Wolokolamsker Chaussee I bis V - Staatsschauspiel Dresden
Ganz in Gold
10. Februar 2023. Was für ein Text! Josua Rösing stellt in Dresden mit Leipziger Schauspiel-Studierenden Heiner Müllers Spätwerk auf den Prüfstand. Müller gewinnt – in einem Abend, der Geschichte konzentriert.
Von Matthias Schmidt
10. Februar 2023. Russlands Krieg wirft seine Schatten auf diesen Abend, denn ursprünglich geplant war in Koproduktion mit dem Moskauer Wachtangow-Theater eine zweisprachige Aufführung, die in Dresden und Moskau gezeigt wird. Das wurde abgesagt. Der exakt 90-minütige Abend beginnt dennoch mit einem russischen Videoschnipsel: Ella Wengerowa, die den Heiner-Müller-Text ins Russische übertragen hat, zündet sich eine Zigarette an.
Abgesang auf ein Land
Dann gibt die betagte Raucherin eine These vor. Jede Generation, sagt sie, betrachte und erzähle die Geschichte anders. Das sei ganz natürlich. Darum also würde es gehen: Wie betrachten und erzählen Regisseur Josua Rösing und die Studierenden des Leipziger Schauspielstudios der "Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy" am Staatsschauspiel Dresden – bis auf Rösing (Jahrgang 1982) alle weit nach dem Ende der DDR und nach Heiner Müllers Tod 1995 geboren – dessen in die Geschichte zurückblickenden Abgesang auf das Land?
Rein äußerlich ganz in Gold. Die Kostüme sind golden, die deutschen Panzer, die im ersten Teil vor Moskau erwartet werden, sind es. Ebenso die Fragmente eines alten (Lenin?)-Denkmals, die auf der Bühne liegen, sowie Flaggen und eine Schreibmaschine, die als Computergrafik eingeblendet werden. Auch die Haare der Schauspieler und Schauspielerinnen sind zumindest teilweise goldgelb gefärbt. Sie spielen also eine Spielfilmlänge lang in Gold, goldene Kranhaken fahren aus dem Himmel herab, eine goldene Uniformmütze wird herumgetragen, sehr schön alles, aber irgendwie erklärt es sich nicht: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Sei's drum, die Inszenierung ist kurzweilig, schön anzuschauen, sie ist gut gespielt vom ersten Teil an, der in Gänze chorisch gesprochen wird (in wechselnden Gruppen und nicht mit der vollen Rasche-Wucht), bis zum letzten, der mit viel Pathos das alte Brecht-Kampflied Vorwärts und nicht vergessen zu "Vergessen und Vergessen" umdichtet. Ein richtig guter Heiner-Müller-Gedenkabend. Der Text hält stand, im Grunde ist er der eigentliche Gewinner des Abends. Denn wovon nichts zu spüren und zu sehen ist, ist die Reaktion auf Ella Wengerowas These.
Die Inszenierung sagt: Was für ein Text! Den spielen, den sprechen wir jetzt. Mal kraftvoll chorisch, mal Techno tanzend und mit Kameras hantierend, mal mit enormer Komik ("Die Kentauren"), gerne suchend und sich an seinen Pointen erfreuend, daran etwa, dass Müller die Panzer-Metaphorik durch fast alle Teile zieht. Im dritten Teil etwa, den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 betreffend: "Vier Jahre an der Macht und so weit sind wir / Die Panzer unser letztes Argument." Was die Haltung der spielenden jungen Generation zu den historischen Ereignissen und ihrer Verquickung ist – man weiß es nicht.
Shakespeare auf der Baustelle Sozialismus
Zu erahnen immerhin ist Respekt vor denen, die Müller als Unbequeme zeigt, die zweifelten am Projekt Sozialismus, die am 17. Juni dagegen aufstanden, die an der Mauer starben und den Traum von 1968 träumten. "Oh brave new world that has such people in it", wird als Slogan an dem Baugerüst angebracht, das die Bühne dominiert. Shakespeare auf der Baustelle Sozialismus. Geschichte wird gemacht, sozusagen.
