebt, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und den Weg in eine bessere, gerechtere Zukunft zu weisen. Stattdessen ist sie nun selbst zum Objekt politischer Kontrolle geworden. Die Theater sehen sich damit im Klammergriff eines Aktivismus, den sie zugleich beneiden und fürchten müssen.

Kolumne: Als ob!

Michael Wolf

Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Literarisches Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an. 

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Anpassung
Das Theater ist einfach zu unwichtig geworden als das sich jemand daran festkleben würde. Es muss sich selbst an politische Bewegungen anhängen, um irgendwie noch Relevanz zu erlangen. Ein historischer Witz. Natürlich könnte das Schauspiel jeder Zeit massiv überraschen. Aber es ist zu angepasst an die Regierungspolitik. Überhaupt fehlt das Wort Anpassung in der Kolumne. So sieht das eben aus, wenn man sich einer Regierung andient. Langweilig eben. Und das ist ja auch gewollt. Es funktioniert wie ein Gerichtstermin von dem man schon weiß, wie er ausgehen wird. Es wird da nichts mehr wirklich verhandelt. Niemand muss sich vor irgendetwas fürchten. Alles save.
Kolumne Wolf: Staub zu Glitzer
Die Inszenierung mit der größten bundesweiten und internationalen Strahlkraft, "die weit über die Grenzen des Publikums hinaus ihre Wirkung entfaltete", war "B6112" vom Kollektiv Staub zu Glitzer, bei der es doch offensichtlich um weit mehr geht als den Sturz zweier Intendanten. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit dieser Aktion der Kunstcharakter abgesprochen wird.
Kolumne Wolf: B6112
Null. Zero! War diese Aktion Kunst. Es war Anti-Kunst. Reine Thesenträgerei.
Kolumne Wolf: Größtes Kunstwerk
Klar war´s Kunst, stand ja schließlich auch drauf (Doch Kunst)! Spaß beiseite, über den Kunstbegriff lässt sich natürlich diskutieren, in meinen Augen war´s das größte Kunstwerk, das die VB je gesehen hat, (Tausendende Partizipierende in wenigen Tagen). Natürlich gab es Probleme, aber in der riesigen Vielfalt lag für mich die Kunst.
Kolumne Wolf: Begriffsdefinition
Lieber Karl,

darf ich um eine kleine Begriffsdefinition bitten? Was ist für Sie Kunst?
Kolumne Wolf: Kunst
Zu Kommentar 5
Kunst ist die durchsichtigste Weise des Seins.
Kolumn Wolf: Kunst?
Was ist für Sie Herr Martin Bauks - Kunst?
würde mich interessieren?
Kolumne Wolf: Große Kunst
Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber, das ist doch ein äußerst
wichtiger Begriff: K u n s t. Und was glauben Sie, woher kommt dieses
KUNST IST DIE DURCHSICHTIGSTE WEISE DES SEINS? - Sie könnten es
erraten. Es ist von einem weltberühmten, wenn auch umstrittenen großen
deutschen Philosophen. Der aber von sich sagte: Ich bin kein Philosoph,
ich bin ein Denker. Für ihn war der LETZTE PHILOSOPH überhaupt -
Friedrich Nietzsche.
Kolumne Wolf: Kathartisches Erleben
Lieber Peinter,

falls etwas eine große auratische Kraft hat, ihre Aufmerksamkeit beinahe erzwingt und nicht sofort anwendbar ist im Alltag, aber trotzdem ihre eigene geistige wie auch seelische Kreativität herausfordern, sie sogar während der Betrachtung und Entschlüsselung ein kathartische Erlebnis haben, könnte es sich um Kunst handeln. In sofern war die Besetzung der Volksbühne lediglich eine Protestaktion. Sofort im Alltag anwendbar mit einem handlichen Ziel versehen. Mehr oder weniger ein stinkender Fisch eingewickelt in einem schlechten Kunstdruck.
Kolumne Wolf: Herausforderung für Kunstkritik
#6+7: Wow - was für eine tolle Definition! Und wie fogenschwer! - Wenn die Definition denn stimmen würde - und ich wünschte, das wäre an dem! - wäre dies nicht nur eine neue Herausforderung für den Kulturjournalismus und die Kunstkritik, sich konsequent lediglich einer auch bekennend subjektiv wahrgenommenen objektivierenden Beschreibung des Wahrgenommenen zu befleißigen, statt stets pseudokreativ auf der Matte zu stehen, um vermeintlich "zeitgemäße" Debatten zu kreieren.
Es bedeutete darüber hinaus für KünstlerInnen eine Erlösung davon, für diesen Kulturjournalismus, die Kunsttheorie und die Kunstkritik ständig selbstreferentiell argumentieren zu müssen, statt auch Selbst-Kritik sowie Selbst-Erkenntnis über Mittel- und Themenwahl am eigenen Kunstmachen einfach ebenfalls in die eigene Kunst einfließen zu lassen... Ein Wunsch, aufs Innigste zu träumen heutzutag für KünstlerInnen...
Ich bin übrigens auch gespannt auf die Kunstdefinition von "martin baucks"... Danke für Ihre.
Kolumne Wolf: Schlingensief konnte es
"Ein Kunstwerk zeichnet sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung aus. Es ist sozusagen ein demonstrativ unwahrscheinlicher Sachverhalt." Diese Definition von Niklas Luhmann hat nur einen Haken: sie macht das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen der Kunstproduktion. Deshalb müssen die Künstler das Unwahrscheinliche, das ihre Kunstwerke auszeichnet, nicht in der Kunst sondern in der Gesellschaft suchen, in der Nichtkunst. Und deshalb muss ein Kunstwerk wie Kunst und Nichtkunst zugleich aussehen. Soetwas herzustellen ist nicht leicht, nur Christoph Schlingensief konnte es problemlos...
Kolumne Wolf: Auflösung mit Heidegger
Der Spruch Kunst ist die usw. - ist von Martin Heidegger.
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