Unsere Sprache kennt kein Geschlecht

7. Dezember 2022. Täglich erreichen uns neue Bilder und erschreckende Nachrichten aus Iran. Die Dramatikerin, Schauspielerin und Regisseurin Mahin Sadri ordnet die Lage ein, stellt Verbindungen zur Islamischen Revolution von 1979 her, zur persischen Sprache, zum iranischen Feminismus und zu ihren Arbeiten für das Theater in Deutschland.

Interview von Esther Slevogt

Mahin Sadri in "Macbeth", 2018 an den Münchner Kammerspielen © Susanne Brill

Der Iran kommt nicht zur Ruhe. Jeden Tag erreichen uns neue beunruhigende Bilder und Nachrichten. Seit mehr als zwei Monaten demonstrieren viele Menschen für mehr Freiheit. Es gab Tote, darunter auch sehr junge Frauen. Es gab viele Verhaftungen. Wie blicken Sie auf die aktuelle Situation im Iran, wo Sie leben, wenn Sie nicht gerade an Theatern in Deutschland oder anderen europäischen Ländern arbeiten?

Der Tod einer 22-jährigen Kurdin aufgrund eines, wie die Regierung es nannte, "unangemessenen" Hijabs war für alle so schockierend, dass er eine tiefe Kluft zwischen der Bevölkerung und der Regierung und allen, die mit der Regierung zusammenarbeiten, aufgerissen hat. Insbesondere den Frauen hat dieser Vorfall bewusst gemacht, was ihnen all die Jahre vorenthalten wurde. Trotzdem möchte ich erwähnen, dass dies nicht das erste Mal ist, dass sich iranische Frauen gegen die Diktatur und das Patriarchat erheben. Schon vor 120 Jahren, während der Konstitutionellen Revolution, bewiesen Frauen großen Mut, indem sie geheime Organisationen gründeten und sogar in Männerkleidung kämpften, um die Autokratie der Monarchie zu beenden. Doch als die Revolution siegte, übernahmen die Männer die Macht und ignorierten die Grundrechte der Frauen; zwangen sie, zu Hause zu bleiben, wie es auch nach der Revolution 1979 wieder geschah.

Was ging nach 1979 konkret vor sich?

Einem Freund zufolge, im Iran ein bekannter Fernsehmoderator, war das erste, was die Revolutionsregierung damals etwa im Fernseh-Sektor tat, die Schließung der Kindergärten für die Angestellten der Sender. So mussten die weiblichen Angestellten zu Hause bleiben und sich um ihre kleinen Kinder kümmern. Infolgedessen verloren viele ihre Arbeit. Außerdem wurden viele Schauspielerinnen wegen "unislamischen Verhaltens" aus Kino und Theater ausgeschlossen oder so eingeschränkt, dass sie die Schauspielerei aufgaben und das Land verließen. Um nicht zensiert oder verboten zu werden, zogen es viele Produzenten und Filmemacher vor, nur noch Filme über männliche Charaktere oder Kinder zu drehen. Oder sie entfernten in einer Art "künstlerischer Zusammenarbeit" mit der Regierung Frauen aus ihren Filmen wegen des angeblich unrealistischen Frauenbildes, das hier entstand. Zum Beispiel, wenn aufgrund der neuen Bestimmungen in privaten Szenen Hijabs getragen werden mussten – obwohl eigentlich im privaten Bereich ja gar keine Hijabs getragen werden – , wobei nicht bedacht wurde, dass auch das Bild der Männer im Kino nach der Revolution nicht mehr der Realität entsprach. Man hätte eigentlich vorhersagen können, dass die Kinder dieser Mütter, die all die Jahre ihrer Rechte beraubt wurden, eines Tages auf die Straße gehen und "Frau, Leben, Freiheit" rufen würden.

Trotzdem sieht das nach einem weiten Weg aus, der bis dahin zurückgelegt werden musste.

Ich glaube, wenn man jahrelang in einem System lebt und atmet, wird dieses System ein Teil von einem und füllt die Lungen wie Luft. Wenn man also anfängt, dieses System zu bekämpfen, kämpft man zunächst gegen sich selbst, und das kostet viel Zeit, Energie und Durchhaltevermögen. Doch eine der ältesten großen Zivilisationen dieser Welt ist jetzt aufgewacht und kämpft endlich für die Menschenrechte, die sie vor 2.500 Jahren mitbegründet hat. Das ist eine große Sache!

