Leben wie im Film

15. Januar 2023. Viele Leben hatte Irmgard Keun: als Stenotypistin, Theaterschauspielerin und Erfolgsautorin am Ende der Weimarer Republik, dann als Autorin im Exil. Mina Salehpour inszeniert Lutz Hübners/Sarah Nemitz' Keun-Stück als großes Spiel über biographische Wahrheit und Fiktion.

Von Gerhard Preußer

Zwischen Wahrheit und Erfindung: Lutz Hübners und Sarah Nemitz' "Die fünf Leben der Irmgard Keun" von Mina Salehpour inszeniert am Düsseldorfer Schauspielhaus © Melanie Zanin

15. Januar 2023. "Schreiben wie im Film, denn so ist mein Leben", will Doris, das kunstseidene Mädchen, in Irmgard Keuns Roman. Aber Irmgard Keun hat kein Drehbuch geschrieben, sondern Romane, in denen alles Bildliche in Sprache übersetzt und die komprimierte Zeiterfahrung eines Films in die Literatur übertragen wird. Irmgard Keuns Leben, nicht nur das ihrer Romanfiguren, war "wie im Film", mit mehreren plot points und einem kleinen versöhnlichen Abgang nach der Katastrophe. Einen Film über Keuns Leben gibt es nicht. Nur in einer der Verfilmungen ihrer Romane hat sie einen Gastauftritt als "alte Dame im Café". Also muss es ein Theaterstück geben über Irmgard Keuns Leben, genauer: ein Theaterstück über das Scheitern des Projekts, einen Film über ihr Leben zu drehen.

Frau mit vielen Leben

So ein "Making of"-Stück zu einem realen Leben, ein Hohnlachen des Theaters über das Scheitern eines Dokufiction-Projekts, haben Lutz Hübner und Sarah Nemitz für das Düsseldorfer Schauspielhaus geschrieben. Fünf Leben habe die Autorin gehabt, verkündet der Titel. Vielleicht sind es auch sechs oder mehr. Ein Leben als Stenotypistin, eines als Theaterschauspielerin, eines als Erfolgsautorin am Ende der Weimarer Republik, eines als Autorin im Exil in Belgien, Frankreich und USA, ein Leben als illegale, untergetauchte Autorin mit Veröffentlichungsverbot in Köln während des Zweiten Weltkrieges, ein Leben als alleinerziehende Mutter, ein Leben als langjährige Patientin in der geschlossenen Psychiatrie in den Sechzigerjahren, ein Leben als gefeierte, wiederentdeckte Schriftstellerin in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren.

Hübner und Nemitz, die nun seit etwa 25 Jahren zuverlässig jedes Jahr zwei neue Stücke schreiben, suchen immer eine Situation, in der ein Thema mit unterschiedlichen, aber repräsentativen Charakteren von verschiedenen Seiten im Dialog verhandelt werden kann. Dies ist nun die Produktion eines Fernsehfilms über Irmgard Keun im Jahr 1977.

 IrmgardKeun3 dHaus MelanieZaninZuschauerin und Akteurin in einem: Claudia Hübbecker als Irmgard Keun © Melanie Zanin

Alle sind versammelt: Schauspieler:innen, Regisseur, Kameramann und Hausmeister. Und die alte Dame kommt persönlich zum Probenbesuch. Dadurch kommt ein Spiel mit den Fiktionalitätsebenen in das Stück: Die Filmschauspieler spielen eine Szene aus Keuns Leben, sie mischt sich ein, die Illusion des Filmsets geht über in die Illusion der Lebenssituation. So changiert das Stück zwischen Backstagecomedy und biographischer Reportage. Dieses Schwanken zwischen Wahrheit und Erfindung hat auch seine Rechtfertigung in Keuns Haltung zu ihrem eigenen Leben. Die Geschichtenerzählerin hat immer wieder interessante Geschichten über ihr eigenes Leben erfunden.

Erfundene Wahrheit

Eine der erstaunlichsten Realitäts-Fiktionsmischungen ist der Versuch zu klären, wie Keun an ihren gefälschten Pass gekommen ist, mit dem sie während des Krieges nach Deutschland zurückging. Die Filmschauspieler improvisieren die Szene zwischen ihr und dem SS-Mann, der ihr den Ausweis verschafft hat. Aber die Szene scheitert, weil der Filmschauspieler (Rainer Philippi) auf die Schauspielerin der jungen Keun (Pauline Kästner) nur als der Wehrmachtssoldat reagieren kann, der er vor zwanzig Jahren noch war. Und die alte Keun (Claudia Hübbecker) schweigt, weigert sich irgendetwas zu erklären. Die (erfundene) Wirklichkeit verhindert die Darstellung der Wahrheit in der Fiktion.

