Polnische Tabus

30. Januar 2023. Morddrohungen, Rückzug von Fördergeldern, Interventionen der PiS-Partei: Das polnische Theater kämpft gegen politische Widerstände – und ist umso voller, je weniger es sich den Mund verbieten lässt. Ein Report vom Festival Boska Komedia in Krakau.

Von Christian Holtzhauer

Eröffnete die Wettbewerbssektion des Fesivals "Boska Komedia" 2022: Jakub Skrzywaneks Produktion "ŚMIERĆ JANA PAWŁA II“ © Magdalena Hueckel

30. Januar 2023. Vergangenen Monat hatte ich das große Vergnügen, als Jurymitglied beim polnischen Theaterfestival "Boska Komedia“ in Krakau mehrere Preise zu verleihen. Das ausschließlich aus internationalen Theaterpraktiker:innen bestehende Gremium durfte aus den Aufführungen der Hauptsektion "Inferno“ eine Gewinner-Produktion küren sowie eine Reihe von Auszeichnungen für herausragende künstlerische Leistungen vergeben.

Auch, wenn ich nur etwas mehr als ein Drittel des gesamten Festivalprogramms überblicken konnte, lässt sich feststellen: Das Theater in Polen ist quicklebendig. Es ist streitbar und streitlustig, es bezieht Stellung, und es nimmt kein Blatt vor den Mund. All jene Fragen und Diskurse, die derzeit auch das deutschsprachige Theater umtreiben und die nach der Meinung mancher selbsternannter Experten Schuld sind an der vorgeblich desolaten Lage des Theaters in Deutschland (Stichwort: "Publikumsschwund“), bestimmen gegenwärtig auch die Theaterarbeit in unserem Nachbarland: Repräsentation, Zugangsgerechtigkeit und Gleichberechtigung, Aufdeckung bzw. Verhinderung von Machtmissbrauch, um nur einige Schlagworte zu nennen.

Keine der Arbeiten, die ich sehen konnte, wollte "gefallen“, keine war auf reine Unterhaltung des Publikums aus. Nur eine der im Wettbewerb gezeigten Inszenierungen beruhte auf einem im weiteren Sinn dramatischen Text, die anderen waren Uraufführungen, Prosabearbeitungen und Stückentwicklungen. Keine Frage: Theater in Polen ist ganz klar Regietheater.

Das von Bartosz Szydłowski 2008 gegründete und bis heute geleitete Festival "Boska Komedia", das seinen Namen Dantes "Göttlicher Komödie“ verdankt, macht es sich zur Aufgabe, alljährlich einen Überblick darüber zu bieten, was in der polnischen (Stadt-)Theaterlandschaft gerade angesagt ist.

Kampf um Deutungshoheit

In der Hauptsektion "Inferno“, der Wettbewerbssparte des Festivals, konkurrierten 2022 neun Produktionen um den Grand Prix sowie um neun weitere Preise, über deren Vergabekriterien die als "das Jüngste Gericht“ bezeichnete Preisjury erstmals frei entscheiden konnte. Sechs der im Wettbewerb gezeigten Aufführungen wurden von einer aus gestandenen Theaterkritiker:innen und Studierenden zusammengesetzten Jury unter den in der zurückliegenden Spielzeit in Polen neu entstandenen Produktionen ausgewählt. Die anderen drei Inszenierungen hatte Festivalleiter Bartosz Szydłowski nominiert.

Die 2022er Ausgabe von Boska Komedia stand unter dem Motto "polskie tabu", "polnische Tabus“. Der im Programmheft des Festivals diagnostizierten "Erstarrung der Kulturszene angesichts der Tatsache, dass sich Polen immer weiter vom Ideal einer offenen Gesellschaft entfernt“, stemmten sich die eingeladenen Arbeiten mit klaren inhaltlichen Setzungen entgegen.

