Die Ideale sind zu groß

15. Januar 2023. Schillers Figuren als arme Würstchen, die gefangen sind in ihrem eigenen Idealismus und dem ihrer Mit- und Gegenspieler. David Bösch reduziert Carlos & Co. auf ihre emotionalen Bedürfnisse, seine Inszenierung wird getragen von einer starken Besetzung.

Von Steffen Becker

Carlos und die Königin: Felix Strobel und Frida-Lovisa Hamann © Thomas Aurin

15. Januar 2023. Verwesung oder Freiheit? Im Spanien Philipps II. ist das eine rhetorische Frage – zumal, wenn sie der Großinquisitor stellt. Und Reclam-Heftchen-Leser wissen natürlich seit der Oberstufe, was das für Schillers Protagonisten seines Dramas "Don Carlos" heißt. "Schenken Sie Gedankenfreiheit, Sire" – sorry du Träumer, nicht in diesem Jahrhundert. Aber das Imperium, das diesen Angriff der Freiheit zurückschlägt, wirkt auf der Bühne des Schauspiels Stuttgart nicht düster und mächtig.

Schrumpfkur für den Idealismus

Matthias Leja als Philipp II. sucht finalen Rat beim Großinquisitor. Die Stimme von Anke Schubert schallt verächtlich aus dem Off und tadelt den König für seine Anflüge von Menschlichkeit. Der König weicht zurück im gleißenden Licht, das den Schatten eines Kreuzes wirft und verschmilzt als Häuflein Elend mit dem grauen Hintergrund. Der Monarch hatte nach menschlicher Nähe gesucht. Es bleibt ihm nur die Exekution einer Schreckensherrschaft, befohlen von Tradition, Glauben und Zynismus. Lejas Philipp II. wirkt bemitleidenswert, als Zuschauer:in empfindet man Empathie für einen Gebrochenen, einen Gefangenen.

Diese Szene und ihre Figur sind sinnbildlich für David Böschs Inszenierung des Klassikers. Er verordnet "Don Carlos" eine Schrumpfkur. Weltensturm und Politik – auf Spurenelemente reduziert. Das Pathos des Sturm und Drang – entsorgt. Bösch konzentriert sich auf die Menschen – in der Kleinheit ihrer (verhinderten) emotionalen Bedürfnisse. Das Ambiente – so spartanisch wie es nur geht: Neon-Röhren, Stühle, ein Schreibtisch. Das Figurentableau – auf den Kern reduziert. Die Ideale der Figuren schrumpeln im fahlen Bühnenlicht der Inszenierung in die "das funktioniert doch eh nie"-Kategorie. Sie haben die Wünsche, etwas zu verbessern an der Welt. Aber es ist von vornherein klar, dass diese Aufgabe zu groß ist für sie. Und sie scheinen es selbst zu wissen.

Sie wollen doch nur glücklich sein

Auch der Kindskopf Don Carlos. Regisseur Bösch stattet ihn mit einem schwarzen Federbusch um die Schultern und Kajal um die Augen aus. Aber diese Insignien der Rebellion sind aufgesetzt. Felix Strobels Carlos ist vor allem fahrig. Ein Mensch, der nervös über die Bühne stakst, so schnell spricht wie er seine Launen wechselt. Der dabei nur in wenigen erwachsenen Momenten begreift, in welches System er da als Thronfolger hineingeboren wurde. Dass er aus dem Versmaß Schillers oft ausbrechen darf, ist weniger als Zeichen von Subversion, denn von Überforderung der Figur zu lesen, die die Form nicht halten kann im Chaos der Leidenschaften.

DonCarlos2 Thomas aurinDer Marquis de Posa (David Müller) und Don Carlos (Felix Strobel) in brüderlicher Umarmung © Thomas Aurin

Strobels Carlos will nicht lange sinnieren über Ehre, Treue, Freiheitskampf. Er will sich fühlen – in der Liebe zu seiner Stiefmutter. Eine Witzfigur ist er trotzdem nicht. Mit Elisabeth von Valois tanzt und tollt er zu Lykke Li’s "I follow rivers" ("I follow you, dark doom, honey, I follow you"). Es sind die einzigen Szenen, die in warmes Licht getaucht sind. Sie nehmen kurz Tempo raus aus der Inszenierung und erlauben sich, die Zuschauer zu berühren und für Carlos einzunehmen. Auch die sonst so bestimmt agierende Königin (Frida-Lovisa Hamann) wird unbeholfen beim so ungewohnten Erlebnis von Nähe (und vergisst darüber ihre eigenen politischen Ambitionen). Im Setting der Inszenierung wiederholt sich der Eindruck, den auch die Zeichnung von Philipp II. hervorruft: Man sieht zwei Gefangenen zu, denen das persönliche Glück nicht vergönnt sein wird – weil sie es so viel mehr herbeisehnen als die Veränderung des Großen und Ganzen, das diesem Glück entgegensteht.

Reduzierte Fallhöhe

Für den Marquis de Posa gilt das zumindest vordergründig nicht. Er kämpft verbal für die Freiheit abtrünniger Provinzen. Aber David Müller legt seine größte Leidenschaft in die Eitelkeit seiner Figur – sein Marquis sonnt sich im Respekt, den er sich vom Monarchen für seine mutigen und scheinbar selbstlosen Ansichten verdient und legt seine größte Leidenschaft in die Betonung seiner Opferbereitschaft. Diese Selbstbezogenheit herauszuhängen, die auch allen anderen Figuren anhaftet, gelingt Müller furios. Es ist jedoch zugleich Teil des Problems der Inszenierung. Der nihilistische Ansatz der Regie reduziert mit der Fallhöhe der Figuren auch die Dramatik. Was bleibt ist ein unterkühlter Abend, der das Glück hat, vom Feuer einer auch in den Nebenrollen ungemein starken Besetzung getragen zu werden.

