Schaut nicht hin!

4. Dezember 2022. Kirill Serebrennikov verlegt in Hamburg einen Klassiker der russischen Phantastik in den Krieg: Nikolai Gogols "Der Wij" ist kaum erträglich in seiner Drastik, berührt und hinterlässt einen dennoch ratlos.

Von Falk Schreiber

"Der Wij" von Kirill Serebrennikov am Thalia Theater Hamburg © Fabian Hammerl

4. Dezember 2022. In der Altonaer Gaußstraße, vor der Außenstelle des Hamburger Thalia Theaters, findet eine Demonstration statt. Ungefähr 20 Exil-Ukrainer*innen haben sich versammelt, um gegen die Premiere „Der Wij" zu protestieren, "Russische Kultur ist auch eine Waffe", skandieren sie. Und obwohl man sie ein Stück weit versteht, scheint das ein wenig am Thema vorbeizugehen, weil hier der Dissident Kirill Serebrennikov inszeniert, dem man sicher keine unkritische Haltung zum Putin-Regime vorwerfen kann; und er zeigt einen Stoff des ukrainischstämmigen Russen Nikolai Gogol (der zudem überaus ukrainophil war), mit Schauspieler*innen aus Deutschland, Russland und der Ukraine. Vielleicht ist der Protest aber auch nur der Beweis, wie gereizt die Diskussion aktuell ist. Es ist kompliziert.

Wenn Blicke töten können

Gogols 1835 erschienene, heute als Klassiker der russischen Phantastik geltende Erzählung "Der Wij" handelt von einem Philosophiestudenten, der am Sarg einer jungen Frau Totenwache hält, die von Nacht zu Nacht grausigere Dämonen hervorruft. In der dritten Nacht ruft sie den "Wij", ein Wesen, dessen Blick tötet: Zwar sind die Augen des Wesens von riesigen Lidern verdeckt, so schwer, dass es sie selbst nicht öffnen kann, aber immer wieder finden sich Menschen, die ihm helfen, die Lider zu heben – und so stirbt der Student schließlich. Der Wij ist der absolute Schrecken, und dass Serebrennikov ihn mit dem Krieg identifiziert, leuchtet unmittelbar ein.

DerWij3 805 Fabian Hammerl uDüstere Schatten menschlicher Gewalt auf der von Kirill Serebrennikov selbst entworfenen Bühne © Fabian Hammerl

Im Hamburger "Wij" also wurde ein Soldat einer nicht näher bezeichneten Invasionsarmee (Filipp Avdeev) von seiner Einheit getrennt, ein paar Dorfbewohner haben ihn gefangen genommen und durch die Mangel gedreht. Jetzt sind sie in einer zerstörten Turnhalle gelandet und überlegen, was sie mit ihm anfangen sollen – gleich umbringen, vergewaltigen, noch ein bisschen quälen? Viel jedenfalls ist nicht mehr übrig von dem stöhnenden und zitternden Bündel Mensch, die Geschichte ist bald zu Ende. Dann allerdings kommt der Großvater (Falk Rockstroh) auf eine Idee, zu was der Gefangene nützlich sein könnte: Er kann lesen, also soll er der Enkelin (Rosa Thormeyer) vorlesen. Die Enkelin aber ist tot, und als der Soldat unter Zwang beginnt, Passagen aus "Romeo und Julia" zu deklamieren, lässt sie die Unterwelt auf ihn los. Bis schließlich der Wij erscheint, der absolute Schrecken.

Ungefilterte Grausamkeiten

Menschlich ist nichts mehr, an diesen verrohten und zerstörten Figuren, und Serebrennikov zeigt das in jeder denkbaren Drastik. Johannes Hegemann, Pascal Houdus und Oleksandr Yatsenko kicken, prügeln und beschimpfen ihr Opfer, es ist ein viehisches Drangsalieren, was hier passiert, und nur weil die Stromversorgung unterbrochen ist, bleiben die ärgsten Grausamkeiten ungesehen: Die Bühne ist zunächst ausschließlich durch einzelne Taschenlampen beleuchtet, nach einer Weile kommt noch das flackernde Licht einer durch einen Fahrraddynamo angetriebenen Glühbirne dazu. Unerträglich ist es dennoch, was man hier miterleben muss, das Schlagen und das Stöhnen, den Blut, den Schweiß und die Scheiße. Dazu kommt der ultrarealistische Raum, den Serebrennikov gebaut hat, ein dunkler Schlund aus Asche und Dreck. Ein Alptraum. Und als Theatermittel nicht unproblematisch. Darf man das eigentlich: Folter und Entmenschlichung so eins zu eins ungebrochen darstellen?

