Unter Akten verborgen

10. Januar 2023. Wohin kann man sich wenden, wenn man queere Lebensgeschichten vor 1900 sucht? Ein schwieriger Fall. Protagonist*innen wurden hingerichtet und von ihren Spuren künden höchstens trockene Prozessakten. Man müsste in die Leerstellen künstlerisch leuchten. Kann das Theater das Licht dafür aufbringen?

Von Georg Kasch

10. Januar 2023. Gab es einst, sagen wir: vor 1900, queeres Leben? Gewiss! Wir wissen nur nicht genau, wie es aussah. Sind es platonische oder auch körperliche Liebe und Zuneigung, die durch die Briefe im Zeitalter der Empfindsamkeit pulsen? Kuscheln die Männer auf den Fotos, die zwischen 1850 und 1950 entstanden und jetzt im Bildband "Loving" veröffentlicht wurden, freundschaftlich, ironisch oder erotisch miteinander? Hatte Christopher Marlowe einen schwulen oder vor allem einen unfähigen König im Kopf, als er "Edward II." schrieb?

Wir wissen es nicht. Der Grund liegt auf der Hand. Queeres Leben (avant la lettre – selbst die Begrifflichkeiten und Konzepte waren damals völlig andere) galt als Tabu, war in diversen Gesetzbüchern mit drastischen Strafen belegt. Jedes Indiz queerer Existenz konnte einen das Leben kosten. Kein Wunder, dass es auch in der Dramatik kaum Spuren hinterlassen hat. Man kann die Beziehung zwischen Edward und Gaveston als Liebesgeschichte auffassen. Aber Günstlinge und Günstlingswirtschaft waren nicht per se sexuell konnotiert. Shakespeares Komödien – "Was ihr wollt", "Wie es euch gefällt", "Ein Sommernachtstraum" – lassen sich heute wunderbar queer lesen, überschreiben (wie bei Ewald Palmetshofer) und inszenieren (wie in Pinar Karabuluts Theaterserie). Sie funktionierten in den Jahrhunderten zuvor aber auch hervorragend in heteronormativen Koordinatensystemen.

Die Hinrichtung der/des Anastasius Rosenstengel

Was also tun mit der queeren Geschichte, zumal auf der Bühne? Ein Problem ist, dass die Quellen, die es gibt, nie von Leben und Lieben, sondern in überwältigender Mehrheit von Leid und Tod erzählen. Wie im Fall von Catharina Linck aus Halle. Sie war die letzte weiblich gelesene Person, die in Europa wegen "Unzucht mit einem Weybe" hingerichtet wurde. Schon als Fünfzehnjähre zog sie Männerkleider an und nannte sich Anastasius Rosenstengel, arbeitete später als Prediger und Prophet, verdingte sich als Soldat und Handwerker und heiratete 1717 eine Frau. Verraten wurde Link/Rosenstengel von der Schwiegermutter. 1721 wurde sie zum Tode verurteilt und hingerichtet.
War Link/Rosenstengel lesbisch? Bi? Trans? Nonbinär? Angela Steidele schildert in ihrer so spannenden wie fundierten Biografie "In Männerkleidern" (Insel 2021), wie sie mit diesen viel später etablierten Kategorien nicht weiterkommt. Zu dem, wie sich Link/Rosenstengel selbst empfand, geben die preußischen Gerichtsakten wenig her. Um dieses Leben zu skizzieren, ist Steidele auf weitere Forschungen zur damaligen Zeit angewiesen – und immer wieder auf Spekulationen.

Klassiker überschreiben oder selber forschen?

Dass die wesentlichen Quellen queeren Lebens im Europa des Mittelalters und der Neuzeit in erster Linie Gerichtsakten und Todesurteile sind, zeigt besonders drastisch das biografische Lexikon "Mann für Mann" (Suhrkamp 2001), für das der Geschichtsprofessor Bernd-Ulrich Hergemöller über tausend Einträge von Männern im deutschsprachigen Raum sammelte, die man heute vermutlich als schwul, bi, trans oder queer bezeichnen würde. Von den meisten weiß man wegen ihrer Gerichtsakten. Natürlich ist sich Hergemöller der problematischen Quellenlage bewusst. Nicht jeder Mann, der wegen "Sodomie" (wie der Straftatbestand über Jahrhunderte hieß) angeklagt wurde, hatte Sex mit Männern. Mitunter wurde der Vorwurf auch schlicht dazu genutzt, "die Betroffenen aus persönlichen oder politischen Gründen zu vernichten", wie Hergemöller schreibt.

Es gibt also gleich zwei Gründe dafür, warum sich das Theater so selten mit queerer Geschichte beschäftigt: Die Quellenlage ist dünn. Und es lässt sich mit Geschichtsthemen kaum von gelingendem queeren Leben erzählen. Gerade in Zeiten von Regietheater und Stückentwicklungen ist zudem schneller eine Figur des Kanons gequeert als ein neues Stück über queere Geschichte geschrieben. (Und vielleicht interessieren sich Theater und Dramatik gerade einfach nicht besonders für Geschichte jenseits dessen, was die Klassiker ohnehin mitschleppen.)

Es gibt ja Beispiele für große historische queere Dramen, tolle sogar: Martin Shermans "Bent" von 1979 über eine schwule Liebe im KZ (Diagnose allerdings auch hier: tödlich), Tony Kushners "Engel in Amerika" über das Leben in der AIDS-Krise, nun auch noch Matthew Lopez' "Das Vermächtnis" über schwules Leben in den vergangenen 35 Jahren. Aber aus der Zeit vor 1900? Wie könnte queere Geschichte auf der Bühne gehen? Vielleicht, indem man die Gerichtsakten beiseite schiebt und die Macht der Fiktion regieren lässt. Leerstellen waren schon immer dankbares Fantasiefutter.

