Das Genie inszeniert eine Dummheit

22. Januar 2023. Vor 125 Jahren wurde der Regisseur Sergej Eisenstein geboren. Bis heute gilt er als einer der größten Filmkünstler aller Zeiten. Seine Karriere jedoch begann an der Bühne. Früh versuchte er das Theater mit filmischen Mitteln zu überwinden, doch ganz kam er nie von ihm los.

Von Erik Zielke

V. l. n. r.: Grigori Aleksandrov, Sergei Eisenstein, Walt Disney, Eduard Tisse, 1930

22. Januar 2023. "Nach meiner extremen Überzeugung bildet der Film das heutige Stadium des Theaters. Das Theater in seiner alten Form ist tot; sofern es weiterlebt, geschieht das aus Trägheit." So hat es der alte Sergej Eisenstein formuliert, dessen Geburtstag sich heute zum 125. Mal jährt. Ist das der – vielleicht etwas überhebliche – Abgesang des aufbegehrenden Medienrevolutionärs auf die schon mit reichlich Staub besehene darstellende Kunst? So einfach ist es nicht.

Alle Langfilme Eisensteins haben ihren Platz in der Geschichte des Kinos gefunden. Bereits sein erster Film aus dem Jahr 1925 mit dem schlichten, durchdringenden Titel "Streik" war ein Meilenstein. Sein erster Film? Heute fast vergessen, hatte der Rigaer Künstler bereits früher filmisch gearbeitet. 1923, zwei Jahre vor Erwin Piscators Projektionen auf Gazevorhänge an der Berliner Volksbühne und 75 Jahre vor Frank Castorfs ersten Live-Video-Experimenten ebendort, hat Eisenstein einen Film als Teil der Inszenierung von "Der Gescheiteste" am Moskauer Proletkult-Theater gedreht, wo er sich allmählich von seinem Lehrer Wsewolod Meyerhold, dem Schöpfer der Biomechanik, emanzipierte und zu einer eigenen Formensprache fand.

Vertreter des Regietheaters avant la lettre

Alexander Ostrowskis Komödie "Eine Dummheit macht der Gescheiteste" zählt in Russland bis heute zu den Klassikern. Sergej Tretjakow, die Lichtgestalt der sowjetischen Literaturavantgarde, hatte den etwas behäbigen Fünfakter für Eisenstein in Revueform gebracht. Das in den Siebzigerjahren wiederentdeckte Werk ist unter dem Titel "Glumows Tagebuch" bekannt geworden. Die fünf Minuten Material setzen sich aus drei Sequenzen zusammen, die im Proletkult-Theater gezeigt wurden. Filmaufnahmen, in den zunächst Eisenstein selbst eingefangen wird, dieser Vertreter des Regietheaters avant la lettre, dann die beteiligten Schauspieler, haben den Bühnenabend eröffnet. Zwei weitere Szenen illustrieren die Handlung symbolhaft und verlegen das Geschehen in die Welt außerhalb des Theaters. Gerade noch hat ein Darsteller auf der Bühne das Tagebuch Glumows, des komischen Helden, an sich genommen, kurz darauf sieht man ihn im Film die Dächer über Moskau erklimmen.

Und auch für den Inhalt des Tagebuchs fand Eisenstein assoziationsreich Bilder und setzte mittels Stop-Motion-Technik einen Panzer und einen Esel, Kinder und Jahrmarktpersonal voller Witz in Szene. Abschließend hält ein Schauspieler – wie zum Zeichen des Siegs des neuen Mediums – eine Filmrolle in die Höhe: ein künstlerischer Triumph, der sich ergibt, wenn zwei Schwesternkünste nicht mehr Konkurrentinnen sind, sondern eine Synthese eingehen. Eisenstein begriff nicht nur die kurzen Leinwandsequenzen, sondern den Charakter der gesamten Inszenierung als filmisch.

Auch Eisensteins Begriff der Attraktionsmontage hat Geschichte geschrieben. Sein Text "Montage der Attraktionen" gehört fest zum Kanon der Filmwissenschaftler. 1923 verfasst, stammt er allerdings noch nicht von dem Kinopionier, sondern von dem Theatermacher Eisenstein. Unter anderem anhand seiner Inszenierung von "Der Gescheiteste" erklärt er seine Regiemethode. Seine Theaterarbeiten versteht er als Montage einzelner Nummern. Diese "Attraktionen" sind nach Eisenstein "aggressive Momente", die "den Zuschauer einer sinnlichen oder psychologischen Einwirkung“ aussetzen. Das Stück ist nur noch Grundlage der Inszenierung, der Zirkus wird zum Vorbild. Das von ihm vertretene "Agit-Attraktionstheater" steht damit im krassen Gegensatz zum "abbildend-illusionistischen Erzähltheater" jener Zeit, dem sich selbst vermeintlich progressive Künstler verschrieben.

Theater genügt nicht

Nimmt man Sergej Eisensteins Regalmeter füllende Schriften zur Hand, bestehend aus theoretischen Aufsätzen, Vorarbeiten zu Film- und Theaterinszenierungen, Skripten zu Vorträgen, Erinnerungen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, stößt man auf kaum einen Begriff so häufig wie diesen: Theater. Seine Memoiren geben Zeugnis davon, wie seine Seherfahrungen an russischen Bühnen ihn nachhaltig geprägt, seinen eigenen Umgang mit Farbe, Text und Dramaturgie bestimmt haben. Ohne Zweifel handelt es sich dabei jedoch vorrangig um die Eindrücke des jungen Mannes Eisenstein. Seine Leidenschaft für das Theater sollte in der Folge allmählich abkühlen, aber nie ganz erlöschen. Die Auseinandersetzung mit dem japanischen Kabuki- und Nō-Theater beispielsweise, das auch auf Bertolt Brecht, wie Eisenstein 1898 geboren, maßgeblichen Einfluss hatte, füllt unzählige Seiten und bleibt lebenslanger Bezugspunkt.

