Das Glück, der Krampf und die Erstarrung

von Dirk Pilz

Berlin, 20. Dezember 2008. Andererseits hat dieser Abend dann doch viel weniger mit "Onkel Wanja" zu schaffen, als es zunächst scheint. Anfang Januar war es, als Jürgen Gosch am Deutschen Theater Tschechows Onkel Wanja in einen lehmfarbenen, engen Vorführkasten verlegt hat, den die Schauspieler binnen dreieinhalb Stunden Spieldauer nicht verließen. Die Figuren: Verzweiflungsgymnastiker. Die Szenen: Exerzitien der Trostlosigkeit. Und diese Intensität, die Dringlichkeit des Spiels.

Jetzt hat Gosch Tschechows Komödie "Die Möwe" inszeniert, im Auftrag des Deutschen Theaters, das aus Sanierungsgründen in der Volksbühne gastiert. Wieder ist es ein Spiel über Vergeblichkeit, wieder haben die Figuren tiefe, unheilvolle Züge aus dem schier unerschöpflichen Reservoir an Trostlosigkeit genommen. Und wieder findet das Drama auf einer schmalen Spielfläche statt, bleiben fast alle Schauspieler fast immer anwesend. Diesmal allerdings sind sie nicht in den Zeugenstand versetzt, sondern werden zu Zuschauern eines Geschehens, das einer unergründlichen Logik gehorcht.

Das Drama vor dem Drama

Die Bühne von Johannes Schütz ist nämlich kein Kasten, sondern eine hohe, schwarze, samtig wirkende Wand, dicht an die Zuschauerreihen herangerückt. Während bei "Onkel Wanja" die Raumsituation vorgab, dass ein Entrinnen für die Darsteller aus dem Spielgefängnis nicht möglich ist, verharren sie nun gleichsam in frei gewählter Knechtschaft, hocken hinten an der Wand auf der Bank oder stehen am Rand, recken die Hälse, wenn zwei Unglückliche sich raufen, beäugen und belauschen alle Schrecken und Schaudereien wie Voyeure es tun. Als ob ein seltsamer Zwang es ihnen auferlegt hätte. Als ob vor dem Drama bereits etwas Unnennbares sich ereignet hat.

So fängt das Spiel auch an. Von rechts marschiert das Ensemble ein, zwei schleppen einen Stein, ein schwerer, schwarzer Vorhang wird hereintransportiert, Mascha keucht und Semjon schwitzt, als hätte er bereits ein Drama hinter sich. Semjon ist jener Lehrer, den Mascha heiraten wird, obwohl sie ihn ausdrücklich nicht liebt, und der Stein dient als Bühne für jenes die "neuen Formen" proklamierende Theaterstück, das Konstantin verfasst hat und Nina wiederum spielen wird, indem sie nackten Fußes auf dem Stein balanciert, die Arme gen Himmel wirft, die langen Haare schüttelt und ihrer Stimme eine Tränennähe verleiht, so dass die "neuen Formen" schwer nach altem Pathos riechen. Irina, Konstantins Mutter, geht das auf die Nerven, ihr Bruder Pjotr bestaunt es stumpf, ihr Geliebter, der Dichter Trigorin, belächelt es und der Arzt weiß nicht, warum es ihm gefällt.

Dieses Theater auf dem Theater ist, natürlich, für jede "Möwe"-Regie die Probe aufs Exempel – an ihr offenbart sich, was neu, was Form, was Theater heißen soll. Bei Jürgen Gosch ist es ein Bekenntnis zum Unfertigen, Schroffen, Brüchigen.

Ein Wunder an Transparenz

Denn so, wie die junge, dünne Kathleen Morgeneyer ihre Nina spielt, so unerhört seelenzittrig und herzwund, so tränenübervoll und stirnfaltenreich, wie sie in jedem Satz die Interpunktionen übergeht, dass es wirkt, als huschten ihr die Silben wie unfassliche Gespenster über die Lippen, wie sie mit ihren dünnen Fingern am Rock zupft und noch heult, wenn sie längst die Szene verlassen hat – bei alledem ist sie eine Blankspielerin von seltener Schutzlosigkeit. Ulrich Matthes hat im "Onkel Wanja" auch geweint. Seine Tränen aber waren erst auf dem langen Umweg der Distanzierung und Reflexion wieder zum scheinbaren Ausweis einer Natürlichkeit geworden – er hat ein veredeltes Als-ob-Spiel zelebriert, er war der Virtuose der Glaubwürdigkeit.

