Tradition und Abgrenzung

20. Januar 2023. Zwei Paare, zwei Generationen – und 135 Minuten Text vor abstrakter Kulisse: Sehr stückdienlich inszeniert Elias Perrig die deutschsprachige Erstaufführung von Anna Zieglers Familienmelodram über ultraorthodoxe chassidische Juden in New York. Ein Wagnis, gerade fürs Privattheater.

Von Falk Schreiber

Anna Zieglers "The Wanderers" am Ernst Deutsch Theater Hamburg © Oliver Fantitsch

Hamburg, 19. Januar 2023. Zwei Paare. Esther und Schmuli kommen aus einem streng religiösen Umfeld, ihre Beziehung ist arrangiert, an Lust, Verausgabung, Emanzipation ist nicht zu denken, selbst Musik gilt als sündig. Glücklich sind sie nicht.

Abe und Sophie haben die religiösen Gebote hinter sich gelassen, nicht aber die kulturelle Prägung. Glücklich sind sie auch nicht. Esther und Schmuli sind die Eltern von Abe, und die Traditions- und Abgrenzungslinien in diesem Millieu, die Anna Ziegler mit ihrem Stück "The Wanderers" nachzeichnet, erfahren aktuell eine über die USA hinausreichende Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch die erfolgreiche Netflix-Serie "Unorthodox".

Konzentriert auf den Text

Die Deutschsprachige Erstaufführung des 2018 in San Diego uraufgeführten Textes "The Wanderers" besorgt Elias Perrig am privaten Hamburger Ernst Deutsch Theater, mit einer auf den Text konzentrierten Inszenierung, die gar nicht den Eindruck erwecken will, als ob sie woanders als in Williamsburg spielen würde. Was ehrlich ist, die Aufmerksamkeit des Publikums aber auf eine gewisse Probe stellt. Wenn da etwa ein Mensch mit Schläfenlocken, Rekel und schwarzem Hut auf der Hamburger Bühne steht, dann ließe sich das leicht als (womöglich auch anti- oder philosemitischer) Exotismus lesen.

The Wanderers3 Oliver Fantitsch uGlücklich sind sie nicht: Ines Nieri und Julian M. Boine als Esther und Schmuli sowie Elzemarieke de Vos als Julia Cheever und Gideon Maoz als Abe © Oliver Fantitsch

Perrig allerdings traut den Zuschauer*innen die Transferleistung zu, das Gezeigte als spezifische Verortung unter New Yorker Satmarern zu zeigen. Immerhin – wenn man diesen Transfer vollzieht, dann erweist sich "The Wanderers" als kluge Überlegung zu Verstrickungen und Abgrenzungen zwischen den Generationen, die gar nicht primär aufs Judentum beschränkt sein muss. Aber darauf einlassen, das sollte man sich schon.

Zug ins Spröde 

Ohnehin ist "The Wanderers" ein Wagnis für ein Privattheater. Das Ensemble spielt mit Verve, allerdings fehlt der an diesem Haus gern besetzte "Star" aus Film und Fernsehen, der ein großes Publikum ziehen könnte. Vor allem aber: Perrig inszeniert geschickt und stückdienlich, aber nicht auf die (durchaus vorhandenen) Gags hin, selbst der inhaltliche Twist, der Teile des Geschehens als literarische Imagination outet, wird nicht als besonderer Knalleffekt aufgebaut. Das ist als Erstaufführung, die das Erzählte nicht beschädigen möchte, nicht unsympathisch, verschafft dem Abend allerdings auch einen Zug ins Trockene, Spröde. Im Grunde besteht diese "The Wanderers"-Inszenierung aus 135 Minuten Text vor abstrakter Kulisse (Ausstattung: Marsha Ginsberg), das will erst einmal verarbeitet werden.

Gideon Maoz in der Rolle des Abe und Jane Chirwa in der Rolle der Sophie stehen am17. Januar 2023 während einer Probe zu dem Stück „The Wanderers“ von Anna Ziegler auf der Bühne des Ernst Deutsch Theaters. Die Premiere in der Regie von Elias Perrig ist am 19.01.2023 im Ernst Deutsch Theater in Hamburg. © Oliver Fantitsch, PF 201723, D-20207 HH, Deutschland, Tel: 040/562448, Tel: 0163/5405849, oliver@fantitsch.de, UST-ID: DE118809982, ---Weitere Bilder, auch in High-Res, im Internetarchiv unter www.fantitsch.de recherchierbar---               Ein Abend der Schauspieler*innen: Jane Chirwa als Sophie und Gideon Maoz als Abe © Oliver Fantitsch

