Medienschau: SZ, FAZ, NZZ, Welt, SRF, WOZ – Zum Zürcher Intendanzende
So geht Cancel Culture?
So geht Cancel Culture?
7./9. Februar 2023. Großer "Theaterknall" oder folgerichtiger Akt? Gezogene Reißleine oder vorzeitig abgebrochene Innovationsreise? Theaterkritiker:innen im ganzen deutschsprachige Raum kommentieren die Nichtverlängerung der Zürcher Intendanz-Verträge von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg.
Von einem "Theaterknall" spricht Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.2.23). Die Stadt und ihre "in Sachen Kultur traumtänzelnde Regierung" hätten "die Reißleine" gezogen. "Der ursprüngliche Anspruch, ein 'Theater für alle' zu machen, verkehrte sich in sein krasses Gegenteil: Niedrige Auslastungszahlen, gekündigte Abos, eine Anti-Stimmung selbst bei denen, die sich als progressive Theatergänger verstehen", kommentiert Strauß. "Die Debatte um die Einengung der Spielfreiheit, angestoßen vom Ensemblemitglied Sebastian Rudolph, lief parallel zu jener um einen Spielplan, der nur die Interessen einer moralpolitisch aufgeweckten Minderheit zu erfüllen schien."
Dass Intendanten, "denen es nicht gelingt, ein größeres Publikum für ihr Theater zu interessieren, irgendwann gehen sollten, ist nicht besonders überraschend, sondern sehr vernünftig", beurteilt Peter Laudenbach die Lage in der Süddeutschen Zeitung (6.2.23). Träger eines Theaters hätten "alles Recht, sich von Intendanten zu trennen, die ihre Erwartungen nicht erfüllen". Allerdings wäre es "hilfreich", schreibt der Kritiker, "wenn diese Erwartungen nicht allzu blauäugig ausfallen. Dass der Jelinek-Spezialist Stemann nicht unbedingt für gemütliche Abendunterhaltung steht, hätten die Züricher schon vor seiner Berufung wissen können."
"Wenn man sich in den vergangenen Jahren über das Pfauentheater ärgerte, lag es nicht an dem, was auf der Bühne geschah", schreibt Thomas Ribi in der Neuen Zürcher Zeitung (7.2.23). "Sondern am ideologischen Beiwerk, mit dem es präsentiert wurde. Und am mangelnden Willen der Intendanten, das eigene Tun kritisch - und vielleicht auch einmal mit einer Prise Selbstironie - zu reflektieren." Wenn Stemann und Blomberg gescheitert seien, so der Kritiker weiter, "dann nicht am Publikum, nicht an Zürich und nicht an der Politik, sondern an sich selbst". Dem Anspruch, Theater für alle zu machen, seien sie "nicht gerecht geworden". Politisches Theater lebe "von der Auseinandersetzung" und vom "Widerspruch", resümiert Ribi. Davon habe man am Pfauen wenig gespürt. "Da wurde Anklage erhoben, Schuld zugewiesen, wurden Antworten gegeben. Fragen wurden kaum je gestellt."
In der Welt (8.2.23) benennt Jakob Hayner die Kommunikation als das große Problem: "Menschen reagieren allergisch auf bevormundende Sprache. Es braucht keine Triggerwarnung vor 'Wilhelm Tell'. Dass dort 'Gewalt und Waffen' vorkommen, weiß man und will nicht wie ein Kind behandelt werden." Der kürzlich anberaumter "Publikumsgipfel" habe zudem die Entfremdung zwischen Publikum und Theater gezeigt. Und auch die Pressemitteilung zum Ende der Intendanz sei ein Zeichen verunglückter Kommunikation. "Das Beispiel Zürich lehrt, dass sich fortschrittliche Ideen im Theater nicht per 'wokem' Image von oben herab durchsetzen lassen, sondern man dafür offen streiten muss."
Auf Twitter hat sich der Regisseur Christopher Rüping (8.2.2023) zu Wort gemeldet: "Projekte wie dieses brauchen Zeit – nach innen und nach außen. Die angestoßenen Entwicklungen jetzt zu beenden ist ungefähr so sinnvoll wie ein gerade frisch bepflanztes Blumenbeet mit einer Planierraupe zu überfahren. Man beraubt sich der Früchte gemeinsamer Arbeit."
"Hört man sich in der Kulturszene Zürichs um, stößt man auf Entsetzen. Der Tenor ist klar: Dieser Entscheid sei politisch. Tatsächlich scheint es, als sei er Resultat einer Kampagne konservativer Medien gegen angeblichen woken Meinungsterror," schreibt Caspar Shaller in der Tageszeitung taz. (9.2.2023) Tatsächlich hätten Stemann und Blomberg neben einer Verjüngung und Diversifizierung des Publikumns noch andere Erfolge zu verzeichnen: "Stücke waren zu den Wiener Festwochen, den Salzburger Festspiele und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Internationale Presse berichtete mitunter begeistert über Zürcher Vorstellungen. Eine Theaterredakteurin der New York Times schrieb, Blomberg und Stemann hätten das Schauspielhaus zu einem der interessantesten und aufregendsten Theater Europas gemacht. So gute Presse kriegt Zürich selten. Kürzlich sorgte die Überführung der Sammlung des deutschen Waffenproduzenten Emil Bührle ins öffentlich finanzierte Kunsthaus für internationale Empörung. Nun leistet sich Zürich erneut mit einer kulturpolitischen Entscheidung einen groben Schnitzer."