Sie und Amir Reza Koohestani, mit dem Sie eine lange Zusammenarbeit erst als Schauspielerin und inzwischen als Autorin und Co-Regisseurin verbindet, sind in Deutschland besonders dafür bekannt, kanonische Werke durch die Brille aktueller Konflikte zu lesen und entsprechend zu überschreiben. Zuletzt haben Sie in Freiburg Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi bearbeitet: Ein säkular denkender Mediziner gerät in Konflikt mit seiner an den fundamentalistischen Dogmen des Klerus festhaltenden Zunft. Ausgelöst wird der Konflikt durch den Tod einer jungen Frau, die an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt. Was hat Ihre Lesart des Dramas besonders beeinflusst?

Es war ein eigenartiger Zufall, dass die Premiere unseres Stücks "Professor Bernhardi", das mit dem Tod eines so genannten "sündigen" jungen Mädchens beginnt, mit den Protesten nach dem Tod eines jungen Mädchens im Iran wegen des angeblich unangemessenen Tragens des obligatorischen Hijabs zusammenfiel. Ich war dann besonders schockiert von einem Video von Mahsa Aminis Beerdigung. Da gib es einen Moment, wo ein kurdischer Mann (einige halten ihn für Mahsa Aminis Vater) dem Mullah nicht gestatten will, über ihrem Leichnam ein Gebet zu sprechen: "Ihr Islam hat sie verraten, und jetzt kommen Sie, um ihren Leichnam zu segnen?", sagt er zu ihm. Das erinnerte mich an die Auseinandersetzung zwischen dem Arzt und dem Priester in der ersten Szene von "Professor Bernhardi".

Hatte die Situation im Iran Einfluss auf die Wahl des Stückes?

Ich glaube, Künstler*innen sind sich nicht immer so direkt bewusst, worüber sie arbeiten, sonst würden sie ja Essays schreiben statt Kunst zu machen. Aber es gibt natürlich immer einen Grund, warum man ein Thema wählt und ein anderes nicht. Vielleicht sind die Themen, mit denen sich Arthur Schnitzler vor hundert Jahren auseinandergesetzt hat, einfach immer noch aktuell: Themen wie Religion, Menschenrechte, Wahrheit, Freiheit und Hoffnung; das Lügen aus Zweckmäßigkeit oder das die-Wahrheit-sagen und alles verlieren; Macht übernehmen und Macht verlieren; mit einem korrupten System zusammenarbeiten oder auf seinen Überzeugungen bestehen und sich zurückzuziehen; der Einfluss der Medien, sich selbst in Frage zu stellen für jeden Schritt, den man tut. Und für jeden Schritt, den man nicht tut ...

Einiges, was aktuell auf der Agenda der Demonstrierenden im Iran steht, haben Sie mit Amir Reza Koohestani in Ihrer Georg-Büchner-Überschreibung Woyzeck Interrupted bereits im vergangenen Jahr thematisiert – die Inszenierung kam im November 2021 im Deutschen Theater Berlin heraus: Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper, der Machtanspruch des Mannes über den Körper der Frau, Gewalt gegen Frauen, Femizide. Wäre eine Arbeit wie diese auch im Iran möglich?

"Woyzeck" ist ein Stück, das im Iran oft übersetzt und aufgeführt wurde. Das zeigt, wie sehr die Themen, die darin angesprochen werden, unsere Themen sind. Daher ist es kein Problem, die Themen, die in "Woyzeck" angesprochen werden, auch im Iran auf die Bühne zu bringen. Der Kampf um die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper ist auch kein Kampf, der erst jetzt begonnen hat. Er wird schon seit langem in dieser Gesellschaft geführt, wo die Zahl der weiblichen Studierenden die der männlichen übersteigt.