Sie erzählten von den Vorurteilen gegenüber Homosexuellen und Menschen mit HIV/Aids, wie in Michał Telegas Inszenierung "ANIOŁY w AMERYCE, CZYLI DEMONY w POLSCE“ ("Engel in Amerika, Dämonen in Polen“). Sie zogen Verbindungslinien zwischen historischem und gegenwärtigem Rassismus, wie ihn der Schwarze Regisseur Wiktor Bagiński am eigenen Leib erfährt und in "Narodzin wrogości" bearbeitet. Sie thematisierten den Umgang mit Geflüchteten, überkommene Geschlechterbilder oder den (schwindenden) Einfluss der katholischen Kirche. Sie erzählten vom Scheitern großer gesellschaftlicher Utopien und vom Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit, den die regierende Partei PiS ("Recht und Gerechtigkeit“) betreibt.

Unberechenbare Verteilung von Fördermitteln

Das kommt beim Publikum an. Die Vorstellungen sind voll, und zwar nicht nur während des Festivals. Gewiss, auch die polnischen Theatermacher:innen, mit denen ich mich während meines Aufenthalts in Krakau austauschen konnte, berichten von der nur zögerlichen Rückkehr des Publikums nach der Corona-Pandemie sowie von den mit der galoppierenden Inflation und insbesondere den mit den hohen Energiepreisen verbundenen Herausforderungen. Im selben Atemzug verwiesen viele Kolleg:innen jedoch darauf, dass ihre Häuser umso voller sind, je deutlicher sie sich gegen die alten und neuen "polnischen Tabus" positionieren.

Die Politik, insbesondere die Landesregierung in Warschau und ihre Parteigänger:innen in den Regionalparlamenten, zahlt es den Theatern auf ihre Weise heim. Selbstverständlich gibt es keine Zensur. Missliebige Künstler:innen und Theaterleiter:innen müssen lediglich damit rechnen, dass ihnen finanzielle Zuwendungen gekürzt, Zusagen nicht gehalten, Verträge nicht verlängert und künstlerische Arbeiten öffentlich diskreditiert werden. Die oftmals kurzfristige und unberechenbare Verteilung von Fördermitteln macht es zudem schwer, verlässlich zu planen. Da in vielen der großen Städte Polens die liberalkonservative Partei die Stadtpolitik bestimmt, verfügen Theater in kommunaler Trägerschaft oftmals über größere Freiräume als die staatlichen Institutionen, auf die die Warschauer Zentralregierung direkten Zugriff hat.

Theaterbrief Polen Boska Komedia 07 Responsibility 805 Krzysztof BielinskiDokumentartheater über die Situation Geflüchteter: Michał Zadaras "Odpowiedzialność“ © Krzysztof Bieliński

Obwohl der Krieg Russlands gegen die Ukraine kaum Einfluss auf die im Festivalprogramm gezeigten Arbeiten haben konnte – waren doch die meisten noch vor Kriegsbeginn entstanden –, war er ein wiederkehrendes Thema während des Festivals und bildete den Hintergrund, vor dem nahezu jede Inszenierung gelesen werden konnte und musste.

Mehr als 8 Millionen Ukrainer:innen sind seit Beginn des Krieges über Polen geflüchtet, schätzt ProAsyl. Etwa 1,5 Millionen registrierte Geflüchtete halten sich derzeit noch in Polen auf – zusätzlich zu jener Million aus der Ukraine stammender Menschen, die schon vor dem Krieg in Polen gelebt und gearbeitet haben. Die großen Städte des Landes sind die wichtigsten Anlaufpunkte. In Krakau, das nur etwas mehr als zwei Autostunden von der Grenze zur Ukraine entfernt liegt, schätzt man die Zahl der neu angekommenen Ukrainer:innen auf ungefähr 200.000 – das entspricht etwa einem Viertel der gesamten Einwohnerzahl der Stadt.

Die Aufnahme der Geflüchteten verlief reibungslos und war von großer Hilfsbereitschaft geprägt. Auch die polnischen Theater haben sich auf die neue Situation eingestellt und bieten zahlreiche Vorstellungen mit ukrainischen Übertiteln an. Ukrainische Schauspieler:innen, Musiker:innen und Tänzer:innen arbeiten in polnischen Produktionen mit. Und kurz vor Festivalbeginn wurden noch drei ukrainische Gastspiele ins Programm aufgenommen.