"Manches ist auf halber Strecke steckengeblieben," kommentiert Andreas Klaeui beim SRF (9.2.2023). "Anderes hat sich eingelöst: hinreissende Aufführungen, künstlerische Anerkennung, internationale Ausstrahlung. Nun ist das Experiment abgebrochen. Es bleibt eine letzte Spielzeit. Da werden sie wohl – unter normalisierten Spielbedingungen – nochmal zeigen, wo es hätte hingehen können." Für die Stadt Zürich bedeutet der abgebrochene Aufbruch aus Klaeuis Sicht, "dass sie sich klarmachen muss, was sie von einem Stadttheater überhaupt will und an wen es sich richten soll." Die Stadt lasse hier zwei Theaterleiter – denen sie die monierte 'Wokeness' über das Kulturleitbild selbst ins Pflichtenheft geschrieben hat – im Regen stehen.
"So geht Cancel Culture," schreibt Franziska Meister in der Schweizer WOZ (9.2.2023). "Es war ein Trauerspiel – massgebend inszeniert von Tamedia und der NZZ-Gruppe." "Der 'Tagi' führt Regie mit der Rede vom 'Mottbrand am Pfauen', um dann am Freitag zu verkünden: 'Die Verhandlungen sind gescheitert. Es gibt keine Verlängerung.' Obwohl diese Meldung noch unbestätigt ist, verabschiedet man die Intendanten bereits herablassend mit einem 'Sie haben sich sehr bemüht'. Am Montag erklärt der Verwaltungsrat, man habe sich 'auf eine gemeinsame betriebswirtschaftliche Ausrichtung' verständigen können. Doch für derlei Fakten interessiert sich die mediale Dramaturgie rund um die herbeigeschriebene 'Burg der woken Weltordnung' nur am Rand."
(FAZ / SZ / NZZ / Welt / WOZ / taz / SRF / cwa / geka / sle)
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(auf social media ist mir allerdings noch eine Pressestimme begegnet, die sich kritischer zu den Kritiker:innen der aktuellen Schauspielhaus-Leitung äußert: www.freitag.de/autoren/eva-marburg/ist-das-schauspielhaus-zuerich-zu-woke-die-kritiker-machen-es-sich-zu-leicht?fbclid=IwAR15GpA4KalJweJkaygF87TX3Z7abg26nwYv7XmQzpUvVFDPvHR0FnrvsLU)
neben dem Artikel im Freitag, der im Pressespiegel noch fehlt, hier noch ein Beitrag von Andreas Klaeui auf SRF
www.srf.ch/kultur/buehne/keine-gemeinsame-zukunft-die-doppelspitze-verlaesst-das-schauspielhaus-zuerich
ein Journalist, der das dann doch vielleicht alles ein bisschen näher dran verfolgt hat und auch viele Aufführungen gesehen hat!?
Mich ärgert diese Ferndiagnostik, ich habe mich hier auch schon einmal in einem anderen Chat geäussert: das Problem ist doch, da wollte eine Gruppe von Menschen am Theater etwas verändern und sehr umfassend. Auf der Bühne aber eben auch in der Zusammenarbeit. Von einer Gruppe spreche ich, weil das waren doch nicht nur die beiden Intendanten sondern eine ganze Gruppe von Menschen und Künstler*innen, die zusammen dahingegangen sind, darunter Christopher Rüping, Leonie Böhm, Trajal Harrell und Wu Tsang. Und die haben richtig was aufgewirbelt und damit auch notwendige Konflikte produziert, tolle Aufführungen gemacht und alle haben da hingeschaut und haben gedacht: ui, da geht was! Und jetzt freuen sich viele, dass das vor die Wand gefahren ist. Und das ist doch so bescheuert! Es ist hämisch und verkennt, dass es eine solidarische Geste bräuchte. Denn es ist es nicht vor dir Wand gefahren! Versteht es endlich in Eurer Berliner Blase oder wo Ihr seid: es wurde an die Wand gefahren! Von einer extremen rechten Stimmungen in Wahlkampfzeiten, die seit Wochen gegen das Schauspielhaus schiessen und sich gegen Diversität in Stellung gebracht haben und subventionierte Kunst insgesamt angreifen. Und die Linke hat verpasst, sich schützend vor sie zu stellen. Das ist so eine Tragödie, die hier passiert. Das ist ein konservativer Backclash.
www.woz.ch/2306/schauspielhaus-zuerich/was-fuer-ein-trauerspiel/!VGHHG8DMPAY8
taz.de/!5911087/
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