Don Carlos
Ein dramatisches Gedicht von Friedrich Schiller
Regie: David Bösch, Bühne: Falko Herold, David Bösch, Kostüm: Pascale Martin, Musik: Karsten Riedel, Video: Falko Herold, David Bösch, Licht: Jörg Schuchardt, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Matthias Leja, Frida-Lovisa Hamann, Felix Strobel, Katharina Hauter, David Müller, Michael Stiller, Reinhard Mahlberg, Anke Schubert.
Premiere am 14. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

David Bösch genehmige den Figuren nicht das Pathos, mit dem Schiller sie sprachlich aufgeladen habe. "Wir sehen nur lauter von sich selbst Überforderte", schreibt Jürgen Kaube von der FAZ (15.1.2023). An Befreiung und Fortschritt werde hier so wenig mehr geglaubt wie an Ordnung und Herrschaft. "Auf den berühmtesten Satz des Stückes, 'Geben Sie Gedankenfreiheit', hat Karl Kraus einmal geantwortet: 'Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch Gedanken‘. Das Problem der Stuttgarter Inszenierung ist der Mangel daran."

Mit kleinen Umstellungen gelinge es David Bösch und seiner Dramaturgin Gwendolyn Melchinger, die Figuren noch klarer zu zeichnen und die Spannung zu steigern, schreibt Nicole Golombek von der Stuttgarter Zeitung (15.1.2023). Sie bezeichnet den Abend als "beglückendes Schauspielerfest". Felix Strobel mache jeden Auftritt zum Ereignis. "Er lässt mit wunderbar bis in die Nuancen genauem Sprechen, bis ins kleinste Ah und Oh, Schillers Text wirken, als sei er gerade erst jetzt und nicht schon 1787 geschrieben worden." Und weiter: "Es ist die Stärke von David Böschs sich auf psychologische Untiefen konzentrierende Inszenierung, dass es viel dunkles Grau gibt, kein Schwarz und Weiß, kein bloßes Gut und Böse. Und dass Schillers Freundschafts- und Liebespathos auf ganz unprätentiöse, anrührende Weise gefeiert wird."

"Schauspiel ohne optisches Trallala, es gilt das gesprochene Wort. Und siehe da, es funktioniert. Fesselt zuweilen. Entwickelt einen Sog", schreibt Otto Paul Burkhard von der Südwest Presse (16.1.2023). "Bei Bösch entwickelt Schiller oft einen Sprechtheater-Flow, bei dem das spielfreudige Ensemble im Text viel Furor und Kalkül, aber auch viel funkelnden Witz freilegt.“ Und weiter: "Unterm Strich zeigt David Böschs Regie, dass Schiller auch weitgehend pur noch packen kann - ohne aufwändige Effekte, ohne wohlfeile Gegenwartsbezüge." Der Kritiker lobt „eine mutig aufs Wort setzende Regie“ und „ein glänzendes Ensemble“.

 

Kommentare  
Don Carlos, Stuttgart: Kein Glück für Schiller
Die teils starke Besetzung rettete den Abend, aber Schiller hatte weniger Glück als der Abend. Nicht einleuchten wollte die Rolle seiner virtuellen Statisten (Flandern, Niederlande, Volk schlechthin), eine Gesellschaft kam nicht ins Spiel.

Sie interessiert Bösch heute weniger als vielleicht damals Fritz Kortner- aber sind Gedankenfreiheit, Totalitarismus, politische Verantwortung, imperialistisches Machtmonopol heute so viel weniger relevant?

Eine in Details souveräne Inszenierung mit schönen Detaillösungen - so der Relativierung der unfreiwillig komischen Briefschriftstückfixierung von Schillers Intrige -, aber mit palastprivatem Horizont.

(Hebbel-Theater, Dezember 1950: "Kortner dichtete eine Sonderszene hinzu, in die hinein sich die aufgestaute Empörung eines langmütigen Premierenpublikums endlich entlädt. Auf der rotierenden Bühne knallen drei Reihen Soldaten Feuersalven ins Parkett ab." - Er hatte entweder bessere Motive oder eine aufnahmefähigere Gesellschaft.)
Don Carlos, Stuttgart: Nicht auf Kritiken verlassen!
"Was bleibt ist ein unterkühlter Abend, der das Glück hat, vom Feuer einer auch in den Nebenrollen ungemein starken Besetzung getragen zu werden."
"Fast noch nie seit der Intendanz von Burkhard Kosminski war der Jubel stürmisch wie nach diesem zweieinhalb Stunden währenden beglückenden Schauspielerfest. (...) Und Felix Strobel macht jeden Auftritt zum Ereignis. Er lässt mit wunderbar bis in die Nuancen genauem Sprechen, bis ins kleinste Ah und Oh, Schillers Text wirken, als sei er gerade erst jetzt und nicht schon 1787 geschrieben worden" (Stuttgarter Zeitung)
"Die Schauspieler laufen über die weitgehend leere Bühne wie über einen Schulhof oder einen Bürgersteig. Eine Choreographie gibt es nicht. Schillers Jamben werden nachlässig gesprochen." (Frankfurter Allgemeine)
Alle reden von derselben Aufführung. Schön und gut. Aber auch eine Erinnerung daran, dass man sich auf Theaterkritiken nicht verlassen sollte. Sie können nicht mehr sein als Orientierungshilfe aus subjektiver Sicht. Wenn noch nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob genau oder nachlässig gesprochen wurde, wo bleiben dann die objektiven Maßstäbe? Man muss schon ins Theater gehen und sich selbst ein Urteil bilden. Dafür gibt es keinen Ersatz.
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