Vom Varieté verarscht und verführt

20. Januar 2023. Anschnallen bitte, noch ein bisschen Morphium in die Venen, und dann geht's los. Auf eine aberwitzige Tanztour durch Theaterwelt und Showbiz. Choreographin Constanza Macras und ihre Kompagnie DorkyPark triumphieren mit einem Abend über Mythen und Macht im Theater.

Von Stephanie Drees

"Drama" von Constanza Marcras und DorkyPark an der Volksbühne Berlin © David Baltzer

20. Januar 2023. Eben war noch große Show. Da waren Tänzer:innen in glitzernden Bikinis, mit silberfarbenen Revue-Kronen auf den Köpfen, aus denen üppige Federsträuße wachsen, mit wippenden Perlenstrang-Gürteln, mit schimmernden Stufenärmeln und nahezu perfekter Körperbeherrschung. Sie schmissen die Beine grazil in die Luft wie Can-Can-Tänzer:innen, sie hoben die Arme in grazilen Ballett-Posen – in einer Varieté-Bewegungsfusion aus Samba, aus orientalischem Tanz, aus pharaonischem Phantasietanz, und… und…

Und dann ist da plötzlich eine Frau auf und vor dieser Showtreppe, ganz allein auf der Bühne. Die Beine knicken ihr weg, der Boden zieht ihre Unterschenkel an sich, als wolle er sie fressen. Der Rumpf im grünen Puppenkleid verdreht sich dabei, ihr Körper scheint nicht ganz ihr zu gehören, das Gesicht maskenhaft, die Bewegungen mal flüssig, mal ruckelnd. Dann läuft sie die Showtreppe rückwärts herunter, der Oberkörper nach vorne gebogen, die Hände tasten über die Stufen, der Unterleib folgt, der Kopf schaut zwischen den Armen hervor. Reminiszenzen an den legendären Treppenlauf des Mädchens aus "Der Exorzist" in der Hochphase ihrer Besessenheit. Wunderschön und hochgradig creepy.

Querfeldein durch den Dramenkanon

Regisseurin und Choreographin Constanza Macras fährt mit ihrer Kompagnie "DorkyPark" an diesem Abend einiges auf. Der Titel verheißt: Es wird big. "Drama" öffnet die Tür zu gleich mehreren Welten: Da sind die großen Mythen und Dramenerzählungen der westlichen Kulturgeschichte, die hier in bewegungsintelligenten Slapstick-Nummern verwurstet werden. Eine ödipale, Federball spielende Familie ist dabei, Antigones Schicksal wird thematisiert, eine ganze Telenovela in Kurzform mit Playmobilfiguren-Personal aufgeführt. Die steifen Glieder machen Umarmungen in der Sippschaft fast unmöglich.

Und gleich zu Anfang: ein grandioses Shakespeare-Medley mit illustrem Personal. In mechanischen, abgehackten Bewegungen – man kennt sie schon aus vorherigen Macras-Produktionen, es ist, als würde man Figuren in einem Leben mit zu wenig Bandbreite zuschauen – sterben, morden, lieben, leiden Ophelia, Romeo, Richard III. und einige andere. Wie diese Erzählungen vom Pop verschluckt wurden und er sie in verschiedenen Varianten immer wieder hochwürgt – auch davon erzählt der Abend.

Drama5 David Baltzer uZwischen Shakespare, Rock'n'Roll und La Revisita Argentina: DorkyPark mit Varieté und vertikaler Akrobatik © David Baltzer

Und dann ist da noch das Showbiz, das hier vor allem in der zweiten Hälfte in Bildern voller schillernder und dunkler Schönheit gefeiert, verdaut und ab und an verdammt wird. Wir sehen Varieté mit Vertikal-Akrobatik, da hängen Götterväter vom Himmel, da ist die große Revue des vergangenen Jahrhunderts – und die der Jetztzeit. Macras und ihr Team erinnern an "La Revista Argentina", eine Theatergattung zwischen Kabarett und Revue im Argentinien der 1920er und 1930er Jahre. Den Vendetten, den großen weiblichen Stars dieser Zeit, wird gehuldigt.

Todkranker Revuetanz

"In Nélidas allerletzter Revue kam das Rote Kreuz und spritze ihr Morphium, damit sie auftreten konnte. Sie setzte ihr mechanisches Lächeln auf, der Vorhang öffnete sich und sie betrat die Bühne", erzählt ein Performer über eine der großen Revuelegenden, die ihre letzten Shows, schon schwer an Krebs erkrankt, nur noch mit dem Medikament in den Adern tanzen konnte.