Demgegenüber stehen Eisensteins Polemiken gegen das Theater als einer Kunstform ohne Bezug zur Gegenwart. Das Schauspiel wird ihm – anders als etwa der von ihm verehrte Zirkus – zur Chiffre für Rückständigkeit. Ein Gegenbild dazu findet er im Tonfilm, also der höchsten technischen Stufe der Kinematografie, die ihm zudem die Möglichkeit zur Erweiterung seiner Montageversuche um ein weiteres Element gibt. Diese Zuordnung – fortschrittlicher Film, rückschrittliches Theater – klingt reichlich dogmatisch. Doch Eisenstein war weiterhin empfänglich für ästhetische Herausforderungen, für eine wirklich zeitgenössische Kunst, egal, wo sie zu finden war. So konnte er auch die Charakteristika des Films, die ihn so elektrisierten, in Bildender Kunst, Literatur und eben Theater vorweggenommen sehen. Und so erahnte er beispielsweise im Kabuki "jene radikalen Versuche im Theater, wo das Theater schon nicht mehr Theater ist – sondern Film. Überdies Film auf seiner letzten Entwicklungsstufe, nämlich: Tonfilm."

Sadanji Ichikawa II and Sergei EisensteinEisenstein mit dem japanischen Kabuki-Schauspieler Sadanji Ichikawa II (links), 1928

Der verbreiteten Ansicht, Eisensteins Versuche am Theater seien nichts als die Vorarbeit zu einem bahnbrechenden filmischen Werk gewesen, widerspricht der Umstand, dass er 1940 noch einmal hinter dem Regiepult Platz nahm. Was ihn offenbar mehr interessierte als die Frage nach Gattungsgrenzen, waren monumentale Stoffe, großzügige Produktionsmittel und technische Möglichkeiten. So verfing das von oberster Stelle vorgetragene Angeobt, Richard Wagners "Walküre" am Moskauer Bolschoi-Theater zu inszenieren. Es war ein pikantes Unterfangen: Zur Zeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts war es an dem aus einer jüdischen Familie stammenden Kommunisten Eisenstein, Hitlers Lieblingskomponisten auf die Bühne zu bringen. Wagners Vision eines Gesamtkunstwerks musste der Idee von der Synthese der Künste weichen, wie Eisenstein sie vertrat.

Brünnhilde leistete Widerstand

In seiner Inszenierung nahm er eine antifaschistische Umwidmung des "Walküre"-Stoffs vor. Wotan, der die Herrschaft des bloßen Gefühls verkörpert, und Fricka, Sinnbild der sich herausbildenden Klassengesellschaft, stehen beide im Zeichen des Faschismus. Brünnhilde wiederum repräsentiert den Widerstand gegen den reaktionären Geist, sie setzt ihm Menschlichkeit und Mitgefühl entgegen. Aber es blieb nicht bei der inhaltlichen Verschiebung, Eisenstein wusste, wie er sich monumentale Stoffe auch formal zu eigen machen konnte. In seinen Notaten zu der Theaterarbeit hielt er fest: "Die Bühne – ist eine handelnde Person, as well as the actor", und weiter: "Eine spielende Bühne, mit einem spielenden Menschen inmitten, der durch die Horde multipliziert ist. Die Bühne soll das Antlitz der Realität zeigen, gesehen von den Augen des Animisten – in einer Konzeption des Bewusstseins, die noch im Stadium des komplexen Denkens ist." In Anlehnung an das traditionelle japanische Theater hat Eisenstein den Sängerinnen und Sängern Pantomimen beigestellt und so Gesang und Spiel voneinander getrennt, um die Statik, die der Oper eigen ist, aufzubrechen.

Seinem Text "Eine ungenähte Naht", einem Essay von 1928 über avanciertes Theater und die Zukunft des Films, stellte Eisenstein als Motto eine Anekdote über Givoquini, einen Komiker am Moskauer Maly-Theater, voran. Der sei kurzfristig verpflichtet worden, in einer Oper für einen berühmten Bass einzuspringen, obwohl er keine Stimme hatte. Danach gefragt, wie er den Auftritt zu bewerkstelligen gedenke, habe er geantwortet: "Wenn ich eine Note mit der Stimme nicht schaffe, dann zeige ich sie eben mit der Hand." Ein solcher Rat, ganz im Geiste Brechts, ist vielleicht ein Schritt hin zu einer darstellenden Kunst, die wieder Gegenwart atmet. Oder – mit Eisenstein gesprochen: So könnte Tonfilm auch im Theater wieder stattfinden.

Erik Zielke, 1989 in Bergen auf Rügen geboren, hat Buchwissenschaft und Slawistik sowie Osteuropastudien in Mainz und Berlin studiert. Seit 2021 ist er Theaterredakteur beim "nd". Von 2014 bis 2021 arbeitete er als Lektor im Verlag Theater der Zeit und war darüber hinaus als freier Theaterkritiker tätig.

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