Alte Leier, gut erhalten

22. Januar 2023. In "Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)" griff Elfriede Jelinek 2018 einen Missbrauchsskandal im österreichischen Skiverband auf. Erst mehr als vier Jahre später fand nun die österreichische Erstaufführung des Stücks statt – passenderweise im Skiort Innsbruck.

Von Christa Dietrich

Sara Nunius, Christina Constanze Polzer, Florian Granzner, Tom Hospes, Janine Wegener und Stefan Riedl © Birgit Gufler

22. Januar 2023. Wenn man sich in Österreich schon so lange Zeit lässt, muss zumindest der Premierentermin gut liegen: Vor etwa fünf Jahren hat die ehemalige Skirennläufern Nicola Werdenigg über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt im österreichischen Skiverband in den 1970er- und 80er-Jahren gesprochen. Ein Jahr später erschien Elfriede Jelineks Theaterstück zum Thema. "Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)" wurde im Dezember 2018 am Schauspiel Köln uraufgeführt. Erst jetzt findet die österreichische Erstaufführung statt, in Innsbruck, am Wochenende des Hahnenkammrennens, wo sich der Blick vieler auf den nicht weit entfernten Ski-Ort Kitzbühel richtet.

Jelinek widmete sich in "Schnee Weiß" nicht zum ersten Mal dem (Ski-)Leistungssport und seinen Abgründen: In "Ein Sportstück", uraufgeführt 1998 am Wiener Burgtheater, gelang es ihr, in der Komplexität dieser Thematik den Aspekt der Massenhysterie und Gewalt zum Ausdruck zu bringen. "In den Alpen" (uraufgeführt 2002) und "Schnee Weiß" sind im Grunde Wiederholungen des "Sportstücks", auch wenn darin Vorfälle wie das Unglück von Kaprun mit 155 toten Skisportlern sowie die erwähnten Übergriffe und Vergewaltigungen auftauchen.

Innsbrucker Theaterskandal 1992

Der Literaturnobelpreisträgerin ist die Mehrfachbehandlung des Materials selbstverständlich bewusst, der Untertitel "Die Erfindung der alten Leier" bezeugt ihre Selbstironie. Auch verbindet sie den Sport nicht zum ersten Mal mit der katholischen Kirche und ihrer Machtmissbrauchsgeschichte: Aber die Verwendung von Motiven aus Oskar Panizzas "Das Liebeskonzil" hat nun hier in Tirol bei dieser österreichischen Erstaufführung noch einmal eine besondere Bewandtnis, denn noch im Jahr 1992 war Dominique Mentha mit Anzeigen konfrontiert, als er jenes Stück zu Beginn seiner Intendanz in Innsbruck ansetzte. Vor dem Theater gab es Proteste, drinnen Lacher, wie sie auch jetzt zu hören waren, wenn Jesus (hier mit Dornenkrone und Kreuz) davon spricht, dass in seiner Kirche die Männer oben sitzen oder wenn er zum Schluss kommt, dass sich das Frauenbild in seiner Religion nicht groß verändert hat – "es ist noch immer klein".

Alliterationen schwingen lassen

"Eine Beziehung zu einer 14-Jährigen sollte nicht eingefädelt werden, man sollte zwar nicht am Tor vorbeifahren, aber eben auch nicht einfädeln": Die Kontextverschiebungen in den Stücken von Elfriede Jelinek zu bewältigen, ist stets Aufgabe der Regie. Joachim Gottfried Goller steht in Innsbruck ein Ensemble mit vielfältigen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Es trübt den Anfangsmonolog beziehungsweise den Prosateil ein, wenn Janine Wegener geraume Zeit frontal ins Publikum spricht und dabei keine Möglichkeit hat, den Text vibrieren zu lassen. Schon der Engel von Christina Constanze Polzer, auch der Jesus von Ulrike Lasta oder Gottvater von Stefan Riedl haben dann aber farbige Nuancen und lassen Jelineks Alliterationen und Überblendungen schwingen.