Dass das funktioniert, liegt nicht zuletzt an den Schauspieler*innen. Ines Nieri als Esther: ein gar nicht mehr ganz junges Mädchen, das schon in den ersten Minuten erkennen lässt, dass es nicht so verschüchtert ist, wie es die Tradition von ihm verlangt. Jane Chirwa als Sophie: eine selbstbewusste Frau von heute, die mit trockenem Humor ("Wie viele Menschen können schon das Erbe des Holocaust UND der Sklaverei für sich beanspruchen?") überspielt, dass ihr Selbstbewusstsein vielleicht gar nicht zu 100 Prozent gerechtfertigt ist. Gideon Maoz als Schriftsteller Abe: der literarische Bezug, der die Architektur des Stücks immer wieder zu hinterfragen weiß. Julian M. Boine als Schmuli: ein Konservativer, der sich selbst immer wieder nach einem Ausbruch aus den Traditionen sehnt. Selbst Elzemarieke de Vos schafft es, die undankbare Rolle als Abes Objekt der Begierde Julia mit Leben zu erfüllen. Und sei es, indem sie an einer Stelle den Blick des Hamburger Publikums auf die fremde Welt der Satmarer doppelt. "Ach, das ist also eine chassidische Jüdin?", fragt sie übergriffig-interessiert mit Blick auf Esther, und das ist schon hübsch bösartig.

Raffinierte Ausprägung eines Thesenstücks

Was bei dieser bewusst unspektakulären Inszenierung ein bisschen untergeht: dass Zieglers Vorlage mehr bereithält. Dass man es hier eigentlich mit einer ziemlich raffinierten Ausprägung des Thesenstücks zu tun hat, die zunächst als Schwank daherkommt und dann als Familienmelodram, um sich am Ende als Meta-Theaterliteratur zu entpuppen. Das allerdings interessiert Perrig nicht, er erzählt eine tragikomische Geschichte aus New York, mit tollen Schauspieler*innen in einem aufs Nötigste beschränkten Setting. Das ist ehrenwert, aber vielleicht verpasst der Abend damit auch den eigentlichen Reiz des Stücks.

The Wanderers
von Anna Ziegler
Deutsch von Stefan Kroner
Regie: Elias Perrig, Ausstattung: Marsha Ginsberg, Dramaturgie: Stefan Kroner.
Mit: Julian M. Boine, Jane Chirwa, Elzemarieke de Vos, Gideon Maoz, Ines Nieri.
Premiere am 19. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.ernst-deutsch-theater.de 

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Elias Perrig entwirft ein feines Figuren-Mobile, in einer fantastisch klaren Bühne: Marsha Ginsberg hat einen schneeweißen, nach hinten sich verjüngenden Zeit-Tunnel geschaffen, vor dem sich die Figuren wie Scherenschnitte abheben", berichtet Peter Helling im NDR (20.1.2023). "Die jüdische Religion durchdringt die Handlung dieses erst fünf Jahre alten Stückes der US-amerikanischen Dramatikerin Anna Ziegler, die selbst reformierte Jüdin ist. Jede Figur auf der Bühne setzt sich damit auseinander. Weltlich oder streng religiös? Wie lebt man richtig?"

Dieses Stück "ist für eine private Bühne wie das Ernst Deutsch Theater ein ambitioniertes, aber geglücktes Unterfangen, dem man viele Zuschauer wünscht", sagt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (21.1.2023). "Anna Ziegler hat das Stück klug gebaut, und Elias Perrigs konzentrierte Regie hilft, sich in den Themenkomplexen Religion, Paarbeziehung und Generationenkonflikt zurechtzufinden. Das durchweg tolle Ensemble bricht das Thesenhafte des Stückes mit wohldosierter Dynamik auf. Als Zuschauer gewinnt man Einblicke in eine vielschichtige Welt, die den meisten unbekannt sein dürfte."

Das "dialoglastige, handlungsarme Stück" verlange "einiges an Aufmerksamkeit" ab, merkt Brigitte Scholz von der Hamburger Morgenpost (21.1.2023) an, findet aber lobende Worte: "Glänzend steigert das Ensemble in der ausgefeilten Inszenierung (Regie: Elias Perrig) die Spannung - und liefert wohl jedem Denkanstöße, sich mit Familientradition, kulturellem Erbe und den wunden Punkten im eigenen Leben zu befassen."

Kritischer sieht Britta Schmeis von der Welt (20.1.2023) die Produktion: "Es sind viele Themen, die sich das Stück der amerikanischen Autorin Anna Ziegler vornimmt, manchmal zu viele. Und nicht immer funktionieren sie in der Inszenierung von Elias Perrig, der viel auf Humor und plakative Bilder setzt." Im zweiten Teil des Abends entwickele die "Geschichte eine dramatische Dynamik, schlägt Volten, die ihr nicht nur guttun, sondern die Fäden nach und nach zusammenführen. Doch so recht will sie nicht funktionieren."

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