Empowerment im Patriarchat

12. Dezember 2022. Die Theatermacher:innen Anna Fries und Marielle Schavan sprechen über das 10-jährige Bestehen ihres feministischen Performance-Kollektivs Henrike Iglesias, Gleichberechtigung am Theater, Mental Health und die Grenzen kollektiven Arbeitens.

Interview von Ulla Heinrich

"Fressen" von Henrike Iglesias an dem Münchner Kammerspielen 2019 © Nicole Marianna Wytyczak

12. Dezember 2022. Das aus den praxisorientierten Theaterwissenschaften Hildesheim hervorgegangene Kollektiv Henrike Iglesias hat sich mit feministischen Powerabenden einen Namen gemacht. Die Gruppe ist in Basel und Berlin angesiedelt; sie wurde 2012 von Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth gegründet. Eva G. Alonso und Malu Peeters stießen später zur Gruppe dazu. Henrike Iglesias arbeiteten an freien Häusern wie der Zürcher Gessnerallee oder den Berliner Sophiensaelen ebenso wie während der Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen. Zum zehnjährigen Bestehen der Gruppe traf Ulla Heinrich vom "Missy Magazine" zwei der Gründer:innen: Anna Fries und Marielle Schavan.

Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum! Stichtag heute, wie stehts um die Gleichberechtigung im Theater?
 
(beide lachen)
Anna Fries: Wir leben mit Henrike Iglesias in einer Bubble. Wir haben uns so weit aus dem klassischen Theaterbetrieb zurückgezogen, dass es hier bei uns ganz gut aussieht, ansonsten ist es immer noch ziemlich kacke.
 
Marielle Schavan: Ich würde eigentlich sagen: "Getting there". Gleichzeitig muss man sich dann auch immer fragen, wer alles damit gemeint ist. Einige sind gleichberechtigter, vielen fehlt immer noch komplett der Zugang.
 
Henrike Iglesias hat sich vor 10 Jahren als feministisches Theaterkollektiv gegründet. Seitdem ist viel in der Theaterwelt passiert. Patriarchale Machtstrukturen und toxische Arbeitsverhältnisse wurden angeprangert, fehlende Chancen für FLINTA und BIPoCs kritisiert, neue Netzwerke gegründet. Wenn ihr auf die letzten 10 Jahre zurückschaut, was sind für euch die weitreichendsten Errungenschaften?
 
A: Die Anti-Rassismus/Diskriminierungs-Klausel ist eine wichtige Entwicklung. Diese ist jedoch noch nicht verpflichtend eingeführt, leider. 
 
M: Es gibt mittlerweile mehr Leitungsteams in Theatern als vor 10 Jahren. Vor allem in der freien Szene, aber jetzt auch im Stadttheater. Wenn Leitungspositionen nicht mehr an Einzelpersonen gebunden sind, ist das eine wichtige machtkritische Praxis.
 
M: Als wir angefangen haben, war feministisches Theater ein Thema von vielen, aber eher eine Nische. Mittlerweile sind feministische Themen an einigen Häusern Standard. Früher wurde bei unseren Arbeiten immer dazu geschrieben: "Ein Stück mit feministischen Themen". Das braucht es jetzt nicht mehr, da viele Programme davon durchzogen sind.

A: Wichtig zu fragen ist immer: Was ist Repräsentation und was ist strukturelle Veränderung? Was passiert auf der Bühne und was passiert hinter den Kulissen, in der Struktur? Oft werden gesellschaftliche Verhältnisse in Spielplänen kritisiert, ohne dass eine strukturelle Veränderung folgt. 
  
10 Jahre Henrike Iglesias heißt auch 10 Jahre arbeiten in kollektiver Theaterpraxis. Warum ist die kollektive Arbeit eine politische Entscheidung im Kontext Theater und was sind die Grenzen dieser Arbeitsform? 
 