Wie viel Showgirl-Garn in einigen von Nélidas Erzählungen steckt, wenn sie vom großen Auftritt erzählt, wissen wir nicht ("Sie sagte, es wird immer jemanden geben, der dich umbringen will"), klar ist aber: Macras dreht mit ihrem Team die ganz große Runde um die Ausbeutung des Ichs. Physisch wie psychisch. Tänzer:innen, die Produktionen mit ihrer Kunst bereichern, werden oft schlechter bezahlt als Schauspieler:innen, nicht-weiße Tänzer:innen schlechter als weiße, Frauen mitunter schlechter als Männer. Der Tanz ist divers, die Branche mitunter knallhart-patriarchal.

Drama1 David Baltzer uTanz vor der Showtreppe: Constanza Macras' Kompagnie DorkyPark performt im Bühnenraum von Simon Lesemann © David Baltzer

Und Tänzer:innen beuten sich eben auch selbst aus, akzeptieren den miesen Vertrag, schlucken die Manipulationen derer, die in Machtpositionen sind. Die Strukturen sind in Bewegung, verändern sich, da schneller, dort langsamer. Wenig davon ist neu, und auch die Texte sind an diesem Abend in vielerlei Hinsicht wenig überraschend. Der typische Macras-Kniff, er geht auch hier auf: Die Schönheit der Bewegung, die Hingabe, die Kraft der Tänzer:innen und Performer:innen, sie verführt. Trotzdem.

Popkultur und Mythen-Mash-up

"In this business, I don't have to care about you and you don't have to care about me. If you can't follow that follow this: you want to dance here you follow my rules", knallt der Regisseur einem kurzzeitig revoltierenden Tänzer gegen den Kopf. Dann muss es weitergehen, the Show usw. … Und das tut es bei Macras: in Gruppenbildern voller tänzerischer Präzision, in der Chorus Line, in grellen 1980er-Jahre-Leggings und glänzenden Bodys an den Bodys, in Strecksprüngen und grazilen Auf- und Abgängen auf der Showtreppe, die ihre Stufen wie von Zauberhand einklappen und zur rutschigen Rampe werden kann. "Fame" heißt der Titel eines berühmten Tanzfilms, auf den sich Macras hier bezieht. Die Bühne birgt auch das große Versprechen des (vermeintlichen) sozialen Aufstiegs, das tut sie nach wie vor für viele.

Die ganze Show ist Revue, wie fast immer bei der Truppe ist sie Popkultur- und Mythen-Mash-up – mehr noch als ihr letzter, ebenfalls schnell geschnittener Abend "The Future", der auch an der Volksbühne premierte. Kapitalismus-Kritik war dort das große Thema, nun ist mit "Drama" das Theater selbst dran. Es hat diesen Abend im besten Sinne verdient.

 

Drama
von Constanza Macras | DorkyPark
Regie, Text und Choreographie: Constanza Macras, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Bühne: Simon Lesemann, Kostüme: Eleonore Carrière, Musik: Robert Lippok, Beleuchtung: Hans-Hermann Schulze, Dramaturgie Volksbühne: Sabine Zielke, Live-Musik: Katrin Schüler-Springorum, Lucas Sofia.
Von und mit: Candaş Bas, Alexandra Bódi, Emil Bordás, Campbell Caspary, Fernanda Farah, Moritz Lucht, Thulani Lord Mgidi, Knut Vikström Precht, Miki Shoji, Shiori SumikawaGäste: Carmen Burguess, ok!choir.
Eine Koproduktion mit Constanza Macras | DorkyPark
Premiere am 19. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden, 15 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

"Muss der Friedrichstadtpalast zittern? Die Volksbühne wird mehr und mehr zum Revuetheater", ruft Rüdiger Schaper durchaus mit Gefallen im Tagesspiegel (21.1.2023) aus. Gegenüber den "brutalen Kreationen der Florentina Holzinger" sei Constanza Macras' Tanztheater "spielerischer“, aber auch sie "liebt das Zirzensische"; die "Energie der zehn Tänzerinnen und Tänzer wirkt enorm. Wie ein Antidepressivum in diesem Winter, der in Berlin ja so gut wie immer ein Winter des Missvergnügens ist."

In der Berliner Zeitung (21.1.2023) sagt Ulrich Seidler kurz und knapp: "Der Abend ist großartig, weil das herrlich heterogene Ensemble großartig ist (…)." Die Inszenierung "wechselt munter die Erzählweisen, Macras greift viele ihrer erprobten Ideen wieder auf. Es gibt die Daily-Soap-Roboter, die zu atmender Elektromusik von Robert Lippok durch Eifersuchtskonstellationen rattern, Playmobil-Sequenzen mit Mord und Totschlag, Musicaleinlagen, frontales Revuegeschmetter, mit ordentlich Schmachtsaft gesungen und live begleitet von Katrin Schüler-Springorum und Lucas Sofia, viel schönen Sport, ein paar Kolonialismus- und Machtmissbrauchsreflexionen (…)."