Kathleen Morgeneyer wirkt dagegen wie ein Wunder an Transparenz. Ihr Spiel ist direkt und unvermittelt, bei ihr meint man, das wirkliche Leben ins Spiel einbrechen zu sehen. Darauf hat es Gosch diesmal offenbar angelegt – er verwischt rücksichtslos die Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit, vermengt das Spiel und den Ernst.

Das erlaubt ihm so unerwartet komische wie erschreckend traurige Szenen. Wenn Trigorin seine Irina zu verlassen müssen glaubt, weil er Nina verfallen ist, zerrt Corinna Harfouch an den Haaren von Alexander Khuon, schreit und tobt bis ihr die Knie schmerzrot gefärbt sind und er überrumpelt am Boden liegt – das ist kein Rollenspiel mehr, das ist nacktes Existenz-Vorführen. Wenn Christian Grashof einmal mehr die Worte hervorschmatzt und die Augen verkneift, mit der Hand wedelt und jedes Wort in einen Schnarrmantel hüllt, ist ein Chargentum zu erdulden, das offensichtlich jedem Kunstanspruch in die Quere kommen soll.

Stolpersteine für die Kunst

Überall baut Gosch vorsätzlich die Kunst und das Theater unterbrechende Störmomente ein, mit der in die sonst eher geschlossene Fiktion Fenster zur Wirklichkeit gerissen werden. Den Regiehospitanten wurden kleine Rollen zugeteilt, was sie verblüffend gut meistern, weil sie ihr Laientum weder kaschieren noch ausstellen, sondern belassen. Die viel zu selten gewürdigte Meike Droste darf ihrer Mascha die Figurengrenzen sprengende Zornes- und Wutattacken erlauben, Christoph Franken schenkt dem Semjon seinen Schwabbelbauch, ohne so zu tun, als sei er ein notwendiges Übel, und Jirka Zett drückt dem Konstantin seine Nervosität und Unerlöstheit auf, als gäbe es jenseits seiner Bühnenexistenz kein Dasein mehr. Was eigentlich geschieht diesen Figuren, den Schauspielern hier?

Wenn die Begriffe und Implikationen nicht so missverständlich wären, müsste man behaupten, dass die Schauspieler ihre eigene Verletzlichkeit, Unsicherheit, Brüchigkeit ungeniert zu Figuren verwandeln, statt diese durch ihr Eigenes zu nobilitieren. Das, so scheint's, ist jenes Unnennbare, das vor dem Drama bereits geschah – das allerhöchst Private und Unfertige der Darstellerbiografien selbst. Und das verleiht diesem Abend seine seltsame Unangreifbarkeit, allerdings auch seine Sogwirkung. Einerseits.

Am Ende einfrieren im Standbild

Andererseits ließe sich nicht ohne Gründe behaupten, dass die Figuren schlicht nicht präzise genug gearbeitet, die Szenen nicht ausreichend gestaltet, der gesamte dreieinhalbstündige Abend nicht zu Ende inszeniert wurde. Peter Pagels Arzt schaut mitunter auch schwer nach Kunsthandwerkelei, Corinna Harfouchs Irina nach bloßem, souveränem Routinetum aus. So gesehen wäre Goschs "Möwe" doch nur der zweite Teil des "Onkel Wanja", allerdings weniger kunstvoll, genau und einleuchtend.

Aber der Schluss! Konstantin erschießt sich, der Arzt vermeldet es und das Spiel friert zum Standbild fest. Eine, zwei, drei Minuten, in denen keine Regung geschieht. Die Szene wird nicht aufgelöst, sie hört einfach auf.

Als dann zum Schlussapplaus Jürgen Gosch auf die Bühne kommt, huldigen ihm auch die Schauspieler. Wir alle wissen, dass er krank ist. Sterbenskrank. Vor dieser Tatsache sieht jede Kritik notwendig kleinkrämerisch, albern und herzlos aus. Denn sie rührt an den ureigensten Ängste aller, auch meiner.