M: Für mich steht das kollektive Arbeiten im Kontrast zum Regietheater und dem damit einhergehenden Geniekult. Es sind immer viele verschiedene Menschen an der Entstehung eines Theaterabends beteiligt, die kollektive Idee macht das transparent. Die vier Gründungsmitglieder von Henrike Iglesias haben in Hildesheim studiert, dort wäre es uncool gewesen, nicht in einem Kollektiv zu sein (lacht). Welche Auseinandersetzungen und Herausforderungen diese Art zu Arbeiten mit sich bringt, ist bei uns eigentlich erst später angekommen. Kollektive Arbeit kann sehr messy sein und funktioniert auch nicht automatisch ohne Hierarchien, so wie wir uns das früher vorgestellt haben.
 
A: Mit unserem kollektiven Modus sind wir auch immer wieder auf strukturelle Probleme gestoßen, beispielsweise wenn uns mit sechs Personen eines Kollektivs ein einziges Regiegehalt angeboten wurde. Das zeigt auch den Sexismus, der uns widerfahren ist und dass wir als FLINTA, aber auch mit dieser Arbeitsform, oft von oben herab behandelt wurden. Auch heute wird uns manchmal bei technischen Einrichtungen noch erklärt, wie unsere Stromkabel funktionieren. In solchen Situationen gibt dir das Kollektiv Sicherheit und Rückhalt. Aber wir stoßen auf Probleme in der Rezeption. Es ist immer noch schwierig zu vermitteln, dass viele Menschen für ein Stück gleichberechtigt verantwortlich sind. 
 
Ihr habt euch in euren Stücken mit vielen Themen beschäftigt: Sexarbeit und Germanys Next Topmodel, Kapitalismus und Erfolgsdruck, Wut, Bodyshaming, weibliche Sexualität und zuletzt mit Trauen und Tod. Wie generiert ihr eure Themen, wann wird ein Thema für euch relevant? 
 
A: Ich finde du hast das mal schön gesagt, Marielle: Unsere Stücke beginnen mit einem "Unfinished Business". Es geht also um das Feststellen von: Hier gibt es einen Konflikt, eine Leerstelle, ein Thema, das uns zu schaffen macht. Wir arbeiten immer aus unserer Perspektive und glauben nicht an die Idee eines veralteten Repräsentationstheaters. Wir haben auch immer da angesetzt, wo es bei uns selbst wehtut.

Eswarkeinmal1 805 Mali Lazell"Es war keinmal oder: Das Märchen von der Normalität" von Henrike Iglesias mit dem Theater Hora 2021 an der Gessnerallee Zürich © Mali Lazell

M: Für mich ist es ein guter Navigator, wenn ich selbst viele Widerstände mit einem Themenfeld spüre. Das ist ein guter Indikator, der mir zeigt, dass es lohnt thematisch da hin zu gehen. Unsere Stücke zeigen immer auch unsere Entwicklung in der Auseinandersetzung mit einem Thema. Wir sind dann aber keine expliziten Expert*innen in dem Feld. Theatermacher*innen werden oft als Expert*innen zu bestimmten Themen verstanden, aber am Ende geht es um künstlerische Forschung.
 
A: Die Frage ist aber dabei auch, wie tief man überhaupt in die Recherche gehen kann. Und das ist in der Freien Szene durch die Fördersysteme stark gestreamlined. Wir haben 6–8 Wochen Zeit zum Proben and that's it. Ich wünsche mir Förderprogramme und Strukturen, die ich zum Teil von Tanzcompanies kenne, mit längeren Recherche- und Probenzeiten. 
 
Ich höre hier den Wunsch nach insgesamt nachhaltigeren und gesünderen Arbeitsstrukturen im Theater…
 
A: Mit dieser Art zu produzieren geht auch eine starke Erschöpfung einher. Wir sind jetzt auch älter geworden und weniger bereit, uns komplett von Theaterarbeit absorbieren zu lassen – das sage ich auch als Person, die mittlerweile ein Elternteil ist. Diese Verausgabung bis zur Erschöpfung wird immer noch als Voraussetzung für das Künstler*innensein gesehen. Über Grenzen hinaus gehen wird erwartet. Über mentale Gesundheit im Theaterbereich oder nachhaltigere Arbeits- und Förderstrukturen wird sehr wenig gesprochen. Es gibt so viele Gruppen, die mit Mitte 20 auf den Markt kommen, viel Beachtung finden, viel produzieren und dann mit Anfang 30 völlig ausgebrannt sind. 
 