Widersprüche der Einwanderungspolitik

Im Wettbewerb selbst war mit "NaXUJ. RZECZ o PREZYDENCIE ZELENSKIM“ ("NaXUJ. Ein Stück über Präsident Selenskyj“) von Ziemowit Szczerek (Text) und Piotr Sieklucki (Regie) eines der womöglich ersten Theaterstücke über Wolodymyr Selenskyj zu sehen. Der Versuch, die Geschichte eines Schauspielers, der eines Morgens aufwacht und sich als Präsident eines Landes im Kriegszustand wiederfindet, als anarchisch überzogene Groteske zu erzählen, hätte leicht schiefgehen können. Dem Team und dem um ukrainische Gäste erweiterten Ensemble des kleinen Theaters Nowy Proxima im Krakauer Szeneviertel Kazimierz gelang es jedoch, die Absurdität der Situation, in der sich die Hauptfigur auf einmal wiederfindet, zu zeigen, ohne die brutale Realität des Kriegs auszublenden.

Die große Hilfsbereitschaft gegenüber den schutzsuchenden Ukrainer:innen mag insofern überraschen, als die Regierungspartei ja unter anderem gerade wegen ihrer Ablehnung der europäischen Flüchtlingspolitik die letzten Wahlen gewonnen hatte. Auch der Konflikt um überwiegend aus dem Irak und aus Afghanistan stammende Menschen, die an der Grenze zwischen Polen und Belarus unter unwürdigen Bedingungen festgehalten werden, ist nach wie vor nicht gelöst. In der bedrückenden dokumentarischen Aufführung "Odpowiedzialność“ ("Verantwortung“), die leider nicht im Wettbewerb gezeigt wurde, betreiben der Regisseur Michał Zadara und sein Ensemble eine theatrale Beweisaufnahme. Die als Koproduktion zwischen Zadaras Compagnie Centrala und dem Powszechny Theater in Warschau entstandene Inszenierung legt die Widersprüche der polnischen Einwanderungspolitik und die juristischen Abwägungen offen, die dazu führen, dass manche Geflüchtete willkommen geheißen und andere ihrem Schicksal überlassen werden.

Theaterbrief Polen Boska Komedia 06 Death of John Paul II 805 Magdalena Hueckel uAm päpstlichen Krankenbett: Jakub Skrzywaneks Produktion "ŚMIERĆ JANA PAWŁA II“ © Magdalena Hueckel

Wenn es ein Sujet gibt, dem man sich in Polen nur mit größtem Fingerspitzengefühl nähern sollte, dann ist es wohl Karol Józef Wojtyła, der "polnische Papst“ Johannes Paul II. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Inszenierung "ŚMIERĆ JANA PAWŁA II“ ("Der Tod von Johannes Paul II“) von Jakub Skrzywanek, mit der die Wettbewerbssektion von Boska Komedia 2022 eröffnete, zu den am meisten (und oft kontrovers) diskutierten Produktionen des Festivals und – den Berichten polnischer Kolleg:innen zufolge – auch in ganz Polen zählt. Im Vorfeld der Produktion hatten Skrzywanek und der Intendant des produzierenden Polski Theaters in Poznán Morddrohungen erhalten. Offenbar hatte bereits die Ankündigung, sich mit Johannes Paul II beschäftigen zu wollen, Erinnerungen an Oliver Frljićs Warschauer Inszenierung "Klątwa“ ("Der Fluch“) von 2017 wachgerufen.

Doch mit der Premiere verwandelte sich der Widerstand gegen das Projekt in Beifall. Denn Regisseur Skrzywanek, der 2017 als Regieassistent an Frljićs Inszenierung beteiligt war, hat potenzielle Kritiker:innen seines Vorhabens geschickt umgarnt: Fans und Verächter:innen des polnischen Papstes können sich in dieser Arbeit gleichermaßen wiederfinden, geht es doch weder um die konservative Glaubensauslegung noch um die politische Haltung des 2005 verstorbenen Papstes, sondern um die Themen Tod und Care-Arbeit, die eigene Verführbarkeit, die Kommerzialisierung der Kirche und des Glaubens und nicht zuletzt um Sterbehilfe.