"Eine Liebeserklärung an das Leben wie die Kunst. Großes Tanztheater, das seinesgleichen sucht", jubelt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (21.1.2023). "Drama" sei "eine sachkundige, bitter ernst gemeinte, oft urkomische Zeitgeist-Revue. Ein getanzter, gespielter, gesungener Befund gesellschaftlicher Zustände: Wie die Menschen mit sich selbst und miteinander auskommen hinter den digitalen Glitzerfolien der Welt".

Ulrike Borowczyk resümiert in der Berliner Morgenpost (21.1.2023): "Die schillernde Show ist so überzogen, dass die Zuschauer permanent leicht überfordert sind. Ein Seitenhieb auf die heutige Event-Kultur, bei der Inhalte sogar im Theater zulasten des schönen Scheins gehen. Beste Unterhaltung, die sich im gleichen Atemzug sattironisch kritisiert."

"Choreografin Constanza Macras tuschiert in 'Drama' sämtliche gesellschaftliche und individuelle Dramen. Szenisch und tänzerisch einfallsreich, meint unsere Kritikerin, aber inhaltlich dünn. Sie hätte sich einen 'echten dramatischen Moment' gewünscht", so fasst Deutschlandfunk Kultur (20.1.2023) den Bericht von Elisabeth Nehring in der Sendung "Fazit" zusammen.

"Die Pointe ist, wie Macras beides auskostet und vorführt, den Spaß an der Show und den Ekel davor, wie das Dauerdelirium der Unterhaltungsindustrie die Gefühle und Bilder im Kopf besetzt, bis sich das Leben anfühlt wie sehr schlechtes Privatfernsehen. Deshalb ist ihre Inszenierung beides, ein großer Spaß und ein Versuch, darüber nachzudenken, ob nicht schon längst das gesamte Leben zu einer Show geworden ist, allerdings zu einer eher zwanghaft manisch-depressiven, keiner besonders fröhlichen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2023).

Kommentare  
Drama, Berlin: Überangebot am Mitteln
Kleine Nummer reiht sich an kleine Nummer, jede einzelne gekonnt präsentiert, aber das Manko des mehr als zwei Stunden langen, "Drama" überschriebenen Abends ist, dass der rote Faden fehlt. Turbo-Tempo und Spielwitz prägen seit mehr als zwei Jahrzehnten die meisten Constanza Macras-Inszenierungen, aber diesmal wird über weite Strecken nicht klar, worauf die Choreographin hinauswill. Kurze Auftritte haben noch die in Berlin lebende argentinische Sängerin Carmen Burguess und der ok!choi-Chor, das Überangebot an Theatermitteln, die Macras auffährt, und an Stilen, die sie zitiert, ist nicht mehr als eine Stoffsammlung, der sichtlich der dramaturgische Schliff fehlt.

In der zweiten Hälfte des langen Abends schält sich mit der Hommage an das „La Revista Argentina“-Genre aus der Heimat von Macras ein dominantes Thema heraus. Mit tollen Kostümen von Eleonore Carrière und begleitet von den Live-Musiker*innen Katrin Schüler-Springorum, Lucas Sofia bespielt DorkyPark die Showtreppe. Ernste Themen wie die Ausbeutung junger, oft migrantischer Tänzer*innen in Tournee-Produktionen, prekäre Bezahlung und der Druck, sich auch krank getreu dem Motto "The show must go on" auf die Bühne zu schleppen, werden kurz angetippt. Aber schon folgt das nächste Pop-Zitat und die übernächste Comedy-Nummer an einem Abend, der vielen im Publikum in seiner unbeschwerten Revuehaftigkeit Spaß machte, aber inhaltlich doch dünner bleibt als bessere Macras-Arbeiten

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/20/drama-constanza-macras-volksbuhne-kritik/
Drama, Berlin: Riesenspaß und Kartenkauf
Liebe Frau Drees,
ich beneide Sie um Ihren Beruf. Es macht einen riesenspaß, Ihre Kritik zu lesen. Sobald der Chef mich nicht beobachtet, kaufe ich Karten.
Drama, Berlin: Zeitverschwendung
Nach 20 Minuten weiß man bereits, worum es geht, und die nächsten 2 Stunden sind reine Zeitverschwendung. Viel Feuerwerk, wenig Substanz.
Drama, Berlin: Kein Volksbühnen-Standard
Eine Nummernrevue, leider auf sehr mittelmäßigem Niveau. Die Choreografien sind nett anzuschauen. Gesang, Band und Sound nicht auf Profiniveau. Insgesamt kein Volksbühnen-Standard.
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