 

Die Möwe
von Anton Tschechow. Deutsch von Angela Schanelec
Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Dramaturgie: Bettina Schültke. Mit: Meike Droste, Corinna Harfouch, Kathleen Morgeneyer, Simone von Zglinicki, Christoph Franken, Christian Grashof, Alexander Khuon, Peter Pagel, Bernd Stempel, Jirka Zett, Ben Clark, Przemek Zybowski, Theresa Schütz.

www.deutschestheater.de
www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr über Jürgen Gosch: Im Januar 2008 inszenierte er am Deutschen Theater Berlin Tschechows Onkel Wanja, für viele das wichtigste Theaterereignis der Spielzeit 2007/2008. Wir berichteten auch über Goschs jüngste Uraufführungen von Schimmelpfennig-Stücken: Hier und Jetzt im April 2008 am Schauspielhaus Zürich und Calypso im Februar 2008 am Schauspielhaus Hamburg. Zuvor entstanden drei Shakespeare-Abende: im April 2007 Wie es euch gefällt in Hannover, den Sommernachtstraum am DT Berlin. Im Oktober 2007 folgte in Düsseldorf Was Ihr wollt.

 

Kritikenrundschau

Jürgen Gosch bleibe mit dieser "Möwe" "ganz auf der Höhe seiner Kunst" und knüpfe an seinen "Onkel Wanja" an, findet Eva Behrendt in der taz (22.12.2008). Der "schöne Ernst", mit dem er auf die glücklosen Tschechow-Menschen blicke, erwische einen "umso härter, als man meist gerade noch gelacht hat", z.B. über Meike Droste, die "wieder herrlich komplexbeladen ist, diesmal aber auch spröd und böse". Harfouch gebe als Arkadina nicht die Diva, sondern eine "eher zurückhaltende Frau", die die "panische Angst vor dem Misserfolg" umtreibt, vor dem eigenen und dem des Sohnes Kostja, der bei Zett in gebügelten Hemden "immer ein bisschen streberhaft" wirke. Khuon hingegen spiele "die Ironie der zufälligen Überlegenheit" Trigorins "einen Tick zu breit aus", besteche jedoch logisch, wenn er sich deshalb in Nina verliebt, weil er ihr "anders als der jede Schwäche scheuenden Arkadina, von seinen Schreibkrisen erzählen kann". "Star und zugleich Antistar des Abends" sei allerdings Morgeneyers Nina: Anfangs segele diese "Fleisch gewordene Verlegenheit auf der Grenze zur Karikatur", doch dann erlösche das Komische, bis am Ende nur noch "leer geheulte Einsamkeit" übrig bleibe.

Eine Fortsetzung von Goschs "lakonischer Suche nach dem Wesentlichen des Lebens und des Leidens" hat auch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.12.2008) gesehen. Gosch nehme Tschechows Situationen und lasse diese von seinen Schauspielern "in unfassbarer Direktheit körperlich und auch emotional ausagieren". Das gehe "ganz ohne Spuk, wie sich spätestens immer dann zeigt, wenn die eben noch leidbesoffenen, liebeverkeilten Gestalten sich wie auf Befehl von einander lösen, abkühlen und als Schauspieler auf der Bühne platznehmen, um den anderen bei der Arbeit zuzusehen". In diesem (außer bei Grashof und Page) "ungelogenen, geraden, ritualisierten Spielen dürfte das Wesen des Theaters zu suchen sein", während das Wesen des Menschen, so zeige sich immer mehr, darin bestehe, Theater zu spielen. Wenn am Ende die Nachricht von Kostjas Tod die Spieler erstarren lässt, breite sich "das Nichts explosionsartig im Theater aus, die Zuschauer hören auf zu atmen, ihre Herzen stehen still".

"Mitten ins Herz getroffen" wurde da gleichfalls Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (22.12.2008). Für ihn ist es kein Zufall, dass Gosch jetzt ein Künstlerdrama inszeniert, für dessen Stück-im-Stück er "die genialste, witzigste und wahrhaftigste Lösung" finde, indem er es "als entwaffnende Selbstparodie" auf die Bühne bringe, in der vieles an seine eigene "Making-Of-Ästhetik" erinnere. Der Stein, auf dem dieses aufgeführt werde, sei "nichts Geringeres als ein Zeichen für die Gewichtigkeit von Kunst". Gosch ziele hier "auf die Quintessenz seines Theaterlebens", die Inszenierung werde zu "so etwas wie Goschs Vermächtnis", obwohl er nichts anderes tue, "als das Stück pur und porös durch sich hindurchgehen zu lassen wie einen großen Schluck Atemluft". Er beweise hier, "dass er den Stein der Theaterweisen gefunden hat": Wie immer wolle er "keinen Verwandlungszauber, sondern die Osmose zwischen Schauspieler und Rolle. Die Spieler verschwinden nicht in ihren Figuren, sondern verdoppeln deren Gewicht um das eigene".

