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15. Januar 2023. Wer in ein anderes Land flüchten muss, hat es immer anders schwer. Nuran David Calis führt in seinem neuen Abend "Exil" die Erzählungen ukrainischer Geflüchteter mit der Situation im Jahr 2015 zusammen und versucht, eine europäische Erzählung zum Thema zu formen.

Von Max Florian Kühlem

Über die Lebensbedingungen Geflüchteter: "Exil" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln © David Baltzer

15. Januar 2023. Egal, wie drängend, existenziell oder von dauerhafter Wichtigkeit ein Thema ist – nach einiger Zeit droht es stets aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden. "Flucht" ist dafür ein gutes Beispiel. Nach der großen Welle geflüchteter Menschen, die 2015 in Deutschland ankamen, gab es lange gefühlt kein anderes Thema in den Medien, in Gesprächen, in der Politik. Obwohl der Krieg in der Ukraine für eine neue Welle Flüchtender gesorgt hat, wird trotzdem anders und längst nicht so dringlich darüber diskutiert. Deshalb ist es eine spannende Frage, wie Nuran David Calis Diskurse und Interviews am Schauspiel Köln zu einer "europäischen Erzählung" anordnen würde – so heißt sein Flucht-Stück "Exil" im Untertitel.

Auch in der Biographie des Regisseurs spielt Flucht eine Rolle: Kurz vor dem Militärputsch in der Türkei 1980, vier Jahre nach seiner Geburt, flohen seine Eltern nach Deutschland und bekamen politisches Asyl. In Köln modifiziert er seine Methode des vielstimmigen Theaters mit dokumentarischen Elementen und journalistischen Recherchen, die er mit der Keupstraßen-Trilogie oder zuletzt "Mölln 92/22" zum Erfolg geführt hat. Diesmal stehen keine Experten des Alltags auf der Bühne. Dafür werden immer wieder Teile von Interviews mit nach Deutschland Geflüchteten aus der Ukraine, Syrien oder anderen Ländern auf den drei Videoleinwänden eingespielt.

Zwischen Sprachen, zwischen Gefühlen

Auf der Bühne steht außerdem der ukrainische Schauspieler Oleksii Dorychevskyi und gibt in seinen Texten auch die eigene Geschichte verfremdet wieder. Er spricht von Anfang an sehr aufgeregt und nervös, wird immer wieder laut, wechselt zwischen den Sprachen Deutsch und Ukrainisch, wird manchmal von einem anderen Ensemblemitglied übersetzt. Es wird klar: Geschichten von Flucht und Leben im Exil sind niemals leicht und haben selten ein Happy End. Meistens bleibt eine Traumatisierung, eine Wunde, eine Wut, ein Verlust, eine Angst.

Exil 1000 DavidBaltzerHinter Glas in Nuran David Calis' "Exil" © David Baltzer

Nach dem ersten Viertel des Stücks hat man den Eindruck, Nuran David Calis habe sich nur mit der spezifischen Situation der ukrainischen Kriegsflüchtlinge beschäftigt. Man hört die Geschichten von Frauen, die ihre Männer zurücklassen mussten, von Männern, die sich die Frage gefallen lassen müssen, warum sie nicht für ihr Land kämpfen, von der großen Willkommenskultur – dem Wohnraum, der auf einmal überall bereit stand. Und irgendwie fehlt da die kritische Distanz, die theatrale Verarbeitung, kunstvolle Umformung. Das alles ist noch zu nah, zu aktuell.

Gesellschafliches Rumoren von 2015

So tut es der Uraufführung gut, als sie unmerklich ihren Fokus wechselt und auf einmal Fluchtrouten über das Mittelmeer Thema sind, die zu regelrechten Odysseen und gewaltvollen Erfahrungen werden. Es geht dann auch darum, wie es 2015 ungleich mehr rumort hat in der deutschen Gesellschaft, rechte Reflexe ausgeschlagen sind. Stimmen aus der Jungen Union tauchen auf, die "Mentalitätsunterschiede" zwischen Ukrainern und Syrern ausmachen wollen. Begriffe wie "Kopftuchmädchen" und "Messermänner" fallen, Friedrich Merz hat es mit seiner Fortführung rassistischer Zuschreibungen ("kleine Paschas") nicht mehr in den Stücktext geschafft.