Wir sollten in diesem Zusammenhang auch den Einfluss der "Me Too"-Bewegung erwähnen, die in den letzten Jahren im Iran sehr aktiv war. Wenn wir uns Leistungen von Iraner*innen in der Welt ansehen, finden wir mehr prominente iranische Frauen als Männer – Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen. Das ist kein Zufall. Diese Frauen haben im Iran gelebt und sind dort ausgebildet worden. Als sie den Iran verließen, konnten sie sich flexibler an eine freie Welt anpassen als die Männer. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass in einem patriarchalischen System die Männer ebenso wie die Frauen unter dem leiden, was ihnen aufgezwungen wird. Daher wissen die Männer sehr wohl, dass die Befreiung der Frauen von diesem System auch ihre eigene Befreiung bedeutet. Bereits die iranische Revolution von 1979 wurde mit großen Zielen begonnen, darunter Bürgerrechte, die Beseitigung der Armut und die Befreiung der Frauen von den Fesseln der Ausbeutung durch die Männer. Das Problem ist, dass keines dieser Ziele verwirklicht wurde und der Geist der Revolution in die Irre ging.

Sie schreiben auf Farsi – die Texte – auch das Büchner-Stück - werden dann ins Deutsche übersetzt. Wie erleben Sie den Transfer von Stoffen und Themen durch das jeweilige Brennglas von Kultur und Sprache?

Ich glaube, dass die Iraner ein Volk sind, das mehr in seinen Vorstellungen lebt als in der Realität, weil es in einer Sprache denkt und spricht, die fast immer zweideutig und sarkastisch ist, in einer Sprache, die stets den Weg für viele Interpretationen offen hält. Deshalb ist Farsi eher eine Sprache der Poesie als der Philosophie, der Politik oder der Wissenschaft. Es ist ein Wunder, dass in einem so alten Land wie dem Iran, das immer wieder von verschiedenen Völkern wie den Arabern, Mongolen und Türken überfallen und besetzt wurde, noch auf Farsi geschrieben und gesprochen wird. Aufgrund der Vielschichtigkeit und Ironie dieser Sprache ist es den Künstlern stets gelungen, die Unabhängigkeit ihrer politischen Ansichten zu wahren.

Auch kennt unsere Sprache kein Geschlecht und wenn wir über jemanden sprechen, wissen wir nicht, ob diese Person männlich oder weiblich ist, bis wir ihren Namen nennen. Gott hat im Persischen ebenfalls kein Geschlecht. Dann steht das Verb stets am Ende des Satzes, so dass wir das Hauptereignis im Persischen erst am Ende des Satzes erfahren. Außerdem sprechen wir mit einer Grammatik und lesen mit einer anderen.

MahinSadri MahinSadriMahin Sadri @ privat

Im Gegensatz zur deutschen Sprache, die aufgeklärter ist und daher sehr gut zur Formulierung philosophischer Diskurse verwendet werden kann, ist die persische Sprache vor allem eine Sprache der Verschleierung. Auch die Zensur hat dazu beigetragen, dass Farsi so mehrdeutig ist. Es ist, als hätten die persisch Sprechenden gelernt, wie man Fische fängt, indem man das Wasser trübt – wie man verschiedene Interpretationen zulässt, um Zensur und Verhaftung zu entgehen. Bei der Übersetzung vom Persischen ins Deutsche ist das Hauptproblem eigentlich der Fuß, den man auf den Boden setzen muss, und der dann den Weg zu poetischen Interpretationen versperrt, um es im übertragenen Sinn auszurücken. Ein großer Teil dessen, was einen Text auf Farsi poetisch macht, sind nämlich nicht poetische Beschreibungen und Bilder selbst, sondern die Ironie der Sprachstruktur. Das ist eigentlich unübersetzbar.

Aus westlicher Sicht scheint der Unterschied in der Wahrnehmung der Geschlechterrollen zwischen der deutschen und der iranischen Gesellschaft besonders gravierend zu sein. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Ich denke, das Patriarchat ist ein globales Problem. Ich erinnere mich, dass einer der größten Theaterregisseure in Deutschland vor einiger Zeit Stücken, die von Regisseurinnen inszeniert werden, den Wert absprach und dabei mit dem schlechteren Ansehen von Frauenfußball im Gegensatz zu Männerfußball verglich. Auch wissen wir, dass Frauen überall auf der Welt noch immer nicht die gleichen Rechte haben wie Männer, und dass die Meinung von Frauen selbst in von ihnen geleiteten Organisationen nicht ernst genommen wird. Nur wenige Führungspositionen in der Welt werden an Frauen vergeben, und viele politische und kulturelle Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen und in zahlreichen Lobbys ohne die Anwesenheit von Frauen getroffen. Sogar die Dosierung von Medikamenten wird auf der Grundlage des Körpers eines Mannes und nicht einer Frau festgelegt, und das ist eine Katastrophe.