"Eindeutigkeitsexempel" mit Ticks hat hingegen Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (22.12.2008) gesehen. Gosch scheine es zu genügen, "Tschechow demonstrativ zu plakatieren statt sich spielerisch in ihm zu verlieren". So werfe er "die Zweideutigen, die Viellebigen, die Tausendliebigen, kompliziert Individuellen allen Augen zum kontrollierten Eindeutigkeitsfraß vor". Da habe jeder "nur einen Ton, eine Haltung". Doch gebe es durchaus "Unterschiede im handwerklich wie immer vorzüglichen Ensemble des Deutschen Theaters". Grashofs gewohnt manierhaftes Spiel verschaffe dem alten Sorin immerhin "den Charme eines durchgeknallten Lustgreises". Harfouchs Arkadina sei eine "leicht genervte, wutentzündete Eifersuchtsfurie", Khuon das "milchbärtige, bemützte, immer lustig durch die Nase schnaubende Gymnasiastenjüngelchen" Trigorin und als solcher "doch etwas sehr juvenil fehlbesetzt". Morgeneyer locke ihre Nina "auf die Süßleimrute einer Schnief-Duse". Das alles sei "gut und schön. Nur dass sie alle zu schnell sind. Zu schnell fertig mit sich." Nach fünf Minuten sei jeder "eindeutig ausgespielt".

Barbara Villiger Heilig wiederum meint in der Neuen Zürcher Zeitung (22.12.2008), Gosch habe das Stück "fast skizzenhaft" in Szene gesetzt, wobei er vor allem eines im Sinn gehabt zu haben scheint: die Grenzen zwischen Leben und Kunst zu verwischen. Dabei huldige diese "Möwe"-Inszenierung "dem Leben", wobei die Kritikerin den "dunklen Hintergrund" von Goschs Erkrankung durchaus mitdenkt. In diese Sehnsucht nach dem Leben rücke der Abend sein "ungeschminktes Licht", andere Aspekte würden einfach ausgeblendet. "Die komplizierten Liebes- bzw. Eifersuchtsgeschichten setzt Gosch quasi in Klammern; ohne inneres Gewicht sichern sie gerade noch Zusammenhang und Fortgang der Story – die, und das steht mit dem selbstvergessen spielenden Ensemble klar im Vordergrund, vom Leben erzählt." Ungefeilt und trotzdem schwerelos laufe der Abend dahin, "Verzweiflung, Heiterkeit, Hoffnung und Enttäuschung streifend, auf der dünnen Linie zwischen Kunst und Nicht-Kunst".

Gosch verliere sich "keinen Augenblick in atmosphärischer Poesie", so Hartmut Krug für Deutschlandradio Kultur (21.12.2008), sondern führe "einfach Menschen vor". Mit der Bühnenlösung verdeutliche Gosch zweierlei: "dass es in diesem Stück immer auch um die Kunst und deren Wahrnehmung geht, und dass (…) sich die Menschen stets im Blick der anderen verdeutlichen". Wie hier "nicht etwa als-ob-Theater gespielt" oder Figuren vorgeführt, sondern "Menschen transparent gemacht" würden, das sei "ein schauspielerisch-inszenatorisches Wunderwerk". Die Inszenierung versuche "keine neue, originelle Interpretation", sondern gehe "dem Stück und dem Menschen mit den einfachen Mitteln der Darsteller-Ausdruckskunst auf den Grund". Dabei sei es Gosch gelungen, "alle Schauspieler zu enormer Präsenz in einem menschlichen Da-Sein zu bringen, deren Wahrhaftigkeit über ihr Bühnendasein hinauszureichen scheint". Indem die Aufführung dabei auch noch "hochkomödiantisch" sei, mache sie "die Tragik der scheiternden Menschen besonders deutlich".

