Neufassung des Elends

5. Februar 2023. Wolkenkratzer statt Schloss, Königin statt König: Anne Mulleners inszeniert Tom Lanoyes "Königin Lear" nach William Shakespeare und zeigt, dass sich im Laufe der Zeit vieles auch nicht ändert.

Von Christian Muggenthaler

"Königin Lear" von Tom Lanoye nach William Shakespeare in der Regie von Anne Mulleners © Jochen Klenk

5. Februar 2023. Teilen ist immer noch nicht. Da mögen die alten monarchischen Strukturen aus Shakespeares Zeiten schon längst mausetot sein: Wenn es etwas zu verschlingen gilt, wenn die Gier zum Vorschein kommt und eine Position zu erringen ist, von der aus man auf alle anderen runterschauen kann, scheinen Edelmut und Rücksichtnahme ganz schlechte Wegbegleiterinnen zu sein. Weshalb es schon allein deshalb Sinn ergibt, dass Tom Lanoyes auf des William selig basierenden Stücks "Königin Lear" nun statt eines ollen Königs eine heutige Firmenleiterin zum Ausgangspunkt nimmt. Drei Söhne sollen je ein Stück des Lear-Firmenimperiums erben, der jüngste fällt aus, weil er Muttern nicht mit den schönen Worten seiner Brüder einseifen mag. Und die bekannte Geschichte nimmt ihren Lauf. Nur statt Schloss halt jetzt Wolkenkratzer.

Die Tür öffnet sich

Lanoye, Shakespeare-erprobtes "Schlachten"-Ross, weiß natürlich, wie und wo er die Motivstränge seiner Klassiker-Überschreibung anzudocken hat. Es ist ja nicht so sehr das Fehlurteil von Madame Elisabeth Lear, welches das Unglück der kommenden zweieinhalb Stunden prägen wird; es ist der Umstand, dass mit dem Aufteilen des jahrzehntelang erarbeiteten Trusts dunkelstem, bösartigstem Treiben Tür und Tor geöffnet sind. Die Äpfel sind nicht nur recht weit vom Stamm gefallen, sie sägen sogar zügig an ihm – und die Königin Lear versickert darob allmählich in seniler Umnachtung. Um sie herum sind nur noch der aufrechte Geschäftsführer Kent und ein warmherziger Pfleger, der den Narren ersetzt.

Ein Bogen durch die Geschichte

Alles ist also angerichtet für die klassische Tragödie, die sich hier jungbrunnenhaft aus modernen Triebfedern nährt. Vor allem aus den Kräften des Kapitalismus und der Finanzmärkte, die wahrscheinlich noch tragödientreiberischer sind als all der ganze alte Thronbesteigungs-Trara mit Körperverletzung. Und heute ist alles noch komplizierter geworden: vom Recht auf Liebe im Alter bis zur letzten Generation sind ganz schön viele Bälle zu jonglieren in dieser Neufassung des alten Erbschaftselends. Da braucht's eine recht kräftige, stramme Inszenierung, die am Stadttheater Ingolstadt Anne Mulleners übernommen hat: Sie schlägt den Bogen durch die Geschichte um die Bruchstücke, die die bösen Kinder und ihre Frauen bei ihrem Konzernkleinsäge-Wettbewerb so hinterlassen.

Koenigin Lear 1Sascha Römisch, Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Péter Polgár, Ingrid Cannonier, Andrea Frohn, Konstantin Marsch, Judith Nebel auf der Bühne von Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens © Jochen Klenk

Der kompakte Eindruck der Inszenierung entsteht schon mal grundsätzlich durch das klare, präzise Bühnenbild (Ausstattung: Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens): ein von Lamellen abgetrenntes, leicht vertieftes, bassinartiges Viereck. Eine Fläche für eine klare Spielanordnung, unterstrichen durch ausschließlich weißes, kaltes Licht. Die Lamellen bieten auch die Möglichkeit des Schattenspiels, und je tiefer das Geschehen in gruselige Grausamkeit driftet, desto mehr öffnet sich der Raum nach hinten: Es wirkt, als ob alle eigentlich einfach nur noch raus wollten aus diesem Alptraum. Der Text bietet derlei reichlich waidwunde Abgänge. Auch die leicht futuristisch anmutenden, dicken, fetten Kostüme, die für die, die sie tragen müssen, eine echte Plage sind, werden in Richtung finaler Auseinandersetzungen nach und nach abgelegt.

Schauspielerisch: eine Meisterleistung

Ring frei also für schauspielerische Meisterleistungen. Mittendrin und im Zentrum Ingrid Cannonier, die diese große alte Dame, diese in ihrem Kopf allmählich kollabierende Leiterin eines kollabierenden Firmenkonglomerats, in der Tat als große alte Dame schildert: Man erkennt stets die Kraft, die sie einst hatte und entwickelt deshalb den Respekt, den diese Figur verdient. Um diese Handlungsbatterie, die alle positive und negative Energie ausgelöst hat, herum als in Freundlichkeit scheiternden Mitmenschen Kent (Sascha Römisch), Oleg (Péter Polgár) und Cornald (Konstantin Marsch). Ganz im zitternden, aufgeladenen Energiestrom sind bis in jeden Muskel angespannt die beiden konträren Paare und ihre Darsteller*innen Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Judith Nebel und Andrea Frohn: ein Quartett, das so überzeugend tückisch ist, weil man beständig das Menschliche an seiner Unmenschlichkeit erkennen kann. Der König mag zur Königin geworden sein – die alten Strukturen sind bis auf weiteres gleichgeblieben.

 

Königin Lear
Von Tom Lanoye nach William Shakespeare
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Regie: Anne Mulleners, Ausstattung: Jan Hendrik Neidert/Lorena Diaz Stephens, Sounddesign: Aki Traar, Dramaturgie: Isabel Ilfrich, Chor-Einstudierung: Olivia Wendt.
Mit: Ingrid Cannonier, Sascha Römisch, Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Konstantin Marsch, Judith Nebel, Andrea Frohn, Péter Polgár.
Premiere am 4. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-ingolstadt.de


Kritikenrundschau

"Exzellent ist Tom Lanoye diese Überschreibung gelungen", schreibt Anja Witzke im Donaukurier (6.2.2023), und Anne Mulleners habe das Stück "fulminant in Szene gesetzt". "Bei der Premiere am Samstagabend wurde vor allem Ingrid Cannonier in der Titelrolle frenetisch gefeiert." Überhaupt gebe das Ensemble in seiner Geschlossenheit ein starkes Bild ab.

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