schneeweiss2 1000 BirgitGuflerSara Nunius und Ulrike Lasta, das Kreuz tragend © Birgit Gufler

Was der Inszenierung außerdem zugute kommt, ist der Verzicht auf Körpereinsatz auf Pisten oder in Betten. Eine Landschaft aus realistisch gestalteten Körperteilen – Brust, Gesäß und Beinen – ist in der Ausstattung von Julia Neuhold zwar da, wirkt aber derart entrückt, dass sich trotz der optischen Eindeutigkeit Vielschichtigkeit zeigen kann. Lediglich beim Intro mit einer brennenden Fackel, dem Auftritt von Bacchantinnen mit aufgespießter Kopftrophäe (als Verweis auf die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte) und dem Putz von Kühen beim Almabtrieb macht sich zwischendurch arg viel Bühnennebel und auch Pathos breit. In den weiteren Szenen hat das Team das Lokalkolorit im Griff: Weder die Einblendung von Bauernmalerei oder Kinderbibel-Illustrationen noch Projektionen früherer Skirennen erzeugen einen Eindruck von Harmlosigkeit.

Lokalkolorit im Griff

"Männer an die Wand zu nageln, macht sie nur populärer", sagt Jesus. Gottvater resigniert. Nicht so die Inszenierung. Selbst wenn Goller das Ensemble vom Unterschied zwischen Flirt und Belästigung sprechen lässt oder ihm reihum die unterschiedliche Betonung des Begriffs Frausein abverlangt – dieser Jelinek-Abend wirkt nie schulmeisterlich, sondern ist auf Höhe seines Stoffs und ernsten Themas. 

 
Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)
von Elfriede Jelinek
Regie: Joachim Gottfried Goller, Dramaturgie: Lisa Koller, Uschi Oberleiter, Bühne und Kostüme: Julia Neuhold, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki.
Mit: Christina Constanze Polzer, Stefan Riedl, Janine Wegener, Florian Granzner, Tom Hospes, Ulrike Lasta, Sara Nunius.
Premiere am 21. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.landestheater.at

 

Kritikenrundschau
 
Goller erfinde die "Jelinek-Illustrationskunst" nicht neu, verlebendige die Suada aber "auf hellsichtige, unverbrauchte Weise", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (24.1.2023). Bis zum Schluss bleibe "das szenische Setting frisch und frei von einkesselnder Bildgebung". Der soeben erstmals für einen Nestroypreis nominierte Regisseur schaffe klare Setzungen und lasse "diesem unsicher gepflasterten Redeparcours eine gute szenische Ordnung angedeihen". Die Österreich-Premiere von "Schnee Weiß", an die sich das Tiroler Landestheater gewagt habe, sei mit stehenden Ovationen bedacht worden.
 
Hervorragendes Theater hat Autor:in "jole" von der Tiroler Tageszeitung (23.1.2023) gesehen. Die Anklage der Scheinheiligkeit habe Gollner bei seiner Route durch "Jelineks an Ab-, Um- und möglichen wie unmöglichen Irrwegen reichen Textgebirge" herausgearbeitet und stelle sie „in schönster Heiligenbildchenhaftigkeit“ aus. Ausstatterin Julia Neuhold mache "aus dem Hang, beschneite Hänge öffentlichkeitswirksam zu sexualisieren", ein eindrückliches Bühnenbild. "Über Schenkeln und Busen thront Gottvater höchstselbst (Stefan Riedl). Er salbadert Besänftigendes übers dreckige Treiben. Die Gottesmutter (Sara Nunius) übt, ein Stockwerk tiefer, desillusionierte Selbstermächtigung, der Dornengekrönte (Ulrike Lasta) rechtfertigt sich mit galligen Gags – und ein Engelchen (Christina Constanze Polzer) macht große Augen über die Geheimnisse, die keine sind."

 

 
 
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