Am Ende hat Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (22.12.) gedacht: "Ja, Jürgen Gosch, ja, Sie haben Recht, Spielen ist ein Ausweg" aus dem furchtbar traurig-lustigen "Schlamassel, den man Leben nennt". Und Spielen heiße "in diesem Fall, die ganze furchtbare Lebensfülle genießen, mitmachen, bei gleichzeitigem Wissen, dass das nichtig ist. Das Furchtbare ist das Wunderbare. Im Spielen kann man darüber lächeln". Da die Theaterwelt "zur Zeit vor allem von Goschs und von Christoph Schlingensiefs Krankheit" rede und jede Aufführung "zum Vermächtnis" werde, tappe man leicht in die Falle, nämlich ins "falsche Einverständnis der Betroffenheit. Bereitwillig öffnen sich dem Kitsch die Türen. Pathos, das man sonst als unerträglich empfinden würde, scheint wahr zu werden". Gosch jedoch habe "den Versuchungen widerstanden und die Fallen umgangen". Beim ersten Akt denkt sich der Kritiker noch: "Merkwürdig hölzern ist das alles", zwar keine Totenmesse und kein Pathos, aber "unbeholfen". Doch dann… Wahrscheinlich habe jeder Zuschauer einen anderen Moment, "zu dem er begreift, wie zupackend und zart, wie verzweifelt und liebevoll, philosophisch und konkret" diese "zugleich sehr texttreue und sehr freie Aufführung" mit dem Leben spiele.

Bei Goschs offenen Riesenspielkisten sei immer auch ein bisschen "Probe, Werkstattgefühl", schreibt Reinhard Wengierek in der Welt (22.12.). Immer wieder schaffe Gosch das Wunder des "analytischen Blicks aufs fiebrige Dasein als packendes Kunststück im Theater, das sein Publikum nicht düpiert oder verstört, sondern herzensfrei und kopfklar entlässt". Kostjas Erkenntnis am Ende, dass in der Kunst alles von Herzen kommen müsse, habe Gosch "längst intus", "weshalb er sein Herzeleid (…) nicht verschwiemelt mit immer neuen, verrückteren Abstraktionen, sondern es schlicht und einfach ausstellt". Die Schauspieler hockten als "Einsamkeitskollektiv" da und schauten "amüsiert, entsetzt, verbittert, erschrocken, immer aber teilnahmsvoll auf die jeweiligen Eiertänze" der anderen. "Und diese Galerie der stummen Teilnahme der gerade nicht aktiven Spieler in diesem bitteren Vergeblichkeitsspiel rahmt dessen rabenschwarze Trostlosigkeit wie ein Wunder mit Trost. Ein großes, ein unvergessliches Theatererlebnis!"

"Diesen Abend vergisst man nicht. Er ist ein Geschenk", schwärmt auch Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (22.12.) und gewinnt sogar seinen "nie ganz verlorenen Glauben ans Theater" zurück, kann sich am Ende gar "nicht losreißen". "An diesem erschütternden, befreienden Premierenabend" blieben "die Augen nicht trocken. Ein Wunder!" Alles werde hier "so einfach, so klar": "Aus Rollen und Figuren werden: Menschen. Dramaturgie, Schauspielerei, Ausstattung, der ganze Theaterbetrieb ist ergriffen: vom Leben." Dabei sei das alles doch "nichts anderes als ein Kunstraum, anatomisches Theater der comédie humaine", in die Gosch die Zuschauer mit hinein hole. Wo das Gosch-Ensemble aufspiel, "wie man lange kein Ensemble gesehen hat", entstehe "dieses seltsame Wir-Gefühl", in der auf die Hierarchie von Haupt- und Nebenrollen gepfiffen werde. Die Figuren sind "Typen in Alltagsklamotten", die einander ins Verderben hetzten, unter Leidens- und Erfolgsdruck stehend, "Menschen von heute, keine Zeit, kein Geld, keine Ruhe". Die "Entdeckung des so überreichen Abends, der wie die Summe eines Theaterlebens wirkt", sei Morgeneyer, deren Nina von einem andern Stern komme: "keine gewöhnliche Schönheit, sondern ein Gesicht, in dem man ganze Dramen lesen kann und künftige, große Rollen".

Auf Spiegel-online (21.12.) ist von Christine Wahl zu lesen, Gosch habe die "gigantischen Erwartungen" mit diesem "'Onkel Wanja' Teil zwei" "mehr als erfüllt" und beschenke sein Publikum erneut mit "furiosen Theatersternstunden", in denen er seine "großartigen Schauspieler, die sich in diesem leeren Raum an nichts festhalten können", wieder "zu beispielloser Intensität" treibe. Im Grunde stünden hier zehn Hauptfiguren auf der Bühne, "die jede für sich eine abendfüllende, ureigene Tragödie spielen", ob sie nun gerade selbst agieren oder hinten zuschauend teilnehmen. Eigentlich müsste man "alle Akteure dieses Abends feiern", dessen überragende Leistung es sei, die Figuren radikal zu demontieren und "über das Leidensszenario gleichzeitig einen Firnis tiefer versöhnlicher Menschlichkeit" zu legen.

 

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