DerWij1 805 Fabian Hammerl uStimmungswechsel: Bernd Grawert gibt den Wij als Entertainer © Fabian Hammerl

Der Bruch kommt dann zum Höhepunkt der Grausamkeiten: Bernd Grawert gibt den Wij als Comedian aus der Hölle, mit Witzen, die nicht zünden, worauf er die Lacher zunehmend aggressiv einfordert. Natürlich, Krieg und Tod, das ist kein Spaß, und es ist nicht ungeschickt, wie nervtötend Grawert hier agiert. Ein wenig verliert die Inszenierung hier allerdings auch ihre Konsequenz aus dem Blick, entpuppt sie sich als das Theater, das sie rund 100 Minuten lang nicht sein wollte.

Bewusster Verzicht auf Applaus

Und dem sie sich im Anschluss auch wieder entzieht. Nach einem langen, viel zu langen Schlussmonolog Avdeevs nämlich erscheinen die Wände plötzlich wie von Kugeln durchlöchert, einzelne Lichtstrahlen ziehen sich durch den Raum, ein dunkles Dröhnen schwillt ohrenbetäubend an, dann wird es dunkel. Und dreisprachig wird das Publikum aus dem Off ermahnt: "Wir bitten darum, aus Respekt vor allen Menschen, die unter diesem Krieg leiden, auf Applaus zu verzichten." Es ist kompliziert, und diese berührende, beängstigende, unerträgliche und seltsam disparate Inszenierung sorgt nicht dafür, dass es einfacher wird.

 

Der Wij
von Bohdan Pankrukhin & Kirill Serebrennikov
nach einer Erzählung von Nikolai Gogol
Deutsch von Kyra Heye
Regie, Bühne, Kostüme: Kirill Serebrennikov, Mitarbeit Bühne: Elena Bulochnikova, Kostüme: Shalva Nikvashvili, Musik: Daniel Freitag, Choreografie: Ivan Estegneev, Evgeny Kulagin, Licht: Sergej Kuchar, Künstlerische Mitarbeit: Anna Shalashova, Dramaturgie: Matthias Günther, Übersetzerin: Kyra Heye.
Mit: Filipp Avdeev, Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Pascal Houdus, Viktoria Miroshnichenko, Falk Rockstroh, Rosa Thormeyer, Oleksandr Yatsenko.
Uraufführung am 3. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de


Kritikenrundschau

"Wie Gogol macht auch Serebrennikow die Kultur zur wichtigsten Waffe im Kampf gegen das Böse", schreibt Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.12.2022) und verteidigt den Regisseur gegen die Proteste vor dem Theater, die ihn als "Propagandisten russischer Kultur" darstellten, dimme Serebrennikow doch "gerade in dieser Produktion die russische Subjekthaftigkeit maximal herunter, ja, er zerlegt sie". Dabei kommen für Holm "ausdrucksstarkes Körpertheater" und "poetische Vergegenwärtigung" heraus.

"Mal mit gespenstischem Realismus, dann wieder in Formen der Groteske oder des Fantastischen, erzählt Serebrennikow von einer Situation mitten im Inferno, wo die Bestialität des Angriffskriegs sein zerstörerisches Werk der Entmenschlichung bereits weit vorangetrieben hat", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (5.12.2022) und zeigt sich besonders mitgenommen vom "zutiefst mitfühlenden, wenn auch hoffnungslosen Schluss" dieser "Anklage der Putin-Diktatur". "Vorgetragen von einem Russen, der immer noch an die humanen Behauptungskräfte der Kunst glaubt, ist dieses Resümee des Unmenschlichen natürlich besonders deprimierend."

"Dieser Abend fasst an, erschüttert, macht sprachlos. Der Schutzschild, den wir im Alltag zwischen uns und die Wirklichkeit schieben können, wird weggerissen", sagt Katja Weise auf NDR Kultur (4.12.2022). "Serebrennikov zwingt uns, dem Wij in die Augen zu schauen, er zeigt, wie aus Menschen Mörder werden können."

"Es ist ein großes Grunzen, Brüllen, Rotzen und Heulen, ein Ausdruckskampf der halb entblößten Körper, den ein Ensemble aus ukrainischen, russischen und deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Thalia-Bühne vorführt. Die Direktheit, mit der ­Serebrennikow die Kriegsgegenwart als Liveereignis ins Theater zu ho­len versucht, ist eine für viele Menschen im Publikum schwer erträg­liche ­Zumutung", schreibt Wolfgang Höbel im Spiegel (50/2022). "Fest steht: Entschiedener, schroffer, verstörender als in dieser Aufführung kann man die blutige Gegenwart des durch Russland vom Zaun gebrochenen Kriege s auf einer Bühne kaum verdammen."

Kommentare  
Der Wij, Hamburg: Warum Protest?
warum wird da demonstriert gegen den jung gestorbenen Gogol? der ist doch in Welyki Sorotschynzi geboren, einem Ort in der heutigen Ukraine? Er war teilweise sehr ethnographisch interessiert an der ukrainischen Folklore.
Der Wij, Hamburg: Kirill Serebrennikov
Es wurde gegen Kirill Serebrennikov demonstriert!

Was meines Erachtens aber "auch" deplatziert war, das ist aber Faust 2. Teil.
Der Wij, Hamburg: Typisch deutsche Täter-Opfer-Umkehr?
Ich bin zutiefst entsetzt sowohl über die Inszenierung als auch über das einstimmige Jubeln der deutschen Theaterwelt. Die dagegen Protestierenden, die wenigen namenlosen Ukrainer, die von ihren Kritikern als kleine verstörte Kinder dargestellt werden, die nicht verstehen, worum es geht, und bitte nicht mehr demonstrieren sollen, - werden im besten Falle milde belächelt oder sogar als "peinlich" empfunden.

Da wird ein russischer Soldat, damit wir das gleich richtig verstehen, als "Opfer" durch den Verfasser der Kritik wörtlich markiert, von drei ukrainischen Dorf(!)bewohnern gefoltert, und "nichts ist mehr menschlich" an diesen "verrohten, zerstörten" Ukrainern, die "überlegen, was tun: zuerst vergewaltigen, und dann töten?" Eine derart zynische Täter-Opfer-Umkehr ist selbst retrospektiv schwer zu ertragen, aber live, wenn in genau diesem Moment täglich neue Massengräber gefunden werden, voll mit ukrainischen Frauen, Männern und Kindern, von russischen Soldaten (nicht von Putin!) gefoltert, vergewaltigt und getötet, wenn Folterkammer für ukrainische Kinder entdeckt werden, wie ist das möglich, wie moralisch vertretbar? Selbst die aktuellen genozidartigen Angriffe auf die Licht- und Wärmeinfrastruktur mitten im Winter bei Minusgraden werden in der Inszenierung als etwas Gutes in Szene gesetzt: denn wenn das Licht ausgeht, "sieht man die schlimmsten Folter nicht".

"Düstere Szenen menschlicher Gewalt auf der von Serebrennikov selbst entworfenen Bühne" - so sehr Serebrennikov und seine Verteidiger bemüht sind, diesen Krieg als "Mensch gegen Mensch", "Bruder gegen Bruder" darzustellen, in diesem Krieg hat die Gewalt einen Namen, "düstere Szene russischer Gewalt in der Ukraine" sollte die Fotounterschrift heißen, vorausgesetzt, man ist bereit, nicht vor dem Schrecken, der einen Namen hat, die Augen zu verschließen.

Auf der Webseite des Theaters schreibt Serebrennikov: "Wir erarbeiten unser Theaterstück mit einem großen internationalen Team. Deutsche, die einst ihre eigene Katastrophe überlebten..." Wie bitte? Steht das Wort Shoah - Katastrophe - nicht etwa für die Opfer der Deutschen, nämlich die ermordetet Juden Europas? Jetzt sind die Deutschen die "Katastrophen-", die "Shoah-Überlebenden"? Das passt natürlich sehr in die "wir sind alle Opfer dieses bösen Krieges"-Erzählung! Vielleicht sollte die begeisterte Rezeption dieser Inszenierung angesichts der doch nicht so gut wie behauptet aufgearbeiteten eigenen Vergangenheit nicht verwundern, "Opa war kein Nazi" sollte zur Pflichtlektüre werden.

Mit dieser Inszenierung ist es den Machern leider gelungen, auf höchstem künstlerischen Niveau Bilder zu schaffen, die in unser kollektives Gedächtnis eingehen werden, Bilder von folternden Ukrainern und von vermeintlichen "Opfern", (armen, von ihren Müttern ungeliebten russischen Soldaten), sowie eine Diskussion einzuleiten, in der das Leid der Russen auf allen Ebenen, sogar auf der Ebene der Kritik der Inszenierung, im Vordergrund steht. "Serebrennikov ist selbst Opfer Putins, das wollen die wütenden Ukrainer nicht verstehen" (Zitat).

Ich empfinde tiefes Entsetzen und möchte mich an dieser Stelle bei den Opfern des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Menschen in der Ukraine dafür entschuldigen, dass Deutschland dieser Täter-Opfer-Umkehr so begeistert und einstimmig die Bühne anbietet und hoffe sehr, dass sich besser früh als spät auch Angehörige der deutschen Theaterwelt bei Ihnen entschuldigen. Dass sie Ihnen eine gleichberechtigte Stimme geben, Ihre Sicht der Ereignisse sowie Ihre Einschätzung dieser Inszenierung darzustellen, Ihre Bilder zu schaffen, und dass auch Namen, Gesichter, Geschichten von Ihren Angehörigen, die von den russischen Soldaten und allen an der Zerstörung Ihres Lebens Beteiligten, gerade gefoltert, gequält und getötet wurden/werden, sich in unser kollektives Gedächtis einprägen und dass wir Ihnen aus Respekt vor Ihrem Leid mit offenen Augen, aber schweigend, zuhören werden können.
Der Wij, Hamburg: Fordernd
Düster und brutal sind diese zwei Theaterstunden, in denen Kirill Serebrennikov vom Krieg erzählt. Filip Avdeev, einer seiner Stammspieler aus dem mittlerweile geschlossenen Gogol Center, kauert im Boden und wird von einem Trio malträtiert. Johannes Hegemann (Nachwuchsschauspieler des Jahres) und Oleksandr Yatsenko (Gast aus der Ukraine in dieser bewusst transnational angelegten Inszenierung des Thalia Theaters) überbieten sich in Grausamkeiten, die sie ihrem Opfer antun möchten. Pascal Houdus greift mahnend ein und versucht, die schlimmsten Exzesse abzumildern.

In der spielerisch eindrucksvollsten Szene des Abends baumelt das Trio, das wir schon zu Beginn erlebten, an Klettergerüsten, zieht sich mit Klimmzügen hoch, hängt kopfüber nach unten und presst weitere Erzählungen von Folter und Krieg hervor. Einige Drill-Instructor-Einheiten von Serebrennikows bewährtem Choreographen-Duo Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin waren nötig, um das Ensemble auf das Fitness-Level zu bringen, diese Tour de Force durchzustehen, erzählte das Team beim gestrigen Nachgespräch.

Der Wij“ ist ein fordernder Abend, der sehr drastisch und zugleich symbolisch-rätselhaft von Krieg und Gewalt erzählt. Es wundert mich, dass die Theatertreffen-Jury diese Inszenierung nicht auf der Shortlist für die engere Diskussion der 10er Auswahl hatte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/02/der-wij-thalia-gaussstrasse-theater-kritik/
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