Dieser Scheißkrieg

11. Dezember 2022. Was der Krieg mit den Menschen macht, zeigt kaum ein anderes Stück derzeit so dezidiert wie Natalia Vorozbhyts "Zerstörte Straße". Die ukrainische Autorin hatte dafür bereits 2014 im Donbass recherchiert und ihren Text auch selbst verfilmt. Niklas Ritter hat das Stück nun in Göttingen inszeniert und lässt der Grausamkeit viel Raum.

Von Jan Fischer

Alltagsleben und der Krieg: Natalia Vorozbhyts "Zerstörte Straße" von Niklas Ritter am DT Göttingen inszeniert © Thomas Aurin

11. Dezember 2022. Sie würde lieber über den Alltag schreiben, lässt Natalia Vorozbhyt, die Autorin von "Zerstörte Straßen", ihre Autorinnenfigur Natascha am Ende sagen. Und manchmal ist da auch Alltag: Ein versehentlich überfahrenes Huhn, Teenager in weißen Daunenjacken, die sich in die falschen verlieben, Affären in unglücklichen Konstellationen, eine Wohnung wird renoviert. Blöd nur, dass Alltag das ist, was für Menschen immer schwieriger wird, wenn Geschichte passiert.

In "Zerstörte Straßen" – am Deutschen Theater in Göttingen von Niklas Ritter inszeniert – geht es zwar um die Irrungen und Wirrungen des Alltagslebens. Doch während das passiert, gehen die Luftsirenen los, während Vorhänge für die neue Wohnung ausgesucht werden, geht die Angst vor dem Atomschlag um. "In meinem ganzen Leben habe ich nichts Sinnloseres gemacht als diese Renovierung", sagt Natascha. "Sinnlos wie die Kunst. Aber sie lenkt auch ab."

"Zerstörte Straßen" ist 2017 entstanden und beschäftigt sich mit den Nachwehen einerseits des Euromaidan, andererseits der Besetzung der Krim und der Gefechte im Donbass ab 2014. In Göttingen ist noch ein Epilog der ukrainischen Autorin zu dem Stück eingefügt, den diese 2022 verfasst hat. "Ich bin Expertin für den Schmerz meines Landes", heißt es da. "Ich betreibe Export mit dem Schmerz meines Landes."

Verändertes Leben, veränderte Menschen

Und das, wo sie doch lieber über den Alltag schreiben möchte. Aber genau dieser Alltag löst sich in "Zerstörte Straßen" immer wieder auf. Auf einer sich immerfort zu drückender, repetitiver Live-Musik drehenden Bühne, auf der geschwärzte Stangen thronen, die an verbogene Häuserstahlskelette erinnern, wird alles immer schlimmer. Eine Frau verliebt sich in einen Soldaten und folgt ihm ins Kriegsgebiet. Es folgt Oralsex, für den er sie mit einem Anhänger belohnt, den er im Krieg getragen hat. Eine Frau und ein Soldat bringen einen kopflosen Kommandanten zur Beerdigung, das Auto geht kaputt und es stellt sich heraus, dass sie seine Affäre war und der Leichnam zu seiner Frau transportiert werden soll. Ein Lehrer erkennt seine Schülerin als Prostituierte auf einer Militärbasis. Eine Frau überfährt ein Huhn und wird dafür erst ausgeraubt und dann geschlagen.

Zerstorte Strassen 3 ThomasAurin uViel Raum für die Grausamkeit des Kriegs: Jenny Weichert, Nathalie Thiede und Marco Matthes in "Zerstörte Straßen" © Thomas Aurin

In der drastischsten Geschichte geht es um einen russischen Soldaten, der eine Frau erst demütigt, um sich in die Stimmung zu bringen, sie zu vergewaltigen, dann vor ihr masturbiert und sie anpinkelt, während die Frau bis zu einer bizarr romantischen Auflösung der Geschichte mitspielt, ihm dann eine Flasche über den Kopf zieht und den Soldaten ihrerseits anpinkelt. Ein Penis ist da zu sehen; zwischen den Beinen der Frau sprüht, als sie über seinem Gesicht steht, Flüssigkeit hervor.

Reste der Menschlichkeit

Blut, Leichen, Körperflüssigkeiten, Missbrauch, drastische Sprache wie "Ich ficke dich in den Arsch, bis du dich einscheißt", alles das ist dabei. Aber auch: Desillusionierung, einerseits, was den Glauben an das Gute im Menschen angeht, vor allem aber gegenüber der Kunst. "Seit acht Jahren schreibe ich nur über diesen Scheißkrieg", heißt es im Epilog. Kunst hätte nicht geholfen, ihn zu verhindern. Eine Ablenkung eben. Mehr nicht.

