Ändere das Theater, denn es braucht es!

von Dirk Pilz

Bergen/Norwegen, 1. Juni 2007. Der Autor selbst war sich nicht sicher. Noch kurz vor seinem Tod hat Bert Brecht für "Die Maßnahme" ein Aufführungsverbot erlassen. Er fürchtete, das Stück könne als stalinistisches Terror-Drama missverstanden werden. Nicht zu unrecht, wie sich erwiesen hat. Gleichzeitig hat er aber in einem seiner letzten Gespräche "Die Maßnahme" als jenes Stück bezeichnet, das die Form des Theaters der Zukunft enthalte. Möglicherweise hat er auch damit Recht behalten.

Was ist "Die Maßnahme"? Kommunistisches Propagandamachwerk oder ein zukunftsweisendes, radikales Musik-Lehrstück? Die Diskussionen darum sind fast schon das Stück selbst geworden. Gerade auch, weil es nicht aufgeführt werden durfte: Die Brecht-Erben hielten sich ebenso an das Verbot wie diejenigen Hanns Eislers. Bis 1997, als am Berliner Ensemble Klaus Emmerich eine statuarisch strenge, vorsichtige Wiederaufführung inszenierte. Eislers Musik wurde, wie schon bei der Uraufführung 1930 in Berlin, allseits bestaunt, der Text auf inhaltliche Fragen reduziert. Brecht wird mit der "Maßnahme" des Agitprop bezichtigt, Eisler für seine Formstrenge belobigt. Das hat sich über die Jahrzehnte kaum geändert.

Durchgespielt

Und nun kam es im norwegischen Bergen während des Festivals "Nordiske Impulser" zu einer skandinavischen Erstaufführung der "Maßnahme", die vor allem erfahrbar werden ließ, dass sich weder Brechts Text auf die pure Inhaltsebene noch Eislers Musik auf rein formale Qualitäten reduzieren lässt. Musik und Text sind in dieser Inszenierung eine dialektische Liaison eingegangen.

Man müsse lernen, eine Parabel als Parabel zu sehen und nicht als einen "naturellen Vorgang", hat Eisler einmal in Bezug auf die "Maßnahme" gesagt. Man müsse also versuchen, das Lehrstück nicht als Geschichte über Parteiräson oder Klassenkampf zu nehmen, sondern als philosophisches Parabel-Spiel über die Frage, wie Theorie in Praxis transformiert werden kann. Und über die Frage, warum (zum Beispiel die kommunistischen) Ideale nicht der Wirklichkeit standhalten können und auch nicht sollten.

Der Bergener "Maßnahme" gelingt dies durch einfache Mittel: Alles an diesem von Tore Vagn Lid inszenierten Abend ist darauf angelegt, den Zeige-Charakter der Vorlage zu unterstreichen. Das Publikum sitzt in einem halbrunden Holzgestell auf harten Stufen vor einer kleinen, leeren Spielfläche. Auf dem Boden ein Umriss; er symbolisiert den Handlungsraum des Geschehens, die Stadt Mukden, aus der die vier Agitatoren wiederkehren, um den Tod des Jungen Genossen zu rechtfertigen, der "das Richtige wollte, aber das Falsche tat". Das Anhörgremium ist in der Vorlage ein "Kontrollchor", der in Bergen unters Publikum gemischt und in einen Doppelchor aufgeteilt ist, der zuweilen aufsteht, flüstert und alle eingemeindet. Es gibt hier kein Entrinnen: Jeder ist in den dargestellten Fall verwickelt, auch das im Rondell platzierte Orchester.

So bekommt man die Handlung direkt vor die Nase gesetzt, sieht die Agitatoren beim Verbreiten der kommunistischen Idee in China, sieht den Jungen Genossen in Mitleid und Aktionismus verfallen, sieht die Mittäter ratlos werden und am Ende zum Äußersten greifen, zum Mord an ihrem Genossen. Das aber geschieht in einer Szene, die halb auf der Bühne, halb im Video stattfindet: Die vier Darsteller sitzen vor einer Leinwand, die Schneefall, Kriegsbilder, Nacht und eine Parkbank zeigt, auf der sie Platz genommen zu haben scheinen. Der Mord, die Maßnahme, wird so auf die Schwelle zwischen Schauspiel und Realitätsabbild verlagert. Will sagen: Die eng an das Beobachterauge herangerückte Handlung wird entrückt, wird mit Wirklichkeiten aufgeladen, die selbst wieder nicht 'die' Realität sind, sondern Bilder, Aspekte von ihr.

