Aus dem Sumpfland der Unterbühne

21. Januar 2023. In Lars von Triers legendärer Krankenhausserie "Das Reich" aus den 1990er Jahren kreuzen Geister der Toten die Wege der Lebenden. Jetzt läßt Jan-Christoph Gockel sie das Theater entern.

Von Reinhard Kriechbaum

"Das Reich: Hospital der Geister" nach Lars von Trier am Schauspielhaus Graz © Lex Karelly

21. Januar 2023. Assistenzarzt Krogen verlässt das Krankenhaus erst gar nicht mehr. Er hat im Keller, sprich in der Unterbühne im Schauspielhaus Graz Logis genommen. In einem Regal hat er einen Miniaturfriedhof eingerichtet aus Blumentöpfen und Grabkerzen – die Kunstfehler, von denen ja doch ein jeder seiner Kollegen mal einen begangen hat. Daneben verdampft Krogen, der Beschaffungs- und Umverteilungs-Spezialist von dänisch-aerarischem Krankenhaus-Material, Tinkturen. Ein schönes Häufchen Stoff hat er so schon angehäuft.

Geister aus der Vergangenheit

Krogen ist nur eine Nebenfigur im "Hospital der Geister" in Lars von Triers legendärer Rocky Horror Picture Show im morastigen Klinik-Umfeld aus den 1990er Jahren, die der Däne erst jüngst wiederbelebt, also um eine dritte Staffel bereichert hat. Sie wurde im September des Vorjahres in Venedig aus der Taufe gehoben. Aus den ersten beiden Mini-TV-Serien sind damals ganz rasch Filme geworden, Kultfilme. Die Zusammenschnitte und Synchronfassungen gäben jetzt schon reichlich Material für Quellenforscher her. Nur: Auf der Bühne ist das "Hospital der Geister" noch nie gelandet.

Zumindest für den deutschsprachigen Raum betritt Jan-Christoph Gockel damit nun also Neuland, und man ahnt schon: Dem Publikum im Grazer Schauspielhaus wird Sitzfleisch abverlangt, so wie einst jenem auf der Fernsehcouch oder im Kino. Vier Stunden lang gilt es zuzusehen dem Treiben des Klinikpersonals aus Kopenhagens Vorzeige-Reichskrankenhaus ("Das Reich" war Lars van Triers Originaltitel), den unversehens auftauchenden Geistern der Vergangenheit, die zu solchen der Gegenwart mutieren, und den Umtrieben einiger Patienten, die ihrerseits Ärzte und Geister vor sich hertreiben.

Handkamera und Retro-Flair

Julia Kurzweg hat die Bühne ausgeräumt und erweitert in den Untergrund, in einer Szene sogar bis ins Theaterbuffet. Dorthin überall folgt die Live-Kamera den Schauspielern. Eine kleine Box aus Glasziegeln, ein paar Liftschächte führen in den Unterboden. Im zweiten Teil nicht mal das. Da sind Requisiten gar nicht mehr nötig, Menschen und Geister (hier: Puppen) sind auf sich selbst zurückgeworfen. Sogar die Handkamera bleibt zuletzt außen vor.

ReichHospital3 1000 LexKarellyMenschen und Geister: Beatrice Frey und Puppe Marie © Lex Karelly

Ist es eine Herausforderung des Schicksals, Lars von Trier zu paraphrasieren, das filmische Story-Konglomerat auf einer Bühne zu konkretisieren? Ja und nein. Jan-Christoph Gockel bleibt nah dran am filmischen Original. Das berühmte Dogma-Manifest haben die Filmemacher Lars van Trier und Thomas Vinterberg 1995 veröffentlicht, es liegt also zeitlich genau zwischen den ersten beiden Teilen des "Hospitals der Geister". Da drängt sich die dort vorgeschriebene Handkamera-Technik auch für die Bühne auf, und Jan-Christoph Gockel setzt dabei auf archaisches Gerät aus den 1990er Jahren. Das schafft Retro-Flair.

Der Regisseur erzählt den Film, erlaubt sich nur dosiert Freiheiten. Er schärft ein wenig nach, indem er beispielsweise auf Inklusion setzt: Zwei Menschen mit Behinderung holt er auf die Bühne, die blinde und gehörlose Tanja Hameter als "Patientin und Medium" und Florian Finsterbusch (einen jungen Mann mit Down-Syndrom), für verschiedene Rollen. So mutiert der Klinik-Hausmeister unter anderem zum Gesundheitsminister, sogar zum Gevatter Tod. 

Akuratesse und Aufmerksamkeit

So rätselhaft die Verschränkung von Krankenhaus-Soap-Opera und Gruselgeschichte im "Hospital der Geister" daherkommt: Die Geister, die da umgehen, sind ja unzweifelhaft auch die Selbstzweifel der Ärzte am eigenen Handlungsvermögen. Gesundheitswissenschaft, medizinischer High-Tech und Empathie gehen bekanntermaßen nicht immer gut zusammen, und an den Reibungs- und Wundstellen finden unwillkommene Geister offene Türen. Nach drei Jahren Pandemie-Bekämpfung bei zunehmender Antiwissenschafts-Schwurblerei darf Lars von Trier sich ja fein bestätigt fühlen mit seinem "Hospital der Geister"-Oldie. In diese Richtung schärft der Regisseur in Graz im Detail immer wieder nach.