"Zerstörte Straßen" soll schockieren, in Göttingen tut es das vor allem auf Textebene. Die meisten der episodisch verketteten Geschichten zeigen keine drastischen Bilder – das schlimmste sind ein wenig Kunstblut, die Masturbation und der Bühnenurin, also: Wasser. Sondern sie erzählen drastische Geschichten in schonungsloser Sprache. Der Text spart dabei nicht an Details, vor allem aber spart er nicht an Charakterisierungen, die eine große Fallhöhe aufbauen: Alle Figuren sind detailliert und menschlich gezeichnet. Die Soldaten, die eine Schülerin als Prosituierte halten, wollen auch nichts als dass ihre Kinder "vom Wecker aufwachen, nicht vom Bombenalarm."

Zerstrte Strassen4 805 Thomas Aurin uErzählen darüber, was der Krieg mit dem Menschen macht: Daniel Mühe und Nathalie Thiede © Thomas Aurin

Der Soldat sagt, nachdem er die Frau gedemütigt und missbraucht hat: "Ich habe die Mädchen auf der Bank geküsst wie ein ganz normaler Junge. Und tagsüber bin ich in die Linguistik-Vorlesung." In dem geschwärzten Stahlskelett bricht in Göttingen der Krieg in die kleinen Alltäglichkeiten ein und verformt sie brutal. Es gibt keinen Alltag mehr, über den man schreiben könnte, es gibt nur noch den Krieg, der unter der dünnen Schicht dieses Alltags hervorbricht und die Menschen zu Monstern macht. Gleichzeitig wird der Ukraine-Konflikt hier als soziales und geopolitisches Kontinuum gezeigt: Nicht erst seit April macht er die Menschen kaputt. Sondern seit 2014, oder vielleicht sogar noch viel länger. Es spielt keine Rolle, ob der Text 2017 oder 2022 entstanden ist, das zeigt auch der Epilog: Geändert hat sich nichts, außer der Anzahl der Betroffenen.

In Göttingen lässt Regisseur Niklas Ritter sich zum Glück nicht verleiten, der sprachlichen Drastik auch drastische Bilder hinzuzufügen. Größtenteils ist es der Text, der nicht vom Krieg, sondern von der Unmöglichkeit des Alltags und der Menschlichkeit im Krieg erzählt. Vieles wird nur erzählt, manches gespielt, aber die reduzierte Bühne und die zurückgenommenen Kostüme bieten den Geschichten – vielleicht muss man sogar sagen: der Zeugenschaft – von Natalia Vorozbhyt viel Raum, um mit Wucht in den Theatersaal zu knallen. Gegen den Krieg hilft das nicht. Aber vielleicht der Menschlichkeit.

Zerstörte Straßen
Von Natalia Vorozbhyt, Deutsch von Lydia Nagel
Regie: Niklas Ritter, Bühne: Karoline Bierner, Norman Plathe-Narr, Kostüme: Karoline Bierner, Musik: Michael Frei, Dramaturgie: Matthias Heid.
Mit: Marco Matthes, Daniel Mühe, Nathalie Thiede, Paul Trempnau, Jenny Weichert, Tara Helena Weiß.
Premiere am 10. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.dt-goettingen.de


Mehr: Im März 2022 hatten wir auf nachtkritik.plus den Mitschnitt der Inszenierung von Tamara Trunova gezeigt, die am Left Bank Theatre Kyiv entstand. Mehr über die Theaterszene der Ukraine: die Ukraine war Gastland beim Heidelberger Stückemarkt 2017. Die Autorin und Reporterin Anstasia Magazowa hat in einem lesenswerten und immer noch aktuellen Essay die Theaterszene beschrieben, auch wie die Auseinandersetzung mit dem Krieg im Ostteil des Landes ab 2014 das bestimmende Thema war. Magazowa schreibt derzeit als Kriegsreporterin für die taz über die Situation in der Ukraine.

 

Kritikenrundschau

"Zerstörte Straßen" ist "ein Roadmovie durch die menschlichen Abgründe, die ein Krieg aus der Tiefe der menschlichen Seele ans Tageslicht fördert", schreibt Britta Bielefeld im Göttinger Tageblatt (12.12.2022). "Die großartigen Schauspieler zeigen die Facetten des Leids zwischen Sex, Angst, Abscheu und Begierde." In Göttingen erlebe man "ein stark gespieltes, intensives und verstörendes Stück – mit einem großartigen Bühnenbild."

Eine "große Leistung" hat auch Ute Lawrenz von der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (12.12.2022) in Göttingen erlebt. "Schonungslos spielt und erzählt das Ensemble (...) in verschiedenen Rollen – manchmal etwas verwirrend – erschreckende Szenen". Man erlebe einen "Abend, der Grenzen überschreitet, der nicht fragt, was auf der Bühne erlaubt ist".

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