Bei den "Kentauren" ist lustvoll zu spüren, dass die Truppe mit Müllers schwarzem Humor etwas anfangen kann. "Wie scheißt ein Schreibtisch?", macht zu sagen auf der Bühne ebenso viel Freude wie es zu hören im Saal. Es wird gelacht. Darüber, dass der Wurm drin ist im Holz der mit dem Tisch verwachsenen Bürokraten. Was wahrlich nicht nur für die DDR gilt. Da ist die Inszenierung kurz abseits der Chaussee nach Wolokolamsk, direkt auf dem Weg nach Komödistan. Aber ist es das, was gemeint ist – dass man, weil spätgeboren, darüber lachen kann? Eher nicht, wahrscheinlich ist es auch hier der Müller-Text, der stärker ist als die Interpretation.
Auch ein "Heute" gibt es nicht an diesem Abend. Keine Hinweise auf den Krieg in der Ukraine, keine auf die Klimadebatten. Diese "Wolokolamsker Chaussee" ist durch und durch ein Programm in rätselhaftem Gold.
Lauter Elfmeter, keine Verwandlung
An keinem der von Müller ausgelegten Köder beißt jemand an. Nicht an dem vom bunten Westen, der die faschistische Vergangenheit verdrängt hat. Nicht an die herrlichen Worte vom in Coca-Cola ersaufenden Sozialismus, die zu Kapitalismuskritik förmlich einladen. Und auch nicht an die brutalen Kriegsschilderungen des Weltkriegs, von denen Müller ausgeht. Lauter Elfmeter, und niemand verwandelt sie. Jetzt Achtung: das ist auch gut so. Das ist die eigentliche Stärke dieser Arbeit, dass sie dem Text keine plakativen Aktualisierungen antut, sondern ihn als Geschichtskonzentrat wirken lässt.
Ganz in Gold erstrahlen lässt sie ihn, beeindruckend gespielt von der ersten Generation, die an dem darin Verhandelten gänzlich unbeteiligt ist. Und mutig genug, sich nicht mit ihren Themen in den Sattel zu setzen, Müller als praktischen Steigbügelhalter nutzend auf das hohe Ross. Denn die Themen stecken ja alle drin in diesen "5 Lehrstücken" des Heiner Müller, jeder im Saal wird eines entdeckt haben. Das ist ein starker Abend von den und für die Studierenden und ein starker Abend für den Dramatiker Müller. Und als sie am Ende singen, "Vergessen und Vergessen", dann kann das eigentlich nur meinen: Wir können auch Ironie. Wir vergessen eben nicht.
Wolokolamsker Chaussee I – V
Von Heiner Müller
Regie: Josua Rösing. Bühne und Kostüme: Ariella Karatolou, Musik: Thies Mynther, Video: Jens Bluhm, Licht: Rolf Pazek, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Studierenden des Schauspielstudios der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig: Felix Bronkalla, Jakob Fließ, Leonie Hämer, Kaya Loewe, Mina Pecik, Jannis Roth, Rieke Seja, Willi Sellmann.
Premiere am 9. Februar 2023
Länge: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Beim MDR (10.2.2023) wundert sich Stefan Petraschewsky, dass "ein eigener Blick bei den Studierenden offenbar überhaupt keine Rolle" spiele. Stattdessen werde "perfekt" der Text aufgesagt, "im Chor, aus dem sich immer wieder einzelne Stimmen herausschälen und wieder in ihm verschwinden". Das sei zwar "virtuos gemacht, aber ziemlich unbelebt, tot. Auch kunstgewerblicher Schnickschnack." Fazit: "Hier tragen acht Schauspielstudierende überhaupt keine Geschichte – das ist tragisch"
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