Seltenes Happy End

In Céline Sciammas Film "Porträt einer jungen Frau in Flammen" von 2019 etwa sehen wir zwei Frauen um 1770 beim sich ineinander verlieben zu. Fragen zum Verhältnis von Kunst und Realität, Feminismus und Machtstrukturen hat Sciamma, von der auch das Drehbuch stammt, so geschickt in die Handlung verwoben, dass die Dialoge und Bilder bezugsreich, aber nie thesenhaft wirken. Es gibt – Achtung, Spoiler – kein Happy End. Aber eben auch nicht die Blutspur, die sich durch die überkommenen Gerichtsakten zieht. Oder im sprachgewaltigen Roman "Tage ohne Ende" (Steidl 2018), in dem Sebastian Barry zwei Soldaten als Paar durch die Wirren des amerikanischen Bürgerkriegs schickt, den sie – Achtung: Spoiler – ebenso überleben wie die allgegenwärtige Homophobie.

Würde beides sicher auch auf der Bühne funktionieren. Aber vielleicht fällt den mitlesenden Dramatiker:innen und Theatermenschen ja auch was völlig Neues ein.

Kolumne: Queer Royal

Georg Kasch

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

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Kommentare  
Kolumne Kasch: Nicht abgrenzbar
Für mich war in den Neunzigern und frühen Zweitausendern im Hinblick auf queere Lebensentwürfe und ihrer sozialen Durchdringung in ihrer zeitgenössischen Gesellschaft immer sehr erhellend das Gespräch mit Sexualmedizinern und sexualmedizinischen Forschern innerhalb der Gesellschaft für Humanontogenentik an der HU Berlin (Institut für Interdiszplinäre Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik - seinerzeit abgewickelt ohne Happyend). An das entsprechende Institut dort sind auch wertvolle Archive von Psychotherapeuten und Sexualmedizinern aus dem Beginn des 20. Jhdts., z.B. das von Hirschfeld, gegangen. Allen, die durch Studium eine Haltung gewinnen und in künstlerische Ergebnisse einfließen lassen wollen, empfehle ich daher, sich dort nachfragend kundig zu machen. - Im Übrigen, lieber Georg Kasch, sind auch genügend sogenannte normative Lebensentwürfe ohne Happyend in Liebes- und Beziehungsdingen verblieben! Vor allem solche, die sich im sozialen Elend der sogenannten Unterschichten undoder in der Politik revolutionärer oder kriegerischer Zeitläufte auf die Seite der Übervorteilten oder auf die Seite der verhandelnden Friedensbewahrer schlugen... Man kann queere Lebensentwürfe ebenso wenig von der Wirtschaftspolitik ihrer Zeit trennen wie die normativen Lebensentwürfe. - Jedenfalls nicht intellektuell und damit kulturell für die Gesamtgesellschaft ungestraft... Der Vorteil und die humanitäre Stärke Shakespeares bis auf den heutigen Tag besteht m.E. unter anderem genau darin, dass er queere Entwürfe von normativen eben NICHT EINDEUTIG ABGRENZBAR gestaltet hat.
Kolumne Kasch: Roaring
Hier wäre vielleicht ein Hinweis auf die Produktion "Roaring" angebracht, die dieser Tage als deutsche Erstaufführung durch die Schweiz tourt.
https://bernetta.net/martinbieri/roaring
Der Text ist eine bearbeitete Übersetzung des Stücks "Roaring Girl" von Thomas Dekker und Thomas Middleton, das von queerem Leben in London um 1600 erzählt. Den Theatermenschen ist also tatsächlich bereits etwas Neualtes eingefallen.
Kolumne Kasch: Beherztheit als Schlüssel
Eine Erzählweise die historischen Fakten folgt muß nicht zwangsläufig historisch Exakt sein. Zumal schon Sprache und Begriffe einer ständigen Entwicklung unterliegen und somt zeitnah angepaßt und neu gedeutet werden können. Handwerk jeglicher Regie...
Ob nun der vorliegende Stoff populär oder ggf. für "anspruchsvollere Kreise" aufgearbeitet wird, obliegt ebenso den, neudeutsch und somit Beispiel für Begriffsanpassung, "Machern".
Nun jedoch zu behaupten, "Es gibt also gleich zwei Gründe dafür, warum sich das Theater so selten mit queerer Geschichte beschäftigt: Die Quellenlage ist dünn." entbehrt jeglicher Glaubwürdigkeit. Würde es gelingen, das "Queerlesen" bei der Stücke Auswahl und Umsetzung zu etablieren und die "Queerolanten" bei der Verwirklichung zu unterstützen, "könnte sich was entwickeln".
Also liebe CIS -Direktor*innen keine Angst, "es geht".

Sollten dennoch Fragen entstehen hilft euch beherzt gerne

eure transfrau

maexine
Kolumne Kasch: Homophobe alte Medien
Die Strasse war immer queer. Die Kolumne klingt sehr versöhnlich. Aber es kann keine Versöhnung mit dem Theater geben. Mit dem Film auch nicht. Klar fanden auch die Hinrichtungen auf der Strasse statt, aber die war nie so homo- und transphob wie die Hinrichtungen oder kommende Dressurleistungen in den alten Medien.
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