Ein Überprüfungsexperiment

Das ist die dialektische Methode dieser Inszenierung: Sie holt einerseits das Geschehen in die Überkenntlichkeit und rückt es andererseits ins Allgemeine. Entsprechend auch die Spiel- und Gesangsweisen der vier Agitatoren. Sie pendeln zwischen Abstraktion und Einfühlung, sprechen norwegisch, während der Chor deutsch (und norwegisch) singt, zitieren die große Geste und nehmen sie wieder zurück. Der Zuschauer wird in eine musikdramaturgische Spannung aus Identifikation und Reflexion versetzt – das Hirn gerät mit dem Herzen in Bewegung, und umgekehrt

Es gibt an diesem Abend entsprechend keine einheitliche Haltung, weil der verhandelte Fall sie nicht zulässt. Man sieht folglich: ein Experiment. Eine Überprüfung, auch des epischen Theaters. "Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat", hatte Brecht ins Uraufführungsprogrammheft geschrieben. Die Bergener Aufführung hat politischen Lehrwert, vertritt aber keine politische Ideologie.

Es brauchte offenbar einen jungen, vom Kalten Krieg unbelasteten Regisseur aus Norwegen, um "Die Maßnahme" als jenes radikal offene, widersprüchliche Vorführstück zu entdecken, das die letzte und erste aller Theater- und Revolutionsfragen aufwirft: Kann (und soll?) die Bühne wirklichkeit-verändernde Kraft entwickeln? Die Frage ist aktuell, sie war es stets. Und sie ist von unauflöslichen Widersprüchen durchsetzt. Denn wo das Theater ändernd auf die Wirklichkeit Bezug nehmen will (und wo will es das nicht?), wird es auf die Widersprüche stoßen, die in der "Maßnahme" durchbuchstabiert sind. Es sind die Widersprüche zwischen gut gemeinter Wirkabsicht und schlechten Folgen, zwischen Realitätsbezug und Wirklichkeitsentzug.

Ändern! Ändern?

In Bergen ist daraus ein Theater der Offenheit entstanden, das jedoch nicht beliebig wird. Ein Theater, das mit Formen, Spiel- und Zuschauweisen experimentiert, ohne sich in Ironie oder Zynismus zu verflüchtigen. Ein politisches Theater, das nicht von politischen Inhalten abgeleitet ist.

Und dann die Musik. Dass Partitur und Text einander bedingen – bei der "Norwegian Army Band" und dem Chor aus dem Vokalensemble Skrik und der Grieg-Akademie Bergen ist es zu hören. Die vielfachen Verweise auf Bachs "Matthäuspassion", die Trauereinschübe und Protestzwischentöne an den zentralen Stellen – nichts wird hier verwischt, alles unter der Leitung des deutschen Dirigenten Eberhard Kloke in strengster Klarheit zu Klang gebracht. Die Musik tut es an diesem Abend dem Schauspiel gleich: Sie ist präzis, herausfordernd, aber nicht vereindeutlicht.Was also ist "Die Maßnahme"? Ein Schau- und Hörstück über eine widersprüchlich eingerichtete Welt und das dazugehörige Theater. "Ändere die Welt, sie braucht es", heißt es im Text. Man könnte auch sagen: Ändere das Theater, denn es braucht es. In Bergen hat man damit begonnen.

Die Maßnahme / The Measure Taken
von Bertolt Brecht, Musik: Hanns Eisler
Inszenierung: Tore Vagn Lid, Dirigent: Eberhard Kloke, Bühne: Kyrre Bjørkås.
Mit: Mit Tor Christian F. Bleikli, Åsmund Kaldestad (Tenor), Solveig Laland Mohn und Arild Vestre, Vokalensemblet Skrik unter der Leitung von Jon Flydal Blichfeld Forsvarets, Musikkorps Vestlandet

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