Exil3 1000 DavidBaltzerViele kleine Erinnerungsräume im Bühnenbild von Anne Ehrlich für Nuran David Calis' "Exil" © David Baltzer

Kristin Steffen beschäftigt sich in einem drängenden Monolog mit den Eigenheiten der Sprache, die uns eint und trennt, die nie ermöglicht, organisch zu äußern, was in uns gärt, sondern Gedanken und Gefühle in ein System aus Regeln presst. Im Bühnenbild von Anne Ehrlich gibt es vernebelte Erinnerungsräume, eine Küche als Diskurs-, eine typische Amtsflur-Sitzbank als Warte- und Transitraum und ein tolles skulpturales Element: eine festgefrorene Schaukel samt schaukelndem Menschen. Das Publikum ist von den Schauspieler*innen fast die ganze Zeit durch Plexiglas-Scheiben getrennt und kommt ihnen auch durch etwas unmotivierte Live-Videobilder nicht näher.

Wenn sie am Ende vor die Scheiben treten, dann um per Skype live mit der Mitarbeiterin einer NGO auf Lesbos und einem queeren Geflüchteten aus Uganda in einem Camp auf Samos zu telefonieren. Deren Berichte sind schockierend: Das passiert wirklich alles immer noch? Doch trotz dieses überraschenden, ergreifenden Endes ist "Exil" keine große europäische Erzählung geworden, sondern mehr ein Flucht-Sammelsurium, ein Herumstochern im weiten Diskursraum. Das Thema ist wohl doch noch zu nah für eine künstlerische Reflexion.

Exil. Eine europäische Erzählung
Uraufführung
von Nuran David Calis
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Musik: Vivan Bhatti, Video & Interviews: Karnik Gregorian, Licht: Jan Steinfatt, Dolmetscherin: Anastasiia Krasovska, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: İsmail Deniz, Stefko Hanushevsky, Oleksii Dorychevskyi, Kristin Steffen, Michaela Steiger.
Premiere am 14. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Die Zusammenarbeit von Nuran David Calis und Anne Ehrlich gelinge auch dieses Mal wieder sehr gut: die Inszenierung werde vom Bühnenaufbau ästhetisch zusammengehalten, resümiert Christoph Ohrem in der Sendung Fazit des Deutschlandfunk Kulturs (14.1.2023). Der Abend sei ein deutlicher, vielleicht etwas überladener, Aufruf – der jedoch insgesamt ästhetisch und inhaltlich durchaus gelungen zusammengebunden wäre.

Alex Hill vergleicht die Inszenierung in der Kölnischen Rundschau (16.1.2023 | €) mit einer Doppelstunde in den Fächern Ethik oder Gesellschaftskunde, die mit dem üblichen "instrumentarium aus der Regie-Werkzeugkiste" ergänzt wird. Diese könnten jedoch nicht der "erschreckenden Wirklichkeit Paroli bieten". Die dokumentarischen Szenen des Abends wären intensiv: "nüchtern, abgeklärt, bewegend".

Die assoziativen Gedankenspiele stünden ein wenig unvermittelt neben den konkreten Geschichten, mit denen Nuran David Calis das Publikum konfrontieren wolle, schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (16.1.2023 | €). Dieses Mal kämen, vor allem im Vergleich zu vielen anderen Abenden, die Calis bereis in Köln inszeniert habe, direkt Betroffene nur allzu kurz via Videoausschnitten zu Wort – "abgesehen von Dorychevskyi, aber der ist ja professioneller Schauspieler".

 

 

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