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass Frauen psychisch unter großem Druck stehen und zerrissen werden zwischen ihren eigenen Wünschen und dem, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Auch das ist mehr oder weniger überall gleich. Wo auch immer man sich befindet, man braucht nur das Fernsehen einzuschalten und ist entsetzt über das Ausmaß der Forderungen der Männer an Körper und Seelen der Frauen. Die Welt, in der wir heute leben, ist das Ergebnis männlicher Herrschaft. Sie ist völlig korrupt und funktioniert nicht mehr. Es ist an der Zeit, dass die Frauen die Welt regieren. Im heutigen Iran sind die Menschen – insbesondere die Frauen – viel intelligenter und fortschrittlicher als die Regierung, weshalb dieses System untauglich für die Gestaltung der Gegenwart geworden ist. Es ist ja nicht einmal in der Lage, mit den Menschen zu kommunizieren, außer durch Gewalt.

Welche möglichen Lösungen sehen Sie für die sozialen Unruhen im Iran?

In den letzten 43 Jahren hat die Regierung viele Gelegenheiten zum Dialog und zu Reformen versäumt. Angesichts der Menschen, die jetzt auf den Straßen rufen und an die Wände schreiben: "Wir werden weder vergeben noch vergessen", bleibt der Regierung nur ein Weg: bis zum letzten Atemzug zu kämpfen und nicht aufzugeben. Doch das iranische Volk hat in der Geschichte gezeigt, dass es in schwierigen Situationen immer stärker wird. Es sind Menschen, die es nicht mehr dulden, gedemütigt zu werden, und die keine Angst davor haben, getötet oder inhaftiert zu werden

Als ich Sie um ein Porträt für dieses Interview bat, schlugen Sie ein Bild vor, das Sie in der Rolle der Lady Macbeth in Amir Koohestanis Shakespeare-Dekonstruktion "Macbeth" 2018 an den Münchner Kammerspielen zeigt. Warum dieses Foto?

Amir Abbas Hoveyda, der mehr als 13 Jahre lang Premierminister des Schahs war, gehört zu den unglücklichsten Politikern der Welt. Der Schah sperrte ihn nach Ausbruch der Revolution ein, um die Revolutionäre zu beruhigen. Aber das hat nichts genützt. Ein Jahr später siegte die iranische Revolution. Hoveyda blieb im Gefängnis und wurde sofort ohne Gerichtsverfahren hingerichtet weil er dem Schah gedient hatte. Ich habe gehört, dass Hoveyda sich eines Tages bei einem Revolutionswächter im Gefängnis beklagte: "Eure Zellen sind zu eng für uns." "Aber wir haben diese Zellen nicht gebaut", sagte der Wächter, "ihr habt sie selbst gebaut." Hoveyda darauf: "Ich weiß das. Ich meine, ihr solltet darauf achten, dass ihr für euch einmal größere Zellen baut." Macbeth erinnert mich mehr als jedes andere Werk an die iranische Revolution von 1979 und die heutige Revolution von 2022.

  

Mahin Sadri, 1979 in Rasht / Iran geboren, ist Dramatikerin, Regisseurin, Drehbuchautorin und Journalistin. Sie begann ihre Karriere als Dichterin in einem sehr jungen Alter und erhielt bereits mit 21 Jahren den Preis für das beste Drehbuch beim Jugendfilmwettbewerb in ihrer Heimatstadt Rasht. In Teheran studierte sie Deutsch und begann als Journalistin zu arbeiten. In dieser Zeit lernte sie den Regisseur Amir Reza Koohestani kennen und wurde Mitglied der Mehr Theatre Group, mit der sie 17 Jahre lang als Regieassistentin, dann als Darstellerin, Autorin und Regisseurin zusammenarbeitete. Seit 2013 schreibt sie auch für andere Regisseure und führt bei eigenen Stücken Regie.

Das Interview wurde per Email in englischer Sprache geführt. Übersetzung: Esther Slevogt

Mehr zum Thema: Interview mit der Schauspielerin Maryam Palizban.

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