Mit Liebe zum Detail vollziehen Skrzywanek und sein Ensemble die letzten Stunden im Leben von Johannes Paul II nach. Sie zeigen, wie der todkranke Mann gefüttert und gewaschen wird und wie er, obwohl er bereits mehr tot als lebendig ist, seine Rolle bis zum letzten Atemzug spielen muss. Die nahezu stumme Spielhandlung wird von kurzen Videosequenzen unterbrochen. In diesen Videos berichten Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, was ihnen der Papst bedeutet hat und wie sie die Nachricht von seinem Tod aufgenommen haben. Manche dieser Interviewpartner:innen schwelgen in Erinnerungen, anderen ist ihre frühere Schwärmerei inzwischen sichtlich peinlich.

Selfies mit aufgebahrtem Papst

Nachdem der Tod eingetreten ist, wird in einer ebenfalls quälend langsamen Szene beschrieben, wie der Leichnam für die Aufbahrung vorbereitet wird. Und plötzlich, der Leichnam ist zur Aufbahrung bereit, ändern sich Setting und Stimmung: Ein Chor von Priestern betritt den Zuschauerraum und fängt an zu singen. Die Spieler:innen auf der Bühne durchbrechen die vierte Wand und laden das Publikum ein, die Bühne zu betreten und dem verstorbenen Papst die letzte Ehre zu erweisen. Fotografieren ist ausdrücklich erlaubt, aber bitte nicht zu lange stehen bleiben, damit kein Stau entsteht. Und bitte auch den im Foyer eingerichteten Stand nicht vergessen, an dem Memorabilia des jüngst Verstorbenen käuflich erworben werden können.

Tatsächlich setzt sich das Krakauer Publikum zunächst zögerlich und unsicher kichernd, dann immer selbstverständlicher in Bewegung. Natürlich werden Fotos vom aufgebahrten Papst, gespielt von dem bewundernswert stoischen Michał Kaleta, gemacht. Und auch das Gedränge am Stand im Foyer, an dem es Taschen, Teller, Bilder mit Motiven aus der Inszenierung zu kaufen gibt, ist groß.
Ihm sei es wichtig, erzählte mir Jakub Skrzywanek später, im Theater einen Raum zu schaffen, in dem sich alle eingeladen fühlen können, egal wie sie – im Falle dieser konkreten Inszenierung – nun zum Papst und zur Kirche stehen. Bei manchen Aufführungen des Stücks in Poznań würde es vorkommen, dass besonders religiöse Menschen auf der Bühne vor dem aufgebahrten Leichnam / Schauspieler niederknien und sich bekreuzigen.

Theaterbrief Polen Boska Komedia 03 Dziady 805 Bartek Barczyk uLiterarisch ein Klassiker, als Inszenierung politisch unter Druck: Adam Mickiewicz' "Dziady“ in der Regie von Maja Kleczewska © Bartek Barczyk 

Hatte die Inszenierung "ŚMIERĆ JANA PAWŁA II“ im Vorfeld ihrer Uraufführung einen Skandal provoziert, der sich dann in Zustimmung auflöste, produzierte eine andere viel diskutierte Aufführung den Skandal erst im Nachhinein, und zwar mit deutlich dramatischeren Folgen für das Theater, an dem sie entstand: Am Krakauer Juliusz-Słowacki-Theater hatte Maja Kleczewska mit "Dziady“ ("Ahnenfeier“ oder "Totenfeier“) von Adam Mickiewicz den polnischen Klassiker schlechthin auf die Bühne gebracht. "Dziady“ gilt als einer der wichtigsten Texte der polnischen Literatur, eher ein dramatisches Gedicht als ein Theaterstück, ein Appell an ein polnisches Nationalgefühl aus einer Zeit, als der Staat Polen von der Landkarte verschwunden war.

"Dziady“ ist auch ein Schlüsseltext des polnischen Theaters. Im Januar 1968 wurde in Warschau eine Inszenierung des Stücks, das die Wandlung des Titelhelden Konrad von einem romantischen Zauderer zu einem überzeugten Patrioten und zum Widerstandskämpfer gegen den russischen Zaren beschreibt, wegen "antisowjetischer Tendenzen“ durch die kommunistischen Machthaber verboten. In der Folge kam es insbesondere unter Studierenden zu heftigen Protesten gegen diesen Akt der Zensur.

