Die Ortung der Dinge

7. Februar 2023. Gutes Theater schafft es, in tiefere historische Schichten vorzudringen. Dasselbe gelingt der Autorin Karolina Kuszyk mit einem außergewöhnlichen Buch, das sich auf die Spuren der deutschen Vergangenheit in Westpolen begibt und Geschichte anhand zurückgebliebener Gegenstände erzählt. 

Von Esther Slevogt

7. Februar 2023. Mein heutiges Thema ist kein Theaterthema. Aber es ist doch eins, das an die Verwerfungen der Gegenwart rührt. Es geht um ein Buch, das schafft, was auch gutes Theater schaffen kann: nämlich mit den Mitteln von Klarheit, Unvoreingenommenheit und Empathie in der Darstellung in tiefere historische Schichten vorzudringen. Und zu den Menschen, die immer wieder von den Sogkräften der Geschichte erfasst und ins Unglück oder sonstwohin gestürzt werden. Ein Buch, dessen Autorin Karolina Kuszyk daher mit sämtlichen aktuell verfügbaren Friedenspreisen ausgestattet werden müsste.

"In den Häusern der Anderen" heißt es und begibt sich auf die Spuren der deutschen Vergangenheit in Westpolen. Dorthin nämlich wurden nach 1945 aus der heutigen Ukraine jene zwangsumgesiedelt, die sich als Polen definierten. Denn die heutige Westukraine war einmal Teil Polens und gehörte nun zur ukrainischen Sowjetrepublik. Das heutige Westpolen wiederum gehörte bis 1945 zum Deutschen Reich und hieß Schlesien. Die dort lebende deutsche Bevölkerung wurde ihrerseits im Zuge der Westverschiebung Polens zwangsumgesiedelt. In die Häuser der Deutschen zogen nun polnische Flüchtlinge aus der Ukraine ein.

Schatzsucher und Geister 

Karolina Kuszyk, 1977 in Legnica, dem einstigen Liegnitz, geboren, begibt sich in ihrem einzigartigen Geschichtsbuch auf die Spuren der Dinge, die aus einer anderen, deutschen, Geschichte zurückgeblieben waren. Sie, deren Großeltern einst selbst in ein ehemals deutsches Haus gekommen waren, erzählt Geschichten von Möbeln, Geschirr, von Bildern, die die Flüchtenden in den Häusern zurückgelassen hatten, die dann von anderen Flüchtenden übernommen wurden – und was diese, von den Geistern eines anderen Lebens beherrschten Gegenstände mit denen machten, die sie nun benutzten. Dinge wie hinter Zimmertüren hängengebliebene Peitschen, wie man sie zum Züchtigen von Kindern verwendete. Oder Teller, auf deren Unterseiten sich Hakenkreuze befanden. Wände, hinter denen die neuen Bewohner die Geister der alten Bewohner vermuteten. Oder hastig vor der Flucht verborgene Schätze – Silber oder Schmuck etwa.

Wir erfahren von Schatzsuchern, die durch niederschlesische Wälder streifen. Und immer wieder von großem Unglück, das einzelnen Menschen zugestoßen ist. Von Vätern, die im Gulag verschwanden, statt in der neuen Heimat anzukommen, von gewaltsam zu Tode gekommenen deutschen Frauen oder von den Nachfahren ermordeter Juden, die auf der Suche nach Spuren des ausgelöschten Lebens ihrer Vorfahren sind.

Pragmatismus und Mangelwirtschaft

Karolina Kuszyk geht Geschichten liegengebliebener Kinderbücher nach oder forscht nach den versunkenen Biografien von Malern kitschiger religiöser Motive, wie sie um 1900 in deutschen bürgerlichen Schlaf- und Kinderzimmern hingen. Sie befasst sich mit der Geschichte so "deutscher" Dinge, wie dem Weckglas und darin noch von den Deutschen eingemachten Vorräten, die dann den neuen Bewohnern über den ersten Hungerwinter halfen.

Aber sie befasst sich auch mit den Absurditäten, die aus den Bemühungen der polnischen Politik nach 1945 erwuchsen, die "wiedergewonnenen Gebiete" zu polonisieren, mit Vandalismus an Kulturgut, Schlössern oder deutschen Friedhöfen, mit per Dekret verdrängter Geschichte und dem Umstand, wie die Kulissen des deutschen bürgerlichen Lebens verfielen oder sozialistischem Pragmatismus und Mangelwirtschaft wichen. Und wie dann im Übereifer, mit dem nach 1990 die deutsche Vergangenheit wiederentdeckt wurde, gelegentlich auch mal Nazidenkmäler mit restauriert wurden.

Ästhetik der Dingwelt

Es sind Geschichten von Fremdheit und Entwurzelung, von fehlendem Vertrauen, die neue Heimat könnte wirklich Heimat werden. Karolina Kuszyk erzählt all diese Geschichten mit dokumentarischer Strenge. Gute und Böse gibt es auf allen Seiten: Menschen, die morden und plündern, wenn man sie lässt. Und Menschen, die die Geschichte wie ein Tsunami aus ihrem Leben fortreißt und untergehen lässt. Bei Karolina Kuszyk gibt es kein Entweder-Oder. Ihr Buch ist ein Plädoyer dafür, den Überschuss an Wahrheiten auszuhalten, die Geschichte stets produziert. Nebenbei gelingt dieser Autorin eine ganz eigene Ästhetik der Dingwelt in der Tradition Walter Benjamins: wie sie da aus den Gegenständen Geschichte und Zukunft gleichermaßen zu beschwören versteht.

Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben

Esther Slevogt

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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