M: Manchmal fällt es mir aus unserer Perspektive schwer darüber sprechen, weil wir ja noch zu denen gehören, die stabil gefördert werden. Es gibt verschiedene Positionen innerhalb dieses prekären Systems der freien Szene. Für uns ist es hart und trotzdem gehören wir noch zu den wenigen, die überhaupt regelmäßig produzieren können.
 
A: Genau und man muss auch immer dazu sagen, dass wir alle sehr gute Voraussetzungen hatten, in diesem Theatergame mitzuspielen, aufgrund unserer Klassenhintergründe, unserer Whiteness, unseren akademischen Backgrounds. Für eine utopische Kulturpraxis wäre es hier wichtig, erstmal ganz andere Zugänge zu schaffen.
 
Eure Theaterabende waren von Beginn an autobiografisch, ihr inszeniert eure persönlichen Geschichten, sprecht euch mit euren echten Namen auf der Bühne an und spielt keine Rollen. Welche Stärken hat diese Form des Theaters für euch?

A: Die ästhetische Stärke ist für mich die Verletzlichkeit. Es geht dabei nie um biografische Eckdaten, sondern darum, dass wir transparent machen, dass das unsere persönlichen Zugänge zu einem Thema sind. Das ist interessant für die Zuschauenden, die verstehen, dass hier Menschen auf der Bühne aus politischen Gründen sehr persönliche Geschichten teilen. Denn Dinge zu teilen, die gesellschaftlich schambehaftet sind, das ist eine wichtige feministische Lektion und kann Empowerment sein – für uns, aber auch für die, die zuschauen.
  
Eure feministische Haltung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Was musstet ihr auf dem Weg transformieren und warum?
 
A: Wir haben eigentlich einen klassischen Weg von Weißen Feminismus mit sehr privilegierten Perspektiven zu einem intersektionalen Feminismus begangen. Es ist interessant, dass man das an unseren Theaterarbeiten historisch nachvollziehen kann. Ich bin dankbar für alles, was wir in der Zwischenzeit gelernt haben. Beispielsweise, wie eingeschränkt unsere Perspektive gewesen ist. Wir dachten zu Beginn, dass wir für mehr Menschen sprechen, als es eigentlich der Fall war.
 
M: Das Ziel ist, intersektional zu arbeiten, inwieweit wir das jetzt schon leben als Kollektiv, ist die Frage. Wir haben vor einigen Jahren angefangen, uns als Gruppe gemeinsam fortzubilden, zu Themen wie Antirassismus oder Transmisogynie. Aber da liegt noch ein weiter Weg vor uns, aber wir bilden uns gemeinsam zu den Themen weiter. 
 
Wie navigiert ihr eure Arbeit zwischen Kunst und Aktivismus?

 
M: Es käme mir absurd vor, Theater zu machen, das nicht politisch ist. Der ganze Rahmen ist für mich politisch aufgeladen.
 
A: Unser Publikum ist immer noch sehr homogen. Und Theater hat nach wie vor keine besondere Reichweite außerhalb von bildungsbürgerlichen Zusammenhängen. Das schränkt unseren Aktivismus also immer ein, so lange er im Theaterraum bleibt. Aber ich möchte noch etwas ergänzen, damit das Ganze nicht so hoffnungslos klingt. Wir bekommen oft den Vorwurf: "You're preaching to the choir". Dieser Choir braucht aber auch Empowerment im Patriarchat. Der Austausch mit dem Publikum hat uns gezeigt, dass unsere Stücke empowern können. dass unsere Stücke Menschen dazu ermutigen können, sich selbstbewusster für ihre feministischen Werte einzusetzen. Und beim Feminismus geht es um eine bessere Welt für alle. Das ist unser Beitrag dazu.

 

Ulla Heinrich, Jahrgang 1987, hat die Geschäftsführung beim "Missy Magazine" inne, dem Magazin für Pop, Politik und Feminismus. Das Interview führte Ulla Heinrich im Auftrag von nachtkritik.de.

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