Sittenwächter der PiS-Partei

Diese historische Aufladung haftet dem Stück bis heute an. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine lässt sich das Stück erneut als Widerstandsepos gegen einen russischen Herrscher lesen – aber natürlich auch gegen jede andere Form von Herrschaft. Offensichtlich fühlten sich Vertreter:innen der Regionalregierung der Woiwodschaft Małopolska von der im Herbst 2021 entstandenen Inszenierung derart angegriffen, dass sie öffentlich dagegen zu Felde zogen.

Dabei wirkt die Aufführung auf den ersten Blick eigentlich recht gediegen. Maja Kleczewska hat den wortgewaltigen, aber handlungsarmen Text in opulente, fast opernhafte Tableaus übersetzt. Die Bühnenbildnerin Katarzyna Borkowska hat ihr dafür einen Raum geschaffen, der den überladenen Zuschauerraum des Słowacki-Theaters geschickt mit der fast leeren Bühne verbindet und fantastische Lichteffekte ermöglicht. Die Hauptfigur Konrad ist mit einer Frau besetzt, der phänomenalen Dominika Bednarczyk, und auch die Gefangenen in einer Kerkerszene sind (anders als bei Mickiewicz) Frauen, was natürlich die Interpretation zulässt, dass Frauen die Unterdrückten unserer Tage sind.

Bei genauerer Betrachtung sind weitere Seitenhiebe, die die Sittenwächter der PiS-Partei auf den Plan riefen, nicht zu übersehen: Hooligans, die polnische Fahnen schwenken und Juden und Schwule verprügeln, ein Priester, der sich an der weiblichen Hauptfigur vergreift, eine Szene, die als Missbrauch Minderjähriger gedeutet werden kann – und das vor einer eindrucksvollen Replik des berühmten Altars von Veit Stoss in der Krakauer Marienkirche.

Stopp für bereits zugesagte Gelder

Die Inszenierung sei Müll, postete eine Regierungsvertreterin auf Twitter, und einige Kirchenvertreter pflichteten ihr bei – alle, ohne die Aufführung selbst gesehen zu haben. Die lokale Regierung versuchte den Intendanten Krzysztof Głuchowski loszuwerden, allerdings ohne Erfolg, denn das Theater befindet sich in städtischer Trägerschaft. Die geplante Umwandlung des Theaters in ein Staatstheater, was eine andere finanzielle Absicherung bedeutet hätte, wurde jedoch gestoppt und bereits zugesagte Fördergelder wurden nicht ausbezahlt. So übt man Druck aus, ohne Verbote auszusprechen. Mittlerweile ist es um "Dziady“ ruhiger geworden. Die Aufführung ist ein großer Erfolg, alle Vorstellungen sind ausverkauft. Doch ob der Vertrag des Intendanten verlängert wird oder wer ihm in anderthalb Jahren nachfolgen könnte, ist völlig offen.

Theaterbrief Polen Boska Komedia 04 805 Klaudyna Schubert uSchauspielerinnen hinterfragen die ungeschriebenen Gesetze des Betriebs: Anna Karasińskas Stückentwicklung "Łatwe rzeczy“, die Gewinnerproduktion des Festivals © Klaudyna Schubert

Schließlich waren es aber weder die skandalumwitterten und viel besprochenen Aufführungen über den Tod Johannes Paul II bzw. "Dziady“ noch die als ein Höhepunkt erwartete Warschauer Inszenierung "Imagine“ von Krystian Lupa, die die ungeteilte Zustimmung der Preisjury fanden. Tatsächlich hinterließ die Stückentwicklung "Łatwe rzeczy“ ("Einfache Dinge“) von Anna Karasińska, entstanden am kleinen Stefan-Jaracz-Theater in Olsztyn im Nordosten Polens, bei uns den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck.

Die Regisseurin hat das Stück zusammen mit den Schauspielerinnen Irena Telesz-Burczyk (seit 1975 Ensemblemitglied am Olsztyner Theater) und Milena Gauer entwickelt. Sie sprechen über sich selbst, ihren Beruf, das Theater, ihre Wünsche, Sehnsüchte und Enttäuschungen. Ihre Geschichten sind einerseits sehr persönlich, und doch spiegeln sich in ihnen die ungeschriebenen Gepflogenheiten und Gesetze des Theaterbetriebs, der wiederum ja nur die ungeschriebenen Gepflogenheiten und Gesetze der Gesellschaft wiederholt: Wann gilt eine Frau als schön? Was wird von Frauen erwartet? Was wird Frauen zugetraut? Und was traut man bzw. frau sich selbst (zu)?