IrmgardKeun1 dHaus MelanieZaninTabea Bettin, Raphael Gehrmann, Gesa Schermuly und als junge Keun: Pauline Kästner © Melanie Zanin

Regisseurin Mina Salehpour und Bühnenbildnerin Andrea Wagner haben ein kongeniales Bild für diesen schwindelerrengenden Wirklichkeitsbezug gefunden. Das Publikum sitzt auf der großen Bühne des Schauspielhauses auf der Drehbühne auf Drehstühlen, eingekreist von einem Gazevorhang, der den Zuschauerbereich vollständig einschließt. Die Schauspieler spielen am Rand des Kreises oder zwischen den Zuschauern, mal hier, mal dort. Die Zuschauerfläche dreht sich. Um aber alle Aktionen verfolgen zu können, müssen sich auch die Zuschauer auf ihren Stühlen drehen, mal in diese, mal in jene Richtung. Und wenn Irmgard Keun mit dem Schiff nach Amerika fährt, um sich von ihrem Verlobten Arnold Strauss loszusagen, schwankt sogar der Boden unter den Zuschauersitzen wie ein Schiff: Bewegung überall und von allen.

Witz, Schärfe, Stolz

Claudia Hübbecker zeigt uns eine Irmgard Keun mit vielen Facetten: mit ihrer Fähigkeit, Menschen zu bezaubern, ihrem Witz, mit der erbarmungslosen Schärfe ihrer Urteile über Menschen, mit ihrem souveränen, fast stolzen Umgang mit ihrer Alkoholsucht, mit ihrem absoluten Willen, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Neben ihr werfen sich die anderen Darsteller:innen mit Elan in ihre Rollen, mal als Filmschauspieler:innen, mal als Menschen aus Keuns Leben.

Am Ende schiebt Jupp, der Hausmeister, mit einem Stab die Drehbühne vorwärts, Keun schmiegt sich im schwarzen Kleid an ihn, die Musik dröhnt: Der Fährmann Charon stakt das Boot mit der erschöpften Dichterin über den Todesfluss. Aus dem Jenseits winkt Keuns alter Freund Joseph Roth mit der Flasche. Dort, im gleißenden Licht, können sie weitertrinken.

Und das kunstseidene Mädchen

Pauline Kästner, die in Hübners Stück ein Dienstmädchen und die junge Keun spielt, liefert als zweiten Teil des Düsseldorfer Doppelprojekts noch ein Solo hinterher: "Das kunstseidene Mädchen", Keuns größter Romanerfolg von 1932. Auch hier sind die Übergänge fließend, dreifach geschichtet zwischen Schauspielerin, Erzählerfigur und Autorin. Ist es die alt gewordene Romanfigur Doris oder die Autorin Irmgard, die aus ihrem in jungen Jahren geschriebenen Buch vorliest? Am lebendigsten wird dieses Monodrama, wenn nicht nur die Schauspielerin Doris spielt, sondern Doris auch ihre Dialogpartner, die dümmlichen Männer, die verhassten Konkurrentinnen nachäfft: Rollenprosa gedoppelt.

Wie war nun das wirkliche Leben der Irmgard Keun? Die Bühne ist der Ort für die Erfindung der Wahrheit.

 

Die fünf Leben der Irmgard Keun
von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

Regie: Mina Salehpour, Bühne: Andrea Wagner, Kostüm: Maria Anderski, Musik: Sandro Tajouri, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: David Benjamin Brückel:
Mit: Claudia Hübbecker, Tabea Bettin, Pauline Kästner, Gesa Schermuly, Rainer Philippi, Thiemo Schwarz, Raphael Gehrmann; Live-Musik: Christina Koropecki, Jason J. Liebert.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

Das kunstseidene Mädchen

nach dem Roman von Irmgard Keun
Szenische Betreuung: Wolfgang Michalek, Kostüm und Raum: Justine Loddenkemper, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgische Betreuung: David Benjamin Brückel, Künstlerische Begleitung: Andreas Kriegenburg.
Mit: Pauline Kästner; am Klavier: Yaromyr Bozhenko.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Premieren am 14. Januar 2023

www.dhaus.de

Mehr zum Thema: Im Juli 2021 waren Sarah Nemitz und Lutz Hübner Gäste unserer Video-Gesprächsreihe Neue Dramatik in zwölf Positionen.

Kritikenrundschau

Die Regisseurin habe ihre eigene Vorstellung davon, wie der Stoff zu präsentieren sei und ignoriere dabei weitgehend die Regieanweisungen der Autoren, schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2023 | €). Dabei gelinge Salehpour einige optisch eindruckvolle Bilder – letztlich hätten aber "weder das Setting auf der Bühne noch die Umarbeitung des Textes den offenkundig intendierten Effekt: Man lernt Keun nicht wirklich kennen".

Claudia Hübbecker als Irmgard Keun sei eine Wucht, befindet Lothar Schröder in der Rheinischen Post (16.1.2023 | €). Man müsse sie einfach gesehen haben, "ihre Kein, die selbst dann noch Oberwasser hat, wenn sie schon längst untergegangen ist." Natürlich handle es sich um eine "dankbare Rolle" – aber genau diese seien vielleicht auch die schwersten, "weil sie eben auch dankbare Schauspieler finden müssen."

 

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