So durchgehend handverlesen wie im Film kann eine Besetzung mit einem ziemlich komplett geforderten Theaterensemble kaum wirken, aber als Ganzes schlägt sich die Grazer Bühnencrew beachtlich. Es ist ja ganz schwer in Haupt- und Nebenrollen zu gliedern, mit Akkuratesse und Aufmerksamkeit wurden Charaktere durchgeformt. Dem im Einzelnen zu folgen, hat man über die vier Stunden ausreichend zu tun, ohne dass sich nennenswerte Ermüdung, Niedergeschlagenheit gar einstellte. Respekt vor dem Ganzen also.

ReichHospital1 1000 LexKarellyDer Schnitter Tod im Anmarsch © Lex Karelly

Den Vogel schießt immer wieder Beatrice Frey ab, die als dominante Mutter, notorische Hypochonderin und selbsternannte Geister-Aufdeckerin in der Rolle der Sigrid Trusse die Lacher und Sympathien stets auf ihrer Seite hat. Auf der anderen Seite: Franz Solar als Stig Helmer, der Dänen-Hasser als Oberarzt in dänischen Super-Klinikum. Nicht unbedingt ein Sympathieträger, aber gewiss bemitleidenswert in seiner Selbst-Gefangenheit. Florian Köhler als Neurochiurg Krogen (jener im Keller) macht die Medizin menschlich, so wie Lisa Birka Balzer, die junge Assistenzärztin Judith, die schließlich das Monster "Brüderchen" gebiert. In den Szenen vor allem mit den beiden Letztgenannten wird all die Un-Geisterei entlarvt, da bekommt "Das Reich" sehr humane Züge.

Runderneuerte Sicht

Und der Urvater des Bösen, Åge Krüger, Klinikchef vor hundert Jahren, der dort seine uneheliche Tochter ins Jenseits befördert hat? Das ist der Schauspieler, Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch. Gut gemacht ist das – aber freilich, da kommt das Theater mit dem Film nicht mit. Trotz aller Meriten dieser Produktion, trotz der behutsam runderneuerten Sicht auf die doppelbödige Story des Lars van Trier geht man nach den vier Stunden nicht mit der Überzeugung aus dem Haus, dem "Hospital der Geister" gehöre nun auch der Bühne. Der Grusel zumindest funktioniert im Film alleweil besser.

Das Reich: Hospital der Geister
nach der Fernsehserie von Lars von Trier und Niels Vørsel
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Sophie du Vinage, Puppenbau: Michael Pietsch, Musik: Matthias Grübel, Video: Eike Zuleeg, Licht: Thomas Trummer, Dramaturgie: Karla Mäder.
Mit: Lisa Birke Balzer, Oliver Chomik, Florian Finsterbusch, Beatrice Frey, Tanja Hameter, Claudia Wolf-Straubinger, Florian Köhler, Alexej Lochmann, Raphael Muff, Yves Ndagano, Matthias Ohner, Michael Pietsch, Evamaria Salcher, Andri Schenardi, Franz Solar, Susanne Konstanze Weber, Rudi Widerhofer sowie Timo Neubauer (Live-Kamera).
Premiere am 20. Januar 2023
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com

 

Kritikenrundschau

Der "böse Manierismus des nachmaligen 'Dogma'-Künstlers und Teufelsbeschwörers" Lars von Trier müsse sich "auf dem Weg in die Steiermark in alle Himmelsrichtungen verflüchtigt haben", konstatiert Ronald Pohl im Standard (22.1.23). Regisseur Jan-Christoph Gockel habe "seine bunt und inklusiv zusammengewürfelte Truppe zu einem gutgemeinten Dauergrinsen verpflichtet". Zwar nehme der Abend "wunderbar, auch humorig Fahrt auf", findet der Kritiker. Aber: Letztlich frage man sich "ernstlich, wer oder was Regisseur Gockel und sein Team zu dieser liebenswürdigen Ausgrabung aus dem VHS-Kassettenzeitalter inspiriert haben könnte". Alles sei "stimmig" – und erinnere "in unbedingter Werktreue an den hoch kontaminierten Ausgangsstoff, ohne darüber waghalsig zu werden oder etwas zu riskieren“.

"Die Fassung von Regisseur Jan-Christoph Gockel und Dramaturgin Karla Mäder klebt förmlich an der großartigen Vorlage", schreibt Martin Gasser in der Kleinen Zeitung (23.1.23, €). "Trotz der notwendigen Reduktion von fast zehn auf vier Stunden (inklusive Pause) lässt man kaum einen Handlungsstrang aus." Regisseur Gockel verlasse sich "erst im zweiten Teil auf die Kraft des Theaters" und gieße "die Geschehnisse in eindrucksvolle theatralische Szenen und Bilder".

Ein "fulminantes, sinnliches und für jene, die nicht serienaffin sind, forderndes Bildertheater" hat Martin Behr von den Salzburger Nachrichten (23.1.23, €) gesehen. Das "tolldreiste, slapstickhafte Treiben im surreal-verqueren Hospital" lasse "im Geiste auch die Ästhetik der Theaterpranken Wolfgang Bauer und Christoph Schlingensief auferstehen", findet der Kritiker und konstatiert: "Die vierstündige Aufführung gleicht einem Binge Watching, bloß ohne Fernbedienung" und bleibe "trotz der notwendigen Kürzungen nahe am Serienvorbild".

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