Widerständiges Potenzial

"Łatwe rzeczy“ ist eine kleine, leise und unaufwändige Produktion – und zieht gerade aus der Reduktion der Mittel eine große Kraft. Am Beginn des Stücks, wenn eine der beiden Darstellerinnen ihr Aussehen beschreibt, ist sie nur schemenhaft zu sehen, sodass die Zuschauer:innen mit ihren eigenen Erwartungen konfrontiert sind. Wenn das Licht dann angeht, ist die Bühne fast leer. Jede noch so kleine Geste der beiden Frauen wirkt dadurch um so größer. Und trotz des zeitlichen Abstands von fast 50 Jahren ist die Überwindung immer noch spürbar, die es Irena Telesz-Burczyk gekostet hat, als sie Mitte der 1970er Jahre ihre erste Nacktszene spielte. Dass es am Ende der Aufführung tatsächlich zu einer Nacktszene kommt, ist ebenso folgerichtig wie überraschend.

Wie einfach und zugleich effektiv "Łatwe rzeczy“ vom widerständigen Potenzial gegenseitiger Unterstützung, von Solidarität und Empathie, vom generationsübergreifenden Austausch zwischen Frauen und zwischen Theaterkolleg:innen zu erzählen vermochte, war wirklich beeindruckend.

Original und Fälschung

Und trotzdem: Jedes Festival braucht einen Hit, eine Produktion mit Verdrängung, über die schon im Vorfeld alle reden, die alle sehen wollen. Bei Boska Komedia 2022 war dieser Hit die als internationale Koproduktion zwischen dem Dailes-Theater in Riga und dem Theater im schlesischen Opole entstandene Arbeit "Rohtko“ von Łukasz Twarkowski. Richtig gelesen: "Rohtko“. Zwar ist der auf dem Gebiet des heutigen Lettlands geborene amerikanische Maler Mark Rothko tatsächlich Ausgangspunkt und Thema der fast vierstündigen Aufführung, der Buchstabendreher im Titel ist jedoch Programm: Wie leicht lassen wir uns überlisten? Was unterscheidet Original und Fälschung?

"Rohtko“ ist ein Theaterstück, ein Live-Film, eine Videoinstallation und nicht zuletzt eine ausgefeilte Choreografie von Schauspieler:innen, Kameras, Bühnentechniker:innen und Bühnenbild. Spielort ist ein China-Restaurant in New York samt Küche und der dazugehörigen Folklore – Neon-Leuchtschrift, roten Lampen und Aquarium. Hin und wieder irrt ein (wahrscheinlich unterbezahlter) Fahrer des Lieferdienstes Wolt verloren durch das Bühnenbild, während in den parallel stattfindenden Szenen über Bilder im Wert von mehreren Millionen verhandelt wird.

Echtheit im Zeitalter von NFTs und Blockchains

Verschiedene Motive und Handlungsstränge werden kunstvoll und perfekt aufeinander abgestimmt verschnitten: Da sind der Maler Mark Rothko und seine Frau, das Leiden an seiner Depression, aber auch seine Verachtung für den Kunstmarkt, auf dem seine Werke bis heute Höchstpreise erzielen. Da ist der reale Fall einer Fälschung eines Rothko-Bilds durch einen chinesischen Gelegenheitsmaler. Da ist die Schilderung eines von jedem menschlichen Maß abgehobenen Kunstmarktes, und da ist die Geschichte osteuropäischer Migranten, die in Amerika Fuß zu fassen versuchen.

Schließlich spielt auch der Hype um digitale Kunst und Kryptowährungen eine Rolle. Der offensichtlich von der Lektüre von Byung-Chul Hans Buch "Shanzai“ inspirierte Abend jongliert lustvoll und sinnlich überwältigend eine Reihe kniffliger Fragen: Was, wenn auch ein gefälschtes Bild dem Käufer/der Käuferin ein ähnliches intensives Erlebnis zu bescheren vermag wie ein Original? Ist es dann noch eine Fälschung? Wer bestimmt über den Wert eines Kunstwerks? Und was bedeutet Echtheit noch im Zeitalter von NFTs und Blockchains?

Theaterbrief Polen Boska Komedia 05 Rohtko 805 Arturs Pavlovs uErinnert an Frank Castorf und Bert Neumann – und ist dabei ein ganz eigener Festivalhit: Łukasz Twarkowskis "Rohtko“ © Arturs Pavlovs

Die Spielszenen werden nahezu ausschließlich von Kameras auf riesige Leinwände übertragen, die sich oberhalb des Bühnenbilds befinden. Manchmal gestattet das Bühnenbild, das kontinuierlich verschoben und neu arrangiert wird, Einblicke in das Spielgeschehen, was zu interessanten Kontrasten mit den Leinwandbildern führt. Der Einsatz der Kameratechnik und das ausbuchstabierte Bühnenbild erinnern an Frank Castorf und Bert Neumann, die unterkühlte und reduzierte Spielweise an Krystian Lupa, dem Twarkowski in früheren Produktionen assistiert hat.

Und doch geht der Abend über diese (möglichen) Vorbilder hinaus in seiner Konsequenz, Coolness und Stimmigkeit. Die Präzision, mit der Live-Spiel und Kamera-Bild aufeinander abgestimmt sind, ist verblüffend. Zwischen Kamera-Teams, Darsteller:innen und den das Bühnenbild fortwährend umbauenden Bühnenhandwerker:innen entsteht eine eigene Choreografie, und die wirkmächtigen Bilder sowie die effektvoll eingesetzte Musik entwickeln über die Dauer der Aufführung einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.

Ich bin sicher, dass diese Produktion in den nächsten Jahren auf den großen internationalen Theaterfestivals zu sehen sein wird. Den Anfang macht im Mai dieses Jahres das Onassis Centre in Athen.

Ungemütliche Zeiten

Um die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit des Anliegens vieler der im Festival gezeigten Arbeiten zu verstehen, ist es hilfreich, mehr über den polnischen Kontext zu wissen. Nicht jede Aufführung hat sich mir daher völlig erschlossen. Mit welcher Vehemenz, aber auch mit welcher Leidenschaft viele der Aufführungen, die ich in Krakau sehen konnte, zu den Konflikten, Fragen und Kämpfen der Gegenwart Stellung bezogen haben, hat mich beeindruckt. Um die Vitalität dieses Theaters muss man sich keine Sorgen machen.

Am Tag nach der Preisverleihung kündigte die Stadt Krakau übrigens an, den Zuschuss für die kommende Festivalausgabe um 25 Prozent zu kürzen. Festivalleiter Bartosz Szydłowski ist wütend und wiegelt zugleich ab: Ja, die angekündigte Kürzung sei ärgerlich, letztlich habe die Stadt das Festival aber immer unterstützt, auch wenn sich seitens der Politik wohl niemand im Klaren darüber sei, was ein derartiges Gebaren für die Planung eines großen und komplexen Festivals bedeute. In die Regierung in Warschau und ihre Parteigenossen in den Regionalparlamenten setzt er dagegen keine großen Hoffnungen. Die Zeiten für das Theater in Polen werden ungemütlich bleiben. Es steht allerdings nicht zu erwarten, dass sich die polnischen Theatermacher:innen davon beeindrucken lassen.

Boska Komedia 2022
15. Internationales Theaterfestival in Krakau
7. bis 16. Dezember 2022

www.boskakomedia.pl

 

985 12518 christianholtzhauer foto christiankleiner 08 kleinChristian Holtzhauer © Christian KleinerChristian Holtzhauer ist Intendant des Schauspiels und Künstlerischer Leiter der Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim.

Offenlegung: Der Autor war Mitglied der Internationalen Jury der 15. Ausgabe des Festivals "Boska Komedia" in Krakau. Das Festival trug die Reisekosten und die Kosten des Aufenthalts in Krakau und zahlte eine Aufwandsentschädigung.

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