Gute Nacht, Schepenese

6. Dezember 2022. Wem gehört die Mumie Schepenese? Der Stiftsbibliothek St. Gallen, dachte man bis vor kurzem. Regisseur Milo Rau setzt sich nun jedoch für eine Rückführung nach Ägypten ein. Die von ihm angestoßene Debatte trifft die europäische Kultur ins Herz.

Von Janis El-Bira

6. Dezember 2022. Über die Toten soll man nur Gutes sagen oder wenigstens gar nichts. In der Schweiz bekommt das gerade der Regisseur Milo Rau zu spüren, obwohl er über eine prominente Tote im schönen St. Gallen nicht einmal direkt Schlechtes gesagt hat. Bei dem Medienschauspiel, das den Schweizer Feuilletons seit rund drei Wochen erkleckliches Material liefert, geht es vielmehr um die letzte Ruhestätte einer altägyptischen Mumie mit dem Namen Schepenese. Diese liegt in einem gläsernen Sarg im Barocksaal der St. Galler Stiftsbibliothek, ist wie das ganze Stift gegen 18 Franken Eintritt zu besichtigen und wird – wie die NZZ in vorweihnachtlicher Anheimeligkeit berichtet – jeden Abend von den eidgenössischen Stiftsbibliothekaren mit den Worten "Gute Nacht, Schepenese" zugedeckt.

Milo Rau, liebster Kulturquerulant seines Heimatlands, will das ändern, genau genommen will er Schepenese nach Hause schicken. Mit einer "St. Galler Erklärung", einer Petition und maliziöserweise genau jenen 30.000 Franken Preisgeld, die Rau kürzlich von St. Gallen erhalten hatte, setzt er sich dafür ein, dass die Mumie in ihre ägyptische Heimat zurückkehrt. "Pietätlose Habgier" wirft er der Stiftsbibliothek vor, die eine ihrer Hauptattraktionen freilich nicht rausrücken möchte. Es geht bei Raus Kritik auch um die Art, wie die Mumie präsentiert wird, nämlich bis zur Brust ausgewickelt – eine Ausstellungspraxis, die konträr zum altägyptischen Totenkult stehe, wie auch der Ägyptologe Jan Assmann versichert.

Memento mori für eine Lebende

Mein erster Reflex auf diese Geschichte war: Nun, mit der Pietät ist es gerade bei sehr alten Toten auch unter christlichen Bestattungsumständen nicht immer weit her. Wer einmal an den Reihen fast lebendig inszenierter Mönchsmumien in der Kapuzinergruft von Palermo entlanglief oder in den Katakomben von Neapel über Totenschädel und Oberschenkelknochen stolperte, wird das bestätigen können. Es scheint fast, als verliere, wer nur lange genug tot ist, den Status einer Leiche und werde zum Überrest ohne Person. Ein Memento mori für die Lebenden, künstlerisch statt totenwürdig ausgestellt.

Also alles okay und weiterhin "Gute Nacht, Schepenese"? Weil "wir" mit "unseren" Toten auch nicht anders verfahren? Das ist natürlich schief gedacht. In seiner dritten Zürcher Poetikvorlesung, die sich mit dem Schicksal der St. Galler Mumie befasst, spricht Rau von der Macht des Common Sense. Dieser sei, angelehnt an einen Gedanken Antonio Gramscis, "die Produktion zustimmungsfähiger Ideen, die stärker sind als die spaltende Kraft des Faktischen".

Common Sense wäre demnach, dass die Mumie zu St. Gallen gehört, dass sie bedeutsam für die Stiftsbibliothek und überdies auf legalem Wege in deren Besitz gelangt ist. Common Sense wäre auch, dass die Art, wie Schepenese ausgestellt wird, irgendwie schon in Ordnung geht, auch wenn sie nicht altägyptischen Traditionen entspricht. Sie ist ja schließlich hier, lange genug da, also kann sie sich ruhig ein wenig anpassen. Alles andere würde hingegen unter die "spaltende Kraft des Faktischen fallen", die demgegenüber immer wieder nagend sagt: Ja, aber …

Wohlinszenierte Maximalforderung

So trifft die Schepenese-Debatte doch erstaunlich tief ins von Restitutionsdiskussionen und Selbstüberprüfungen verunsicherte europäische Kulturherz. Gerade weil der Fall so vermeintlich klein ist, weil es nicht um einen ganzen Museumstrakt geraubter Kunstschätze geht und weil Schepenese geschafft hat, was vielen Zugezogenen verwehrt bleibt, nämlich quasi Schweizerin zu werden. Die wohlinszenierte Maximalforderung Milo Raus nach einer Rückkehr der Mumie nach Ägypten kann man deshalb überzogen finden. Aber die Erosion von Gewissheiten funktioniert eben nur über Maximalforderungen. Wider besseres Wissen daran festzuhalten, dass alles so bleiben kann, wie es immer schon war, bedeutet reine Besitzstandswahrung. In der spitzesten Volte seiner Poetikvorlesung fragt Rau, warum man im Tausch gegen Schepenese nicht die im St. Galler Stift lagernde, älteste deutschsprachige Bibel nach Ägypten schicke? Das rührt an die Kernfrage aller Schepenese-verwandter Diskussionen: Was ist es uns wirklich wert?

 

Kolumne: Straßentheater